, 16. März 2023
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Eine Bühne für die Vielfalt

Mit dem Fokus «Sichtbarkeit und Literatur» soll an der diesjährigen Ausgabe des St.Galler Literaturfestivals Wortlaut der Diversität besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ein Vorausblick mit drei Fragen an zwei Autor:innen, die eine Bühne bekommen: Lidija Burčak und Simon Froehling. von Eva Bachmann

An seinem 15. Geburtstag bringt Andreas Durrer seinen Freund mit in die elterliche Villa, worauf «nach einem angestrengt gesitteten Abendessen inklusive Verwandten väterlicherseits Zeter und Mordio auf dich einbricht». Der Sohn zieht in ein besetztes Haus, cruist durch die Zürcher Schwulenszene: schneller Sex, Drogen, Alkohol. Und immer mehr auch Kunst. Als Dürrst landet er mit einer wahnwitzigen Rauminstallation einen Grosserfolg. Dann: Absturz, Psychiatrie.

Simon Froehling (*1978) kommt mit seinem zweiten Roman Dürrst ans Wortlaut-Festival. Darin geht es eigentlich um eine Art zweites Coming-out: Der Protagonist leidet an einer bipolaren Störung. Auf das manische, ja exzessive Ausleben von künstlerischen Ideen und sexuellen Abenteuern folgt die Depression. Sie ist ein schwarzer Hund. «Er lief dir schon in der Kindheit zu. Wenn er kommt, ist es Zeit, dich ins Bett zu legen und zu warten, denn er lässt sich nicht aufscheuchen, wegjagen, verbannen.»

15. St.Galler Literaturfestival Wortlaut:

22. bis 26. März, diverse Orte in St.Gallen

wortlaut.ch

Dürrst ist ein starkes Stück: Durchgehend in der «Du»-Perspektive erzählt der Text Lebensphasen des mittlerweile fast 40-Jährigen in der Rückblende, aber nicht chronologisch. Hochs und Tiefs sind ineinandergeschnitten. Harten Beschreibungen aus der Szene und aus der Psychiatrie stehen in diesem Roman poetische Bilder und feinfühlige Freundschaften gegenüber. Das Getriebensein – einmal von unbändiger Lust, dann wieder von bleierner Schwere – entwickelt sich immer mehr zum Strudel, der nicht nur die Hauptfigur, sondern auch die Lesenden mitzieht.

Wer spricht? Wem wird zugehört?

Wortlaut schreibt zum diesjährigen Fokus «Sichtbarkeit und Literatur»: «Es geht darum, dass Diskussionen, Gespräche, Debatten erst dann zu solchen werden, wenn nicht immer die Gleichen sprechen.»

Simon Froehling. (Bild: Dieter Kubli)

Explizit als «Anderer» zu publizieren und zu sprechen: War das eine Absicht des Buchs, Simon Froehling? Seine Antwort (wie alle folgenden auch) kommt per Mail:

«Um einen Roman zu schreiben, brauche ich einen starken inneren Drang, eine brennende Frage, die mich Tag für Tag an den Schreibtisch treibt. Eine Absicht oder Agenda reicht dafür nicht, zumindest nicht für mich. Aber natürlich fliesst viel von dem ein, was mich politisch und gesellschaftspolitisch bewegt. Mit Dürrst arbeite ich zum Beispiel sowohl an der Entstigmatisierung von Sexualität jenseits der Heteronorm als auch der Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen.»

Dieselbe Frage geht an Lidija Burčak:

«Die Absicht, ein Buch zu veröffentlichen, hatte ich gar nicht. Die Idee ist aus meinen Tagebuchlesungen entstanden, welche wiederum nach dem Motto ‹share the shame› entstanden sind. Die Leute fragten nach einem Buch und ich war erstaunt, auch unsicher, dachte, das will doch niemand lesen. Nach monatelanger Überlegung habe ich mich entschieden, den Schritt zu wagen.»

Zwei diverse Antworten zweier diverser Schreibender, die doch beide Geschichten vom Werden einer Künstlerin bzw. eines Künstlers erzählen. Lidija Burčak (*1983) wuchs als Tochter von Eltern aus dem früheren Jugoslawien in Winterthur auf, absolvierte das KV, holte die Matura nach und arbeitete für verschiedene Medien. Schon als Siebenjährige begann sie, Tagebuch zu schreiben. Aus dem umfangreichen Material hat sie den Band Nöd us Zucker zusammengestellt, der die Jahre 1999 bis 2016 umfasst.

Ich, meine Herkunft und meine Bubble

Am Anfang steht ein Teenager, der sich beim Tagebuch bitter beklagt über die Ungerechtigkeit der Welt – also vor allem der Eltern. Sie möchte auf der Bühne stehen statt ins Büro gehen. Doch diese junge Frau ist «nöd us Zucker», was auf Kroatisch so viel heisst wie: «Ich bin nicht zerbrechlich.» In ihren Einträgen ringt sie damit, was sie eigentlich kann und was sie eigentlich will. «Ich wird Journalistin oder Kolumnistin oder Idealistin oder ich fang a brüele, will ich einfach gern mal en verdammte Platz i därä Scheisswält wett.»

Diese direkten, schweizerdeutsch und manchmal kroatisch verfassten Texte haben gelegentlich einen komischen Effekt. Das Buch unter Comedy abzubuchen, greift trotzdem zu kurz. «D Schwiiz isch de ideali Ort für Mittelbegabti», schreibt sie einmal – das liess sie hinter sich. Burčak hat in London Visuelle Anthropologie studiert und ist Filmerin geworden. Ihre Arbeiten zeigen Lebenswelten in allen Facetten. Sie selber nennt ihr Verfahren autoethnografisch. Und in diesem Werkkontext liest sich auch das Buch als Dokument der Reflexion über die Welt, über Herkunft und soziale Bubbles.

