Eine Galerie in der Tonhalle

Im letzten Tonhallekonzert der laufenden Saison zündete das Sinfonieorchester St.Gallen unter seinem Chefdirigenten Modestas Pitrenas mit Bildern einer Ausstellung ein Feuerwerk an orchestralen Farben. Mussorgski und Ravel liessen die Konzerthalle beben. Die Neruda Songs des Amerikaners Peter Lieberson dagegen hinterliessen einen zwiespältigen Eindruck.
Von  Daniel Fuchs

Ein geschickter Schachzug in der Programmierung, Maurice Ravels Alborada del gracioso als Ouvertüre zu setzen. Ein Brückenschlag zu den folgenden Kompositionen des Abends. Dieses impressionistische Morgenständchen aus dem Klavierzyklus Miroires, von Ravel später orchestriert, hat es in sich.

Es gibt auch ein Zeugnis davon, dass das Herz des Komponisten für die Musik Spaniens schlug. Unzimperlich und mit grossem Bogen malten Chefdirigent Modestas Pitrenas und «sein» Orchester das hochvirtuose Capriccio auf. Leuchtende Farben, sprühende Tonbilder, kecke Rhythmen zum lustvollen Hören.

Die Liebe und der Tod

Peter Lieberson vertonte 2005 fünf der Hundert Liebessonette des chilenischen Dichters Pablo Neruda. Den Zyklus Neruda Songs komponierte er für die Stimme seiner Frau, der Mezzosopranistin Lorraine Hunt Lieberson. Kein Geringerer als Esa-Pekka Salonen mit den Los Angeles Philharmonic leitete die Uraufführung des Kompositionsauftrages. 2006 verstarb Lorraine Hunt Lieberson an Krebs. Ein Abschiedsgeschenk also, aufwühlend.

Inhaltlich künden die Sonette von der Furcht und dem Schmerz der Trennung, davon, dass der Tod keine Macht hat über die Liebe. Die Aura dieses Werkes zum Hörer zu bringen, schien ein sehr persönliches Anliegen von Dirigent Modestas Pitrenas zu sein. Die litauische Mezzosopranistin Ieva Prudnikovaite sang den gut halbstündigen Zyklus ergreifend, ebenfalls mit persönlicher Note. Auswendig und in akzentfreiem Spanisch. Das bleibt hängen!

Amerikanisches Komponieren

Mit den amerikanischen Komponisten ist es so eine Sache! Tonsprachlich bewegen sie sich meistens freier und unbelasteter als ihre europäischen Kollegen. Da ist keine Avantgarde, sind keine Anzeichen von «Neuer Musik».

Bei den Neruda Songs ist zu beobachten, dass die Spannung nach den ersten beiden Liedern zusammenfällt. Es kommt nichts Neues mehr. Nirgends ein Ausbruch, alles bewegt sich im gleichen Lamento-Ton. Der Versuch des Komponisten, dem Stück mit einem Kastagnetten-Rhythmus folkloristisches Lokalkolorit zu verleihen, wirkt schlicht kitschig.

Am Ende sind die Neruda Songs mit ihrer halbstündigen Dauer einfach zu lang. Der Verdacht, dass da einiges mit dem Voicing-Verfahren für Orchester komponiert wurde, liesse sich bei genauerer Betrachtung vielleicht erhärten. Gelangweilt geht man in die Pause.

Applaus, Applaus!

Ein ungleicheres Paar als Modest Mussorgski und Maurice Ravel lässt sich kaum denken. Und doch eroberen die vom Russen original für Klavier komponierten Bilder einer Ausstellung in der Instrumentierung des Franzosen die Konzertsäle, weltweit. Ravel verpasste dem rohen Original ein ästhetisches Korsett, aus dem es kein Entrinnen gibt. Man darf diese feinnervigste Orchestrierung nur genial nennen.

Modestas Pitrenas und dem Sinfonieorchester St.Gallen gelang eine mit- und hinreissende Aufführung des ebenfalls gut halbstündigen, hochkomplexen Werks. Sämtliche Register des Orchesters, können nur hochgelobt werden.

Alle Soli aufnahmereif! Zauberisch in Das alte Schloss, mit aller Schwerkraft in Der Ochsenkarren. Die variierten Tempi von Pitrenas verliehen dem Ballett der Küken in ihren Eierschalen zusätzlich rhythmische Pikanterie. Und erregte Schmunzeln in den Zuhörern. Mit höchster Kraftentfaltung wurde am Ende Das grosse Tor von Kiew errichtet. Applaus, Applaus für eine Aufführung der Extraklasse!