Ein Hoch auf den Kinoki-Lokmotor!
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Die grandios-groteske Science-Fiction-Satire «Brazil» – der Film läuft in der 24-Stunden-Kinokfestnacht – ist die denkbar beste Kultfilm-Wahl zum dreissigsten Geburtstag des St.Galler Programmkinos! Man darf das hörbar laut und mit weit offenen Augen sagen und aus gegebenem Anlass assoziativ spintisieren: Terry Gilliams bitterböse Vision aus dem Jahr 1985 zeigt exemplarisch, wie sich unsereiner damals jene Zukunft vorstellte, die heute weitgehend eingetroffen ist, siehe Überwachungsstaat, Informationswahnsinn, Schönheitsoperationen, Computerarbeit. Und, ja, Terroristen, respektive «Terroristen» in grossen Anführungszeichen, denn der schrullige Untergrundspengler Tuttle (Robert De Niro) und seine Compagnons sind eigentlich die Guten, die den bedrängten Helden in letzter Not retten.
Kinorebellion gegen die Sittenwächter und Stadtschläfer
Die einfallsreichen Tuttles in der öden und monopolisierten St.Galler Kinolandschaft der 1980er-Jahre, das waren just jene autonomen lokalen Polit- und Kulturaktivisten, die das Kinok begründeten. Zunächst als verschwörerische Gruppe, die mit mobilen Kinovorführungen beispielsweise in der Kehrichtverbrennungsanlage oder im Volksbad aussichtsreiche Horizonte öffnete. Dann als organisierter, aber weiterhin bewegter Verein, der ab 1985 im St.Fidener Quartierkino Apollo Monat für Monat Programm machte. Wider den Kommerz, wider die herrschenden Verhältnisse und wider die eingeschlafenen Sehgewohnheiten. Und mit einer revolutionären Freiheit, die den argwöhnischen Stadtkinofürsten Franz Anton Brüni und die rechtsbürgerlichen Sittenwächter wie den St.Galler CVP-Ständerat Jakob Schönenberger mitunter zur Weissglut trieben: So zeigte man selbstverständlich Achternbuschs staatlich verbotene Bayern-Jesus-Parodie «Das Gespenst», die protestierenden Nonnen vor dem Saal erhöhten nur den Reiz (und die Mund-zu-Mund-Propaganda).
Und «Brazil» legt mit seiner unbändigen visuellen Fantasie eine zweite augenfällige Verbindungsspur zum Kinok: Es gibt da jede Menge filmgeschichtliche Anspielungen, und eine der schönsten ist jene auf Sergej Eisensteins berühmte Odessa-Treppenszene in «Panzerkreuzer Potemkin» mit der Nahaufnahme einer Frau, der die Brille und damit auch das Auge zerschossen wird. Womit wir direkt beim Antrieb der St.Galler Kinok-Gründergruppe landen: mit ihrem Kinoki-Schlachtruf beriefen sie sich auf die frühen russischen Kino-Avantgardisten um Dziga Vertov. Der war mit seinen Sowjet-Dokumentarfilmen des «überrumpelten Lebens» gegen die märchenhaften, romantischen Grimassenschneider-Spielfilme in den Kampf gezogen; sein «Mann mit der Kamera» (Titelbild) war einer der mobil gezeigten Filme. Kinoki, im Singular tatsächlich Kinok, benennt das Programm von Vertovs Umsturzgruppe, eine Zusammensetzung der russischen Wörter Kino und Oko (Auge) – Kino-Glas oder eben Kino-Auge; das stand für eine neue Erzählweise, eine mit expressiver Montage verdichtete Kinorealität, eben ganz anders als das Illusionskino der Bourgeoisie.
Manchmal wünscht man sich einen zweiten Saal in der Lokremise
Schön, dass das St.Galler Programmkino Kinok heisst, wieder Kinok. Jahrelang kannte man es als K59, die Zahl ergab sich aus der Addition der drei Filmformate 8, 16 und 35 mm. Auch nicht schlecht, aber längst erledigt: Die Formate spielen heute keine Rolle mehr, das Kinok mit seinem angestammten Namen aber umso mehr. Die aktuellen Kinoki sind seit dem lange angezettelten und wohl überlegten Umzug in die Lokremise zwar sehr sesshaft geworden, aber auch zum Motor und Herz eines grossen Kulturbetriebs mit Theater, Kunstraum und Restaurant. Sie haben, nicht ohne Wehmut, das schöne alte Apollo, 1918 eröffnet und 1973 als Quartierkino geschlossen, wieder seinem Schicksal überlassen; doch die Bewegung vom peripheren Standort hin ins Stadtzentrum und direkt aufs Areal des wichtigsten Bahnhofs der Ostschweiz war allein schon aus Platzgründen nötig und für die Wirkung unabdingbar. Die Mitgliederzahlen belegen den Aufschwung: Vor dem Umzug lagen sie bei rund 600, zur Eröffnung 2010 in der Lokremise waren sie auf 1250 gestiegen, mittlerweile zählt der Verein 2000 Mitglieder. Verdoppelt, mindestens, hat sich auch die Zahl der ZuschauerInnen – auf jüngst fast 50’000 Eintritte. Kein Wunder bei jährlich über 1200 Vorstellungen und über 250 gezeigten Filmen. Manchen ist das fast zuviel des Guten, und angesichts nicht selten ausverkaufter Vorführungen wünscht man sich schon mal einen zweiten Saal in der Lokremise.