Lidija Burčak. (Bild: Yves Bachmann)

Vertreter:in einer Minderheit

Ist es angenehm, als Vertreterin einer Minderheit gelesen zu werden, Lidija Burčak?

«Als angenehm empfinde ich eine Seifen-Schaum-Massage. Wie die Leute mich lesen, das weiss ich nicht. Mein Verhältnis zum Begriff Minderheit wandelt sich aber ständig, weil solche einordnenden Begriffe nicht statisch und zu diskutieren sind. Um Beispiele aus meinem Buch zu nennen: Ich habe das KV gemacht und war von meinem ersten Mal nicht begeistert, da gehöre ich zu einer Mehrheit. Meine Texte behandeln vor allem universelle Themen. An meinen Lesungen bekomme ich häufig Rückmeldungen, dass sich Leute in meinen Texten wiederfinden – auch von Männern in hohem Alter oder Leuten, deren Eltern keine Migrationsgeschichte haben.»

Dieselbe Frage geht an Simon Froehling:

«Das Label Minderheit ist etwas, das von aussen über mich gestülpt wird. Für mich ist mein Queersein schlicht ein Pfeiler meiner Identität, sogar ein sehr starker. Natürlich ist mir aber bewusst, dass Kategorien schlussendlich nötig sind, um Bücher zu verkaufen, im Sinne einer Orientierungshilfe. Tatsache ist jedoch, dass ich mit jeder Lesung auch Vermittlungsarbeit leiste, und es kann anstrengend sein, ständig als der oder das ‹Andere› betrachtet zu werden. Ärgerlich ist es dann, wenn das Thema der Sexualität andere Themen überschattet, die mir wichtig sind – zum Beispiel das der psychischen Gesundheit.»

Die Seconda und der queere Bipolare: Beiden behagt ihre Etikette wenig. Die Kommunikation aber greift gerne zu, gerade wenn es um ein umfangreiches Festivalprogramm geht. Wortlaut hat auch eine schwarze, queere trans Person, eine Schweizerin of color aus einer binationalen Familie und einen Rollstuhlfahrer im Programm. Die (mit Absicht zugespitzte) Aufzählung zeigt, dass das Konzept auch die Gefahr der Reduktion eines Menschen auf ein Merkmal birgt.

Überdies stellt sich die Frage, ob mit der Etikette nicht Autor:in und Werk gleichgesetzt werden. Schliesslich schreiben nicht alle ausschliesslich autofiktionale Literatur – und auf der anderen Seite kann auch Fiktionales von irgendwem Nischen ausleuchten.

«Natürlich ist der Wert aller guten Literatur, dass sie uns eine Lebenswelt aufzeigt, die wir so noch nicht kennen», sagt dazu Karsten Redmann vom Wortlaut-Organisationskomitee. «Mit unserem Fokus wollen wir die Werke und die Menschen, ihre Erfahrungen und ihre Intellektualität, das Künstlerische und das Politische einbeziehen. Der Fokus soll einen Reflexionsraum öffnen.»

Zuhören, sich etwas zutrauen

Lebenswelten erfahren: Dazu trägt letztlich das gesamte Wortlaut-Programm bei. Mit seiner ganzen Fallhöhe von Raoul Schrott bis Berta Thurnherr und der Breite vom «Notbremse»-Magazin bis zum «Gassenhauer». Das Gesamte ist Vielfalt, zeigt unterschiedliche Sichtweisen.

Welches ist denn der persönliche Buchtipp für mehr Inklusion, Lidija Burčak?

«Ich will meinen Horizont erweitern und nicht abklappern. Der Tipp? Zuhören und einfach mal den Mund halten. Ob das letztlich der Inklusion dient, weiss ich nicht, aber vielleicht der Empathie.»

Und Simon Froehling?

«Es wäre schön, wenn sich alle Menschen zumindest lektüremässig ein wenig aus ihrem Erlebnishorizont hinaus getrauen würden. Wenn Literatur etwas können muss, dann bestimmt das: Öffnung.»

 

Das Wortlaut-Programm 2023

Neu ist der Prolog bereits am Mittwoch: Elke Heidenreich erzählt von den prägenden Lektüren ihres Lebens und liest aus Hier geht’s lang, ihr glücklichen Augen!. Die eigentliche Eröffnung am Freitag bietet eine Stationenlesung, in der man erste Eindrücke von einigen der geladenen Autor:innen erhaschen kann.

Das folgende Programm enthält Leuchttürme wie Raoul Schrott, Ariane Koch oder Pedro Lenz mit Simon Spiess, im Bereich Comic u.a. Michael Furler und Jul Gordon, Spoken Word bringen Christoph & Lollo. Das Literaturgespräch über «Sichtbarkeit und Literatur» führen Samira El-Maawi, Simon Froehling und Christoph Keller.

Die Ostschweiz vertreten Berta Thurnherr und ihre Tippilzuar-Texte, die Zeichnerin Julia Trachsel, es gibt Shared Reading mit Texten von regionalen Schreibenden, eine Gedenklesung für Jörg Germann und eine Ausstellung zu Elisabeth Heck. Wie immer am Wortlaut die beiden Formate: «Gassenhauer» am Samstagabend und die literarische Stadtführung am Sonntagmorgen.

 

Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.

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