Ein letzter Blick in den Himmel

Das Kremieren ist die häufigste Bestattungsform in der Schweiz. Kälte und Dunkelheit sucht man um die Öfen jedoch vergeblich, auch wenn der Tod im Zentrum steht. Besuch im Krematorium Winterthur.

Ge­fähr­lich knar­zend beugt sich der Griff des Plas­tik­kof­fers in mei­ner Hand un­ter dem Ge­wicht von Ser­gej. Tot ist er noch schwe­rer, als er le­bend war. Ich ha­be ihn aber auch nie in ei­nem Kof­fer aus Plas­tik rum­ge­tra­gen. Heu­te früh ist er im Gar­ten um­ge­kippt, ein­fach so. Aus dem Nichts. In die Veil­chen.

Beim Tier­arzt konn­te nur noch der Tod durch Herz­in­farkt fest­ge­stellt wer­den – und die enor­me Grös­se und Flau­schig­keit des 13 Jah­re alt ge­wor­de­nen Maine-Coon-Ka­ters. Zu zweit muss­ten wir ihn in den Plas­tik­kof­fer he­ben, um das leb­lo­se Tier mit sei­nem Ge­wicht und den schlaf­fen Ex­tre­mi­tä­ten nicht fal­len zu las­sen. Ob wir ihn kre­mie­ren las­sen wol­len, hat­te die Tier­ärz­tin ge­fragt und an­ge­fügt, dass wir ihn auch ver­gra­ben könn­ten, aber dann über 1 Me­ter 20 tief, bit­te.

Jetzt, zwei Ta­ge spä­ter, stei­ge ich die Trep­pe hoch zum Kre­ma­to­ri­um in Win­ter­thur. Ser­gej darf hier nicht kre­miert wer­den, es ist ein Kre­ma­to­ri­um für Men­schen – er dürf­te auch nicht mit mir kre­miert wer­den – ge­nau­so we­nig, wie mei­ne Lieb­lings­plat­ten, selbst wenn ich dies in mei­nem letz­ten Wil­len fest­ge­hal­ten hät­te, das wer­de ich spä­ter noch ler­nen.

Zu­sam­men mit Kol­le­ge Lou­is Vau­cher, Sai­ten­gra­fi­ker und Fo­to­graf für die­se Sto­ry, möch­te ich her­aus­fin­den, wie ei­ne Kre­ma­ti­on ge­nau funk­tio­niert und wie die Mit­ar­bei­ter:in­nen mit die­ser trau­ri­gen Ar­beit um­ge­hen. Mit der Stif­tung Kre­ma­to­ri­um St.Gal­len, die wir zu­erst an­frag­ten, konn­ten wir uns nicht ei­ni­gen. Der viel­be­schäf­tig­te Stif­tungs­prä­si­dent hät­te ger­ne per­sön­lich über je­des Wort im Ar­ti­kel vom Ti­tel bis zur Bild­le­gen­de ent­schie­den – ge­mäss sei­nem «Mark-Up», und bis er Zeit zum Ant­wor­ten fin­de, kön­ne es bis zu ei­ner Wo­che dau­ern. Kei­ne Be­din­gun­gen, die se­riö­sen un­ab­hän­gi­gen Jour­na­lis­mus er­lau­ben.

In Win­ter­thur traut man uns un­se­re Ar­beit zu. Und weil die­ses Kre­ma­to­ri­um eben auch für ei­ni­ge Thur­gau­er Ge­mein­den zu­stän­dig ist und aus­ser­dem in sei­ner Ar­chi­tek­tur ein­zig­ar­tig ist, lan­den wir al­so an die­sem küh­len Mitt­woch­mor­gen auf dem Fried­hof Ro­sen­berg.

Mit­ge­fühl und Bob Dy­lan

Es ist hell im Kre­ma­to­ri­um Win­ter­thur. Die Wän­de sind aus Glas, ge­nau­so wie die Tü­ren. Mit­ten im Raum: Die Öff­nun­gen zu den Öfen. Die Stadt und das Ar­chi­tek­tur-Kol­lek­tiv rund um Mar­kus Je­de­le woll­ten mit dem Kon­zept die­ses Neu­baus Trans­pa­renz schaf­fen, das Kre­mie­ren aus der dunk­len Ecke ho­len, weg vom Russ und der Düs­ter­heit. «Wir ma­chen hier nichts Ver­bo­te­nes», sagt Fre­dy Baum­gart­ner, Lei­ter des Kre­ma­to­ri­ums. Hier kön­nen Vor­bei­spa­zie­ren­de zu­schau­en, wie die Sär­ge über die Trans­port­schie­nen per Knopf­druck in die Flam­men fah­ren.