Fast schon vergessen scheinen dabei die langen Jahre zwischen der Gründung und dem Aufbruch in die komfortable Kinobox im Westen, als es im ehemaligen Quartierkino an der Grossackerstrasse trotz direktem VBSG-Anschluss erfolgreiche Sommerkino-Openairs brauchte, um die Rechnung wenigstens einigermassen ausgeglichen abzuschliessen. Bestes Exempel: Das Hitchcock-Programm unter den Kastanienbäumen im ehemaligen Restaurant Bavaria oberhalb der Speicherstrasse – auch einer dieser temporären Spielorte, die längst abgebrochen und fast vergessen sind. Der Nachholbedarf an Tarkowskij, Pasolini, Fassbinder oder Chytilová war da bereits mehr als gestillt, die subversive Energie der 80er längst entschwunden. Es waren die Jahre des politischen und kulturellen Stillstands in einer Stadt ohne Geld und Ehrgeiz. Immerhin: Die Subventionen blieben unangetastet, ein bisschen Alternativkultur wollte man sich dann doch leisten. Kaum mehr selbstverständlich war, welche Filme ins Kinok-Monatsprogramm gehörten – und welche in die Brüni-Säle. Das Kino verlor an politischer Bedeutung, es brauchte andere Formen, um Publikum anzuziehen: das Wochenende mit sämtlichen Folgen von «Heimat», das Gulasch-Gelage auf der Bühne zu Béla Tarrs «Satanstango». Ein anderer dieser Langsamfilme, die für ein anderes Kino standen: Ulrike Ottingers «Jeanne d’Arc of Mongolia».
Rundherum Bündnisse
Vieles, was Kulturpessimisten schon als zunehmendes Desinteresse verorteten, war dann doch nur der ungünstigen Lage verschuldet: Das Kinok fand den Anschluss «hinter den Gleisen» ohne Probleme. Das gleiche gilt für den Anschluss an die digitalisierte Moderne: Ein Kino im Lokomotivdepot des Aufbruchs, dem 1911 fertig gestellten Pionierbau in Eisenbeton, das hätte auch Vertov und seinen kämpferischen Genossen gefallen. Am neuen Ort behielt das Kinok sein Stammpublikum, gewann ein neues dazu, ist inzwischen Lokmotor, Katalysator, Multiplikator und Verbindungstreiber. Von Architektur Forum Ostschweiz, CaBi Antirassismus-Treff, Ostschweizer Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte bis Staats- und Stiftsarchiv, Nordklang oder Universität gibt es kaum eine kulturelle oder soziale Einrichtung, mit der man nicht zusammenarbeitet. Auf dem langen Weg, den das Kinok gekommen ist, finden sich viele WegmacherInnen, WegweiserInnen, Mit- und ZuträgerInnen, BegleiterInnen und ZuschauerInnen. Ganz herzlichen Dank rundum! Und natürlich gibt es auch in all den dreissig Jahren einige schmerzliche und sehr traurige Momente. Die Kinok-Gemeinschaft musste Abschied nehmen von namhaften Verbündeten wie Ruth Rothenberger und Barbara Suter (Frauen hinter der Kamera, die ihre Anfänge 1983 im Corso hatten, also noch älter als das Kinok sind), Mitgründer und Filmemacher Peter Liechti und Programmheft- und Plakatdrucker Röbi Baumgardt.
Ohne Geschichte keine Zukunft und umgekehrt, das gilt auch fürs Kinok. 1995, zum Zehnjährigen, stellten die BetreiberInnen fest: «Es gehört zu unseren ehrenwerten Aufgaben, das filmische Gedächtnis der Stadt zu sein.» Also schlagen wir 2015 den Bogen vom «Mann mit der Kamera» (1929) zu «Brazil» (1985) und blicken voraus: Tuttles dieser Stadt, vereinigt euch im Kinok! Und haltet den Kinoki-Lokmotor am Laufen! Es gibt was zu feiern, und wir bleiben kino-auge-lok-motorisch in Bewegung.
Marcel Elsener, 1964, Journalist in St.Gallen, im Kinok engagiert seit 1988, zunächst Programmgruppe, heute Vorstandsmitglied.
Andreas Kneubühler, 1963, Journalist in St. Gallen, arbeitete in den 90er-Jahren in der Kinok-Programmgruppe mit, seither Vorstandsmitglied.
Dieser Beitrag entstand für das Programmheft des Kinok.
Das 24-Stunden-Programm ist hier.