Ein Gefühl der Wut
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Fast könnte man denken, dass der Museumserweiterungsbau in Chur in Abstimmung mit dem Format dieses unendlichen Werks geplant wurde. Entstanden ist Die Umgebung der Liebe 1981 im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart. 1987 wurde das Panorama an demselben Ort für wenige Tage erneut entrollt. Danach sind die vier Nesselstoffbahnen im Atelier von Martin Disler beziehungsweise im Nachlass verschwunden.
2007 hat die Gottfried Keller-Stiftung das monumentale Gemälde erworben. In jenem Jahr bekam das Schaffen des 1949 geborenen und 1996 an den Folgen eines Hirnschlags gestorbenen Künstlers neue Aufmerksamkeit – mit einer Ausstellung im Aargauer Kunsthaus, einer umfassenden Werkmonografie, einer Webseite. Er war ein Gefeierter, hoch gehandelt, bald vergessen – ein Einzelgänger. Dass das Panoramabild «ohne Anfang und ohne Ende» nun in Chur zusehen ist, gleicht einer Sensation. Und es stellt die Frage nach der Aktualität dieses Werks heute.
Ein klarer Plan, ein Rausch
Die Umgebung der Liebe:
bis 26. Mai, Kunstmuseum Chur
Entstanden ist Die Umgebung der Liebe, wie andere Werke von Martin Disler, mit klaren Vorgaben an sich selber als Herausforderung. Überforderung als Mittel zum Kontrollverlust: Die monumentale Malerei soll innerhalb von vier Nächten fertig werden, jede Nacht eine Wand. So entstand 1989 auch Usura, die Wandmalerei in der Universität St.Gallen, in einer einzigen Nacht.
In Stuttgart liess sich Martin Disler abends zusammen mit seiner Partnerin, der Künstlerin und späteren Frau Irene Grundel, im Kunstverein einschliessen. Dann begann die Performance, ein Tanz über die am Boden ausgelegte Malfläche, ein Rausch. Sie sass auf einer über vier Meter hohen Leiter, dirigierte ihn, feuerte ihn an, fotografierte. Ihr verdanken wir die Bilder, die diesen Prozess, diesen Rausch festgehalten haben. Besen, Spachtel, Hände, den ganzen Körper nutzte er zum Malen. Für ihn war es ein Gemeinschaftswerk.
«Panorama-Bild – eine alte Lust von mir», schrieb Disler in einem Brief im Vorfeld der Ausstellung. Und weiter: «Sexpanorama, monströse Liebespaare – Sittengeschichte». Skizzen dazu machte er praktisch keine, es ging um den Moment vor Ort. Doch keine Sex- und Erotikorgie ist entstanden. Vielmehr ist es ein Rundum von Gewalt, von Gewehren, Harpunen, Todesschwadronen, von Monstern, Kampfstiefeln, U-Booten. Dazwischen das liebevoll über die glückselige Fratze leckende Pferd, Lust, ekstatische Körper.
Gestartet hat Disler mit der Vase, gefüllt mit düsteren Zeichen, als wäre es die Büchse der Pandora. Der linkerhand anschliessende Frauenkörper ist hell, die Brüste wogen, die Scham ist offen wie ein Trichter. Doch was tut der eine Arm? Das ist keine Liebkosung. Die Hand greift aus, wird zum Tentakel, reisst einer anderen Figur den Kopf ab. Aus dem Blut wächst eine nächste Gestalt. Auf der anderen Seite schüttet eine Barke Gestalten in die leere Ecke, dem Monster vor das Maul.
Archaisch und aktuell
Mehr als die Liebe selber malte Disler die Umgebung der Liebe – eine Schlacht. Man denkt an mittelalterliche Dämonendarstellungen, den Triumph des Todes aus dem 15. Jahrhundert in Palermo, Picassos Guernica von 1937. Es ist die Aussenwelt, die zu dem im Raum eingeschlossenen Liebespaar dringt. Es ist Stuttgart, wo Harald Nägeli festgenommen und Demonstrationen niedergeschlagen wurden. Es ist auch Zürich, wo Martin Disler damals lebte, ein Atelier in der Roten Fabrik hatte und Molotow-Cocktail malte. Es ist die Zeit der Jugendunruhen, es herrscht Kalter Krieg, Kommerz, Konsum. Ein Gefühl der Wut habe ihn angetrieben, erinnert sich Disler im Gespräch zu Die Umgebung der Liebe. Und: «Es war auch eine Verzweiflungssache».
Und heute? Es ist dieses Archaische der Bildsprache und das Anarchische, die Rauheit, das Ungeglättete, das Disler für die Darstellungen von Krieg benutzte, von Machtmissbrauch und in die Flucht Getriebenen, das sich mit dem aktuellen Zustand der Welt verbindet. Und das Bedürfnis, Liebe schützen zu müssen.
Anders als damals in Stuttgart, wo der Zugang unmittelbar von aussen ins Innere durch einen Schlitz im Bild selber war, gelangt das Publikum in Chur über den mittigen Zugang in den Raum. Die Sicht ist parzelliert. Wir müssen uns der Malerei entlang bewegen, geraten ihr nah, werden weggedrängt, umkreisen in Wellenbewegungen diese Membran zwischen Innen und Aussen, Innerem und Äusserem. Im Schlusssatz seines kurz nach Vollendung des Werks entstandenen Textes zitiert Martin Disler Ludwig Hohl: «Es gibt in der Kunst kein Inneres oder Äusseres. Wo Kunst ist, ist lauter Inneres aussen.»
Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.