Ein Haufen Hippies?

«Einfach leben» – schon der Titel des neuen Dok-Films von Hans Haldimann («Bergauf, bergab») ist mehrdeutig. EINFACH leben oder einfach LEBEN. Der Film kann den nachdenklichen Zuschauer ganz und gar ins existenzielle Grübeln stürzen.
Von  Frédéric Zwicker
Rückzug: Suesanna und Ulrico sind ausgestiegen.

Zuerst das Augenscheinliche. Hans Haldimann hat es mit Bergauf, bergab getan: Er hat uns anhand einer Bergbauernfamilie gezeigt, dass manche Menschen in der Schweiz ganz anders leben als wir. Er gewährte Einblick in den Alltag der Bergbauernfamilie Kempf, die ihr Jahr auf drei Höfen in unterschiedlicher Höhe verbringt. Ein Krampf ist das, ein Kampf mit der Natur, ein körperliches Schuften zwecks Überleben in prächtiger, oft lebensfeindlicher Kulisse.

Ähnlich ergeht es auch den Protagonistinnen und Protagonisten in seinem neuen Film, der am 12. Januar in den Kinos anläuft. Die Frauen und Männer unterschiedlichen Alters sind Mitglieder der Genossenschaft Pianta Monda im Val Lavizarra im Tessin. Auch für sie ist das Leben Arbeit. Vom Morgen bis zum Abend.

Anders als die Kempfs wurden sie aber nicht in dieses Leben hineingeboren. Sie sind Aussteigerinnen – permanent oder temporär –, die sich bewusst für einen Rückzug aus dem hochtechnologischen, reizüberfluteten Flachlandalltag in die ursprünglichen Höhenlagen entschieden haben, wo es ruhiger, schöner und gesünder ist. Selbstgestrickte Pullover, das eine oder andere Batik-Shirt, mal eine Dreadlocke, eine Gitarre, ein Djembe – ein Haufen Hippies also?

Zurück zum Produkt

Es ist eine romantische, oft romantisierte Vorstellung von 21.-Jahrhundert-Hamsterrennrad-Menschen: die Entschleunigung, der heilsame Ausstieg; ein Leben, das einen wieder näher zum Endprodukt führt, welches seit der industriellen Arbeitsteilung in immer weitere Ferne rückt. So ergeht es auch den Genossenschaftern und ihren Gästen. Sie pflanzen an, mahlen ihr eigenes Mehl, backen Brot im Holzofen, kochen über dem Feuer, verzichten auf Laptops und Musik aus der elektronischen Konserve.

Und das in wunderschöner Natur, in der Dichtestress so fern ist wie die Notwendigkeit verdichteten Bauens, und in meditativer Geräuschkulisse. Das alles wird auch den Kinobesuchern ein Stückchen Seelenfrieden verschaffen. (Saiten-Kollege Surber meint mit Blick auf den Bildschirm, auf welchem der Film läuft: «Ah, du bist in einem schönen Land.»)

Und so zieht die Pianta Monda denn auch Schulklassen und Leute an, die einmal für ein paar Tage, Wochen oder Monate erleben wollen, wie das so ist, wenn man für seinen Lebensunterhalt mit Hand, Fuss und Rücken arbeitet, Unkraut jätet, Bäume fällt, Steine spaltet und Trockenmauern aufschichtet. (Skeptisch, zurückhaltend kommt eine Schulklasse an, mit zufriedenen Gesichtern verabschiedet sie sich wieder.)

Und auch wie das ist, wenn man vom nächsten Terroranschlag erst ein bisschen später erfährt, vom nächsten Kind, das sich in den USA mit der Waffe des Vaters in den Kopf geschossen hat, vom nächsten Flüchtlingsboot, das im Mittelmeer versinkt und hunderte Nordafrikanerinnen in den Tiefen jenes Gewässers verschwinden lässt, das uns früher an Ferien und nicht an Wassergrab denken liess.

Allmächtige Schulglocke

So sagt es denn auch einmal Katharina, die Landwirtin, die sich später aus der Genossenschaft verabschieden wird, um ihr eigenes Projekt zu verwirklichen: «Man könnte denken, ich wolle mich abschotten.» Ein bisschen sei das auch so. Aber sie habe doch noch Kontakt zur Aussenwelt, auch den Kindern zuliebe. Eingeschränkten Kontakt. Weltschmerz light.

Verabschiedet hat sich auch Ulrico, nebst Katharina die Hauptfigur, ein ehemaliger Lehrer. Sein Leben sei von der Schulglocke geprägt gewesen. Auch wenn man gut gearbeitet habe, habe sie das Arbeitsende, die Pause diktiert. Eine höhere Macht, die ihren Willen läutend aufzwingt. Jetzt arbeitet er, der weisslockige, sonnengebräunte, hagere, grosse, kräftige Mann im Beinahe-Pensionsalter nach seiner inneren Uhr, braucht wenig Pausen, arbeitet viel, stetig, gemächlich aber, so wie es ihm eben entspricht. Und er wirkt dabei sehr glücklich.

