Eine Frage der Perspektive

Der FC St.Gallen hat leider verloren, dafür haben seine Fans gewonnen – zumindest die Herzen vieler Einheimischer und Daheimgebliebener. Etrit Hasler war in Swansea dabei. 

Von  Gastbeitrag

Es war auf dem Rückmarsch vom Stadion, als der Haufen aus immer noch fast 1000 St.Gallen-Fans von lokalen Polizisten über dunkle Nebenstrassen zurück in die Stadt eskortiert wurde, umrandet von Nebelfetzen und in schweigendem, schleppenden Gang, als mir klar wurde: Hier geschieht etwas aussergewöhnliches.

Und ich bin nur ein Tourist. Ich litt nicht wie diese 1000 Menschen. Ich hatte das Spiel gesehen und natürlich fand ich es schade, dass der FCSG so knapp verloren hatte. Aber für mich war keine Welt zusammengebrochen. Nicht so wie für diese 1000 Menschen, die in kompletter Stille durch die Nacht krochen. Es war ein zutiefst melancholischer Moment und ich ertappte mich beim Gedanken, dass wenn jetzt irgendjemand das Espenmoos-Lied anstimmte, wohl die ganze Kurve in Tränen ausbrechen würde.

Entgegen aller Klischees
Die Lokalzeitung würde am nächsten Tag von einer «Armee» sprechen, die durch die Stadt gezogen sei – wenn auch komplett ohne Vorfälle. Und wenn man der Hetze eines St.Galler Staatsanwaltes glaubt, dann sind sie das ja. Mit militärischem Gewaltpotential, mafiaähnlichen Strukturen und genug Sprengstoff zur Hand, eine Kleinstadt auszulöschen.

Es hätte diesem Staatsanwalt vielleicht gut getan, den kleinen Ausflug nach Swansea mitzumachen. Vielleicht hätte es seine Perspektive ein wenig verschoben.

Vom Mittwochabend, als die Vorhut wie Heuschrecken über die Partymeile Vine Street herfiel und bis zur Polizeistunde die lokalen Biervorräte (teils restlos) vernichtete, bis zum Freitagabend, als die letzten Clubs und Bars die Alkleichen zurück auf die Strasse spülten, geschah: Gar nichts, das an einem ganz normalen Abend in Swansea nicht so hätte geschehen können.

Nichts und niemand nahm Schaden. Die walisischen Polizisten standen meist gelangweilt-amüsiert herum, und nur selten konnte man an kleineren Überreaktionen merken, wie überfordert sie eigentlich mit der Situation waren.

Ausgerottete Kurven
Denn in Grossbritannien ist man sich solche Bilder nicht mehr gewohnt. Fussballfans – nicht die weichgespülte Plastikversion, die in geheizten Logen Cüplis schlürft und übers Geschäft plaudert, nein, die echten, lauten, rauen Fans, die rauchen und sich Bier in die Fressluke schütten und 90 Minuten durchsingen – gibt es hier kaum mehr.

Man hat sie mit überrissenen Eintrittspreisen in die unteren Ligen wegdelegiert. Und in der Premier League singt als Folge davon kein Mensch mehr. «You only sing when you’re winning». Das schleuderten die FCSG-Fans denn auch den paar dutzend Swansea-Fans kurz vor Schluss entgegen, die es doch noch versuchten. Ein paar Security Stewards nickten stoisch dazu.

Kein Wunder, waren sich im Nachhinein fast alle einig: Die paar Tage Inselaufenthalt waren vielleicht eine der besten Visitenkarten, die jemals eine Schweizer Anhängerschaft im Ausland hinterlassen hat. SRF-Moderator Rufer hatte – so wurde mir zugetragen – die Fernsehübertragung des Europa League Spiels mit den Worten eröffnet: «Wenn es bereits jetzt einen Sieger gibt, dann sind es die St.Galler Fans.» In den Fanforen kursierten Lobeshymnen wie «best supporters ever» und einer der Barkeeper in der «no sign wine bar», einem eher fürs ältere Publikum bestimmten Pub, meinte anerkennend in der Lokalzeitung, die Fans hätten sich «besser benommen als manch ein Premier League Zuschauer.»

Polizei ohne Schusswaffen
Vielleicht hing das ja tatsächlich auch damit zusammen, dass die Fans eben nicht mit Gummischrot und Tränengas empfangen wurden. Dass sich die lokale Polizei darauf einliess, den zu diesem Zeitpunkt auf 1500 Personen angewachsenen Mob durch die Stadt ins Stadion marschieren zu lassen, obwohl es so etwas auf den britischen Inseln seit Jahrzehnten nicht mehr gibt, spricht Bände.

Und sicher auch für die Verhandlungsfähigkeiten des St.Galler Fanpolizisten Martin Link (der nach drei Tagen Deeskalieren am Freitagmorgen ziemlich genudelt, aber zufrieden aussah). Vor allem für die Fähigkeit der Sicherheitskräfte vor Ort, Situationen richtig einzuschätzen. Dass sie ohne Gewalt auszukommen, wo es ohne geht. Es ging drei Tage ohne.

Ob das auch damit zu tun hat, dass britische Polizisten bis heute keine Schusswaffe tragen, weiss ich nicht. Aber es würde der Zürcher oder der St.Galler Polizei durchaus gut tun, es auch einmal ohne Drohgebärden zu versuchen.

Die verachtete Jugendkultur
Denn was immer gern vergessen geht in den Diskussionen um Pyros und Gewalt im Stadion: Die Fans, die jedes Wochenende die Stadien füllen, sind die vielleicht grösste Jugendkultur in unserem Land. Eine mit eigenen Regeln, die für Aussenstehende manchmal schwer nachzuvollziehen sind. Die – genauso wie bei jeder anderen Jugendkultur – auch nicht alle immer gut finden müssen.

Wurden in Swansea Pyros gezündet? Ja. Und es ist nichts und niemand dabei zu Schaden gekommen. Ohne die Ultras würde in unseren Stadien etwas fehlen. Auf den britischen Inseln hat man sie bereits marktwirtschaftlich ausgerottet – diejenigen politischen und polizeilichen Kräfte, die bei uns derzeit den Diskurs anführen, arbeiten auf das gleiche Ziel hin. Ohne Rücksicht darauf, was sie damit unwiederbringlich zerstören könnten.

 

Den Insider-Bericht von Dr. Gonzo gibt es hier.