Ein Streiktag für die ganze Gesellschaft

Am 14. Juni haben anlässlich des Feministischen Streiktags schweizweit Aktionen stattgefunden. In St.Gallen gingen etwa 2000 Menschen auf die Strasse und verschafften ihren Forderungen und Rechten Gehör. 

Von  Bianca Schellander
Bilder: Bianca Schellander

Streik, Substantiv, maskulin [der]: gemeinsames, meist gewerkschaftlich organisiertes Einstellen der Arbeit (durch Arbeitnehmer:innen) zur Durchsetzung bestimmter Forderungen gegenüber den Arbeitgebern [sic!].

So weit die Definition. Und wie steht es mit der Realität des Feministischen Streiktags? Dieser wurde nicht gewerkschaftlich organisiert, einfach weil keine feministische Gewerkschaft existiert, weil Frauen in allen Berufen tätig sind und historisch nie eine gewerkschaftliche Organisation entstand. Infolgedessen sind die Forderungen auch nicht an eine:n Arbeitgeber:in adressiert, sondern gesamtgesellschaftlich formuliert.

Ein Streik soll Druck aufbauen. Frauen, die ihre Arbeit – Lohn- oder unbezahlte Care-Arbeit – niederlegen, zeigen, wie wichtig ihre oftmals schlechter bezahlten Jobs sind, um die Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Systemerhaltend, sozusagen.

Eine ernüchternde Bilanz

Auch in St.Gallen wird an diesem Mittwoch gestreikt. Oder eben nicht. Auf dem Weg zum Streikplatz in der Marktgasse fällt die Bilanz ernüchternd aus. Der Appell an die Männer, sich an diesem Tag solidarisch zu zeigen, indem sie etwa Hausarbeit und Kinderbetreuung übernehmen, damit ihre Freund:innen, Partner:innen oder die weiblich gelesenen und nonbinären Menschen in ihrem Leben auf die Strasse gehen können, hat auf den ersten Blick kaum Anklang gefunden.

Es sind Frauen, die immer noch in den Cafés arbeiten und Getränke servieren. Es sind Frauen, die auf der Klosterplatzwiese sitzen und ihre Kinder bespassen. Der Aufruf zum Streik ist wohl nicht überall angekommen oder verstanden worden. Wie auch? Streikkultur existiert ja eigentlich nicht in der Schweizer Geschichte.

Noch dazu kommt die ach so natürliche Empathie. Das soziale (Selbst-)Verständnis, mit der FLINTAs existieren. Ihre «soziale Ader», die es um so schwieriger macht, Jobs liegen zu lassen, weil sie dabei an alle Konsequenzen denken. Und weil so gesehen wird, wer dadurch mehr belastet wird, wer dadurch leidet – und das will ja niemand. Deshalb stösst ja selbst das Fernbleiben bei den Streikenden auf Verständnis.

Feminismus ist für die ganze Gesellschaft wichtig

Dieses Verständnis für unterschiedliche Realitäten spiegelt sich am Streiktag auch in den Forderungen wider. Diese zeigen, wie wichtig Feminismus für die ganze Gesellschaft ist. Denn es werden nicht nur faire Löhne und Renten gefordert sowie ein Recht auf Selbstbestimmung und Schutz vor Gewalt (alles gesamtgesellschaftliche Themen), sondern spätestens in den Reden zeigt sich auch, wie weitläufig die Intersektionalität tatsächlich gedacht wird.

Während schon ganztags ein Awareness-Team den Teilnehmer:innen zur Seite steht, sollten diese in unangenehme Situationen geraten, artikulieren die Redner:innen die vielseitigen Arten von Unterdrückungen, die ineinander greifen und die es abzuschaffen gilt: prekäre und übergriffige Situationen in der Pflege, die täglichen Bedrohungen, denen trans Frauen ausgesetzt sind, der Wunsch zur übergreifenden Solidarität, die Realitäten im Frauenhaus St.Gallen, die Gefahr, die traditionelle Rollenbilder in sich tragen, die Belastungen, die Women of Color aushalten müssen, Femizide und die Revolution im Iran, der Kampf gegen Ableismus und für Inklusion – alles findet hier einen Platz.

Die Redner:innen sprechen stellvertretend für jene, die nicht hier sind, für jene, die keine Stimme haben, für jene, denen das Privileg fehlt, am Streik teilnehmen zu können.

Genügt dieses Zeichen? 

Ein breiter Streik wäre unangenehm. Natürlich wäre er spürbar, in alle Bereiche hinein. Natürlich würden Menschen dadurch leiden, wenn Pflegekräfte ausfielen, Schulklassen nicht unterrichtet werden könnten, wenn der ganze Mental Load, den Frauen täglich stemmen, auf die Schultern ihrer Partner gelegt würde, wenn Kinder ihren (hoffentlich nicht) überforderten Vätern überlassen würden, wenn man(n) nicht wie gewohnt nachmittags ein Bier trinken gehen könnte (der Leidensdruck sei hier in Frage gestellt) …

Aber das ist doch der Sinn der Sache! Wenn niemand spürt, welche Aufgaben FLINTAs in der Gesellschaft stemmen, warum sollen wir dann auf die Strasse gehen? Wie soll eine Demo, die sich eineinhalb Stunden im Kreis dreht, zeigen, welche Veränderungen es tatsächlich braucht, um eine gerechtere Gesellschaft zu erreichen? Ja, es ist ein Zeichen, aber genügt das wirklich?

Der Wille ist da, die Forderungen auch. Die Menschen haben am Mittwoch gezeigt, wofür sie sich einsetzen, wie vernetzt sie denken und wie solidarisch sie auftreten können. Die Hoffnung auf Veränderung bleibt. Ob diese jedoch friedlich und wegen ein paar wirklich guter und emotionaler Reden und künstlerischer Darstellungen eintreten wird, bleibt fragwürdig.