Ein leich­ter Job sei es bei wei­tem nicht, er­zählt Baum­gart­ner. Man brau­che ge­nü­gend Aus­gleich, Hob­bies und müs­se sich gut und re­gel­mäs­sig um die ei­ge­ne Psy­che küm­mern. Denn na­he ge­hen wür­de der Job al­len, be­son­ders wenn jun­ge Men­schen oder gar Kin­der in den Sär­gen lä­gen. Der Kre­ma­to­ri­ums­lei­ter fügt an:  «Wer hier ar­bei­tet braucht Em­pa­thie. Wenn ei­nem das hier nicht mehr na­he geht, muss man auf­hö­ren.» So sei auch der Le­bens­lauf po­ten­ti­el­ler Mit­ar­bei­ter:in­nen nicht al­lei­ne aus­schlag­ge­bend, um im Kre­ma­to­ri­um zu ar­bei­ten, son­dern Mensch­lich­keit und Mit­ge­fühl. Nach ei­nem hal­ben Tag Pro­be­ar­bei­ten wer­den die Kan­di­dat:in­nen ge­fragt, wie sie ge­schla­fen und was sie ge­träumt ha­ben.

Täg­lich wer­den im Kre­ma­to­ri­um Win­ter­thur et­wa 14 Men­schen kre­miert, jähr­lich et­wa 3200 – 720 da­von aus Win­ter­thur, die an­de­ren leb­ten im an­gren­zen­den Thur­gau oder in Ge­mein­den aus dem Um­land. Die Auf­trä­ge wer­den von den Ge­mein­den di­rekt an das Kre­ma­to­ri­um auf dem Ro­sen­berg Fried­hof er­teilt. Dies ist aber in der Schweiz je­dem Kan­ton un­ter­schied­lich ge­re­gelt. So be­stehen in der Ost­schweiz meist Ver­ein­ba­run­gen zwi­schen den Ge­mein­den mit ei­nem be­stimm­ten Kre­ma­to­ri­um wie dem­je­ni­gen in St.Gal­len, Win­ter­thur oder auch Chur.

Bei den meis­ten Kre­ma­tio­nen in Win­ter­thur sind kei­ne An­ge­hö­ri­gen vor Ort, nur ab und an kommt die Fa­mi­lie mit. Es wer­den klei­ne Ze­re­mo­nien ab­ge­hal­ten oder auch ein­fach nur der Lieb­lings­song von Bob Dy­lan über mit­ge­brach­te Bo­xen ge­spielt. Al­les sei mög­lich, sagt Baum­gart­ner. Er und sein Team ha­ben sich zum Ziel ge­setzt, den To­ten ei­nen wür­de­vol­len letz­ten Weg zu er­mög­li­chen und sie da­bei zu be­glei­ten – egal was das be­deu­tet. Baum­gart­ner spricht vor­sich­tig, re­spekt­voll und em­pa­thisch über sei­ne Ar­beit. Das Ein­zi­ge, was er nicht to­le­rie­re, sei, wenn sich An­ge­hö­ri­ge am Sarg strei­ten wür­den. Da­mit neh­me man dem letz­ten Weg die Wür­de.

Lie­be und Strei­tig­kei­ten am Sarg

Wir schau­en zu, wie ein Sarg über die Trans­port­schie­ne in ei­nen der bei­den Öfen ge­fah­ren wird. Vor der Lu­ke öff­net Baum­gart­ners Mit­ar­bei­ter kurz ei­nen ab­ge­trenn­ten Teil des Sarg­de­ckels und wirft ei­nen letz­ten Blick auf den Leich­nam. War­um? «Wenn Jahr­gang 2005 drauf­steht und ei­ne 90-jäh­ri­ge Frau drin liegt, stimmt et­was nicht», er­klärt er. Aus­ser­dem wür­den sie prü­fen, ob sich in dem Sarg il­le­ga­le Grab­bei­ga­ben be­fän­den. Denn, wäh­rend der Sarg als Zun­der dient und da­zu, den Kör­per wäh­rend der ers­ten Mi­nu­ten im Ofen aus­zu­trock­nen, da­mit er bes­ser brennt, kön­nen Ge­gen­stän­de, die mit dem To­ten kre­miert wer­den sol­len, meist den Pro­zess ver­un­rei­ni­gen und ver­lang­sa­men. Es kom­me oft vor, dass Men­schen zu­sam­men mit be­reits ein­ge­äscher­ten Haus­tie­ren, ih­ren Wan­der­stö­cken oder mit dem Alu-Pad­del ih­res SUPs kre­miert wer­den wol­len, fügt Baum­gart­ner an. Die­se Ge­gen­stän­de wer­den ent­fernt und den An­ge­hö­ri­gen über­ge­ben.

