Ein Land – vom Brexit gespalten
Der Zeitpunkt für das neue Buch des in St.Gallen aufgewachsenen, seit 2010 in London lebenden Journalisten, Publizisten und Übersetzers Peter Stäuber könnte nicht besser gewählt sein. Es heisst Sackgasse Brexit und im Untertitel Reportagen aus einem gespaltenen Land. Der Autor, der dem «Weltreporter-Netz» angehört, hat sich aufgemacht, die Hintergründe der Brexit-Bewegung zu recherchieren und die Stimmung in Ostengland, Wales und Schottland, fernab der Metropole London, zu erkunden.
Niedergangsstimmungen
Stäuber beginnt dennoch in London, spricht mit Befürwortern und Gegnerinnen des Brexits und arbeitet zwei Hauptrichtungen heraus. Da sind auf der einen Seite die multikulturellen «Any- wheres», die sich weltoffen gebenden Nutzniesser der Globalisierung und der EU. Ihnen gegenüber stehen die «Somewheres», denen Tradition, Nation und Familie wichtiger als eine EU-Mitgliedschaft sind. Dazu zitiert er einen Kritiker der «Anywheres», der meint, die zweite Gruppe habe in den letzten Jahrzehnten an gesellschaftlichem Einfluss verloren und räche sich nun mit dem Brexit.
Peter Stäuber im Gespräch mit Richard Butz über sein neues Buch: 28. November, 20 Uhr, Buchhandlung Comedia, St.Gallen
Im einst beliebten Ferienparadies Great Yarmouth, an der englischen Ostküste gelegen, begegnet der Autor grosser Armut und wirtschaftlichem Niedergang. Er hört sich die zum Teil fremdenfeindlichen Argumente von Brexiteers an, trifft auf Anhänger der rechtsgerichteten, von Nigel Farage angeführten United Kingdom Indepence Party (UKIP) oder auf einen Farmer, der wie viele andere Angst davor hat, den bisher freien Zugang zum EU-Binnenmarkt zu verlieren.
Im südwalisischen Merthy Tydfile und damit einem wirtschaftlich abgestiegenen Ort, kommt er im für diese Region typischen Nieselregen an. Wo einst die Arbeit in den Kohlezechen und in der herstellenden Industrie blühte, bestimmen jetzt Arbeits- lose und Hoffnungslosigkeit das Bild. Hier stimmte eine Mehrheit für den Brexit – als Protest gegen die Lokalregierung, gegen Westminster und Brüssel.
Rassismus und Nostalgie
Stäubers Buch bietet aber weit mehr als nur Stimmungsbilder. In einem Kapitel zeichnet er die schwierige Geschichte des Verhältnisses von Grossbritannien zur EU nach. Fast schon gespenstisch mutet die Tatsache an, dass der frühere Premierminister Cameron eigentlich gar nie ein Referendum wollte und sich nach einem unerwarteten Sieg der Konservativen bei den Parlamentswahlen dazu gezwungen sah. Viele Britinnen und Briten, stellt der Autor fest, wollten im Grunde gar nie wirklich Europäer werden, sondern nur Nutzniesserinnen der EU sein und so den wirtschaftlichen Niedergang aufhalten.
Dazu kommt der Rassismus, wovon ein weiteres Kapitel handelt. Dieser ist auf der Insel nicht verschwunden, trotz einer breiten Basis-Gegenbewegung und vielen sichtbaren positiven Aspekten des multikulturellen Zusammenlebens. Bemerkenswert ist, dass zum Teil früher eingewanderte Menschen aus Asien, Afrika und der Karibik ebenfalls für den Brexit stimmten, weil sie sich durch die spätere Einwanderung, vor allem aus Osteuropa, bedroht fühlen. Nicht verschwunden ist auch die Empire-Nostalgie. Immer noch gibt es die Sehnsucht nach der vergangenen Grösse und nach einer Zeit, in der sich die Britinnen und Briten allen anderen Nationen überlegen fühlten.
Boulevard-Presse, Schottland und New Labour
Vor fast genau 50 Jahren kam die erste Ausgabe der Zeitung «The Sun» auf den Markt. Damit begann eine neue Ära des rücksichtslosen und oft sexistischen britischen Boulevards, zu dem auch die «Daily Mail», der «Daily Mirror» und der «Daily Express» gehören. Zeitweise erreichten die Boulevard-Titel eine Auflage von rund zehn Millionen Exemplaren. Die Verkaufszahlen dieser Titel sind zurückgegangen, der Einfluss des Boulevards, eng verbandelt mit den jeweiligen Regierenden und einflussreichen Politikern, ist geblieben. In der Brexit-Debatte steht die Boulevard-Presse bis heute klar auf der Seite seiner Befürworter.
Schwierig ist, wie Stäuber in einem weiteren Kapitel darlegt, die Situation in Schottland. Der Aufschwung der Scottish National Party (SNP), die grosse, aber nicht mehrheitliche Zustimmung für das Projekt einer Selbstständigkeit, die schottische Mehrheit zugunsten des Verbleibs in der EU, der Niedergang der einst politikbestimmenden Labour Party und die zum Teil schwierigen wirtschaftlichen Probleme fügen sich zu einem komplexen Bild zusammen.
Das letzte Kapitel ist dem Wiedererstarken von Labour und dem Aufstieg von Jeremy Corbyn gewidmet. Das stelle, meint der Autor, neben dem Brexit das faszinierendste Ereignis dar, das der britischen Politik in den vergangenen Jahren widerfahren sei. Stäuber wertet es als ein deutliches Zeichen dafür, dass der neoliberale Konsens in Grossbritannien zu Ende gehe: «Es wird über Sinn und Unsinn von Nuklearwaffen debattiert, über neue Modelle des wirtschaftlichen Eigentums und über die Macht der City of London. Im Land, das den Thatcherismus erfunden hat, ist dies bemerkenswert.»
Ob sich diese hoffnungsvollen Einschätzungen des Autors erfüllen, wird sich weisen. Sein sorgfältig recherchiertes und flüssig geschriebenes Buch ist auf jeden Fall ein wichtiger, kenntnisreicher und willkommener Beitrag zur Brexit-Diskussion, die jetzt in der entscheidenden Phase angekommen ist.
Dieser Beitrag erschien im Novemberheft von Saiten.