 

Sein Glück hat vielleicht auch mit Suesanna (Spitzname Sanna) zu tun, seiner Partnerin, die ebenfalls Genossenschafterin ist und sagt: So ein Stück Erde zu besitzen, das einen nähre, das sei auch eine Sicherheit, das versorge auch, wenn in den Läden unten im Tal mal keine Lebensmittel mehr liegen würden, wie das auf der Welt ja immer wieder vorkomme.

Auf ins Auenland?

Und jetzt eben zum weniger Augenscheinlichen, das da zwischen den Bildern, Schnitten und Gesprächen herauszufühlen ist. Zum Beispiel zur Frage: Ist es legitim, sich von der Welt zu verabschieden, nur noch sporadisch zu erfahren, welche Grossmacht einen Idioten an ihre Spitze wählt, eine Krim annektiert, unter dem Erstarken einer neuen populistischen Kraft zu zerbrechen droht? Denn eine Pöstlerin wird kaum täglich den Weg dort hinauf unter die Füsse oder Pferdehufe nehmen. (Per Pferd transportieren die Aussteiger Waren ins Dorf hinunter und andere herauf.)

Was, wenn nicht das neutrale Inselchen Schweiz, könnte Tolkien zu seinem Auenland inspiriert haben, wo die Hobbits behaglich leben, schmausen und Pfeife rauchen, wo Zwerge, Elfen und andere Fremde lieber fernbleiben sollen und man einfach wartet, bis die grossen Stürme, welche die Welt rundherum ins Chaos stürzen, sich ausgetobt haben?

Einfach leben
ab 13. Januar im Kinok St.Gallen
kinok.ch

Übrigens eine verheerende Nachlässigkeit, dass die Herr der Ringe-Filme darauf verzichten, das Auenland bei der Rückkehr der Ring-Helden durch Saruman annektiert, die Hobbits versklavt zu zeigen. Die Illusion, man könne sich raushalten, die Tolkien zerstört, wird in den Filmen am Leben erhalten.

Welche Verantwortung hat man als Mensch einer Gesellschaft gegenüber? Muss man Anteil nehmen? Wer tut das aber schon wirklich, der mittendrin wohnt und die Möglichkeit hätte?

Berghütte oder Waffenschein

Andererseits: Es braucht ein dickes Fell, die ununterbrochene Berieselung mit Schreckensnachrichten über Zeitungen, Fernsehen, Internet, Social Media und vieles mehr unbeschadet zu überstehen. Seit langer Zeit erschallt der Ruf nach ausgewogenerer Berichterstattung in den Medien, sprich nach mehr Positivem im Meer der Fürchterlichkeiten. Ebenso lange verhallt er recht ungehört.

Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer beschaffen sich einen Waffenschein und die passende Knarre. Ignorant, wer denkt, das und die weltweit grassierenden Abschottungsphantasien und Rechtsrutsche hätten nicht mit dem Klima der Angst zu tun, das sich durch die Medien ausbreitet. Wer in der Berghütte nichts von der schleichenden Islamisierung hört (Wer hat Angst vor den fünf Prozent Muslimen in der Schweiz?), dem ist die Mistgabel Arbeitswerkzeug, nicht Terroristentöter.

Ist also gar ein besseres, da weniger korrumpiertes Mitglied der Gesellschaft, ein besserer Hobbit, wer weniger Anteil nimmt? Wählt und stimmt besser, wer sich seltener, lückenhafter informiert? Besser, weil Angst bekanntlich ein schlechter Berater ist? Muss man dazu aussteigen oder reicht es, den Informationskonsum bewusster zu gestalten?

Und wie verhält es sich mit den Teilzeitaussteigern wie der jungen Frau, die sagt, sie werde vieles wohl erst vermissen, vieles erst einordnen können, wenn sie wieder in Basel sei, wo sie von Trams und dem lauten Innenhof und nicht von Wind, Regentropfen, Ziegenglocken und Pferdehufen berieselt wird? Wird sie Erkenntnisse mitnehmen, bewahren? Wird sie zurück in den alten Trott fallen, vergessen?

Einfach leben bietet nicht nur Bilder und Klänge, die das Herz erwärmen. Der Film liefert Denkanstösse en masse. Und er vermag es Fragen aufzuwerfen, die viel relevanter sind, als es ein Djembe, eine Gitarre und ein Holzofenbrot in der Tessiner Berglandschaft auf den ersten Blick zu sein scheinen.