Dann tre­ten wir zu­rück. Sanft glei­tet der Sarg Rich­tung Ofen­lu­ke. Die Tür geht auf, lei­se, da­hin­ter Feu­er. War­me Luft strömt uns ent­ge­gen. Ta­ges­licht er­hellt den Raum. Ein de­mü­ti­ger Mo­ment. Die Lu­ke schliesst. Mir fällt es schwer zu be­grei­fen, dass sich hier ein Mensch in den Flam­men auf­lö­sen wird. Als hät­te Baum­gart­ner mei­ne Ge­dan­ken ge­hört, drückt er auf dem di­gi­ta­len Schalt­pan­nel hin­ter ihm ei­nen Knopf zur Ka­me­ra im zwei­ten Ofen. Ich se­he ein un­för­mi­ges Et­was in ei­nem Meer aus Flam­men. «Hier ist der Kopf. Der ist noch nicht so­weit».

Mit Baum­gart­ner und sei­nem Mit­ar­bei­ter stei­gen wir hin­ab in die Kel­ler­räu­me des Kre­ma­to­ri­ums. Hier be­fin­den sich die un­te­ren bei­den Eta­gen der mit Gas be­trie­be­nen Öfen. Denn nach­dem die Men­schen ganz oben in den Flam­men ver­bren­nen, fal­len die Über­res­te auf die mitt­le­re Ebe­ne, wo sie nach­bren­nen, bis sie ganz un­ten an­kom­men und aus­küh­len. In Ge­bäu­de zu hei­zen. «Das Kre­mie­ren ist ein exo­ther­mer Pro­zess. Die En­er­gie, die sich durch das Er­hit­zen vom Kör­per der Men­schen löst, geht in Form von Feu­er weg, es ent­steht al­so über­schüs­si­ge En­er­gie und Wär­me.»

«Was üb­rig­bleibt, wiegt so viel, wie der Mensch bei der Ge­burt»

Der Mit­ar­bei­ter öff­net ei­ne Klap­pe ganz un­ten am Ofen. Auf der di­gi­ta­len An­zei­ge sieht er Na­men und Vor­na­men je­der Per­son, die sich ge­ra­de im Ofen be­fin­det. Al­so auch, wes­sen Asche er da ge­ra­de über die Klap­pe mit ei­ner Me­tall­kis­te aus dem Ofen zieht. Ein Blick in die Kis­te ver­blüfft: Kei­ne Asche. Nur Kno­chen? Ja, was in der Ur­ne lan­det, ist kei­ne Asche, son­dern Kalk.

Nach­dem der Me­tall­kis­te sämt­li­che künst­li­chen Ge­lenk­tei­le und Nä­gel aus Schul­tern und Sarg von Hand und mit­hil­fe ei­nes Ma­gne­ten ent­nom­men wor­den sind, wer­den die Kno­chen in ei­ner zu­sätz­li­chen Ma­schi­ne zer­malmt. Das Pul­ver rie­selt dann in ei­nen Plas­tik­beu­tel. Zwi­schen die­ser Ma­schi­ne und den Öfen steht ein dunk­ler, schö­ner Holz­tisch, der nicht recht in die Kel­ler­räum­lich­keit pas­sen will. «Holz von ei­nem Le­bens­baum», er­klärt der Kre­ma­to­ri­ums­lei­ter.

Auf die­sem Tisch wird die Asche in die Ur­nen ge­füllt, rund drei bis vier Ki­lo pro Beu­tel. «Was nach der Kre­ma­ti­on üb­rig­bleibt, wiegt et­wa so viel, wie der Mensch bei der Ge­burt ge­wo­gen hat.» Wäh­rend die Asche in die von den An­ge­hö­ri­gen oder den Ge­mein­den vor­be­stell­te Ur­ne ge­füllt wird, fällt auf: Auch über die­sem Tisch ist die De­cke aus Glas. Al­fred Baum­gart­ner: «Da­mit die To­ten noch ein­mal den Him­mel se­hen kön­nen, be­vor wir den De­ckel der Ur­nen schlies­sen».

Ich star­re hoch in den Him­mel, er ist grau, Re­gen­trop­fen fal­len auf mein Ge­sicht. Mei­ne Fin­ger sind dre­ckig. Vor mir klafft ein Loch in der Er­de. Ein Loch in un­se­rem Gar­ten, um Ser­gej zu be­stat­ten. Es sind kei­ne 1 Me­ter 20. Ich hät­te den Ka­ter lie­ber kre­miert, wir hät­ten we­ni­ger schau­feln müs­sen und das Tier­kre­ma­to­ri­um soll schön sein. Das Tier je­doch im Kof­fer auf dem Bal­kon ste­hen zu las­sen, bis Den­ken wie­der geht, war kei­ne Op­ti­on. Schau­feln ging, es tat gut. Aber Ser­gej war zu gross für das Grab. Wir muss­ten den Ka­ter et­was fal­ten. Lan­ge war sein flau­schi­ges Ohr zu se­hen, wäh­rend wir die Er­de über ihn schüt­te­ten. Il­le­ga­le Grab­bei­ga­ben: Ein paar Kä­se-Snacks, Cat­nip und sein Lieb­lings­spiel­zeug.