«Ein Fantasiefeld für die Region»

Rolf Geiger, Geschäftsführer der Regio Appenzell AR-St.Gallen-Bodensee, über die Geschichte des Lattich von der ersten Idee bis zum Bau. Und über das Glück des Ausprobierens.
Von  Peter Surber
Rolf Geiger. (Bild: Ladina Bischof)

Saiten: Hat der St.Galler Güterbahnhof dir persönlich etwas bedeutet, bevor das Lattich-Projekt entstanden ist?

Rolf Geiger: Da ich nicht in der Stadt aufgewachsen bin, hatte ich bis zum Auftauchen der Lattich-Idee keinen speziellen Bezug zum Ort. Ausser vielleicht, dass ich hin und wieder das Velo in die Projektwerkstatt brachte. Generell interessieren mich aber Brachen und unternutzte Räume. Sie bieten viel Inspirationsfläche. Die innerstädtischen Areale haben ein grosses Entwicklungspotential, und der Güterbahnhof ist in Sachen Lage und Erreichbarkeit zweifellos ein Filetstück. Von dem Zeitpunkt an, als die Autobahnpläne konkret wurden, war aber auch klar, dass mit diesem Filetstück in den nächsten rund 15 Jahren nichts passieren wird. Ich fand: Dass ein solcher Ort so lange Zeit brachliegt, das kann doch nicht sein.

Das war der Keim für die heutige Lattich-Nutzung?

Einen früheren Anstoss hatte das Projekt «Zwischennischen» gegeben. Aus einem Ideenwettbewerb am Standortforum 2012 war die Idee einer Zwischennutzungsbörse entstanden, mit Fokus auf bereits bestehende Räume. Es gelang dann auch, solche Räume aufzuspüren. Diese lagen allerdings zu peripher, das passte mit der Nachfrage nicht zusammen, daher mussten wir das Projekt einstellen.

Damals sprach noch niemand vom Güterbahnhof.

Nein, aber Zwischennutzungen sind aktuell geblieben, und etwa anderthalb Jahre später wurden die Pläne für den Autobahnanschluss bekannt. Ich habe vorerst dagegen argumentiert im Sinn von: Plant den Anschluss irgendwo, aber nicht hier, das verbaut die ganze Siedlungsentwicklung! Dann haben wir realisiert, was für eine Chance sich damit bietet. Bei einem Mittagessen mit Gabriela Falkner, Marcus Gossolt und mir entstand die Lattich-Idee, das ist ziemlich genau drei Jahre her. Zum Jubiläums-Wettbewerb der St.Galler Kantonalbank im April 2016 haben wir das Projekt eingereicht. Der Beitrag der KB von 100’000 Franken war dann das Startkapital. 30’000 Franken gingen in eine Machbarkeitsstudie für den Bau, denn ein Neubau war von Anfang an die Vision. Es handelte sich am Güterbahnhof ja nicht um leerstehende Räume, sondern um eine brachliegende Fläche.

Den Bau, wie er heute steht, hattet Ihr damals schon vor Augen?

Nein, nicht in dieser Form. Die inneren Bilder waren da, inspiriert von vergleichbaren Projekten wie dem Basislager Zürich oder der Rakete Basel, aber die Idee war eher die einer wilden Container-Landschaft. Wir haben mit einem Klötzchen-Modell ausprobiert… Einzelne Schiffscontainer sind dann ja hinzugekommen, darunter der Musikcontainer von Roman Rutishauser. Aber der Beizug eines Immobilien-Ökonomen hat uns rasch auf den Boden der Realität heruntergeholt: Man findet nicht 20 Pioniere vom Schlag eines Roman Rutishauser, die bereit sind, einen Stahl-Container umzubauen, energetisch umzurüsten etc. Das ist teuer, das ist eine Verrücktheit – so landeten wir bei der Modulbauweise. Das Baurecht im Lattich ist auf 10 Jahre beschränkt, ein Modul hat eine Lebensdauer von 40 Jahren, es muss also wieder ab- und neu aufbaubar sein. Die Lösung verdankten wir dem Zufall, dass Richard Jussel vom Holzbau-Unternehmen Blumer-Lehmann und ich an der Mitgliederversammlung des Vereins zur geplanten Expo 2027 am gleichen Tisch sassen. So gesehen ist aus dem Scherbenhaufen der Expo doch noch etwas, wenn auch Kleineres gewachsen.

Wie kann man die «Vision Lattich» auf den Punkt bringen?

Vorausgeschickt: Die Region St.Gallen ist eine eher wachstumsschwache Region – im Vergleich zum Rheintal, zum Zürichsee-Gebiet, auch zur Agglomeration Wil. Das Wachstum ist im schweizweiten Vergleich, aber auch innerhalb des Kantons unterdurchschnittlich. Zu diesem Thema haben wir uns an einem Workshop der Regio Gedanken gemacht, und eines der Handlungsfelder trug den Titel «Brain drain». Die Erkenntnis war: Wir müssen etwas machen, um der Abwanderung Einhalt zu gebieten, es braucht ein attraktives Umfeld für die jungen Kreativen. Da passte die Lattich-Idee bestens dazu. Auf den Punkt gebracht also: Mit Lattich wollen wir mehr «Brain Gain» und weniger «Brain Drain». Den Jungen etwas zu bieten ist auch eine der Hauptmotivationen der Bauträger. Sie sind von der Idee überzeugt, dass St.Gallen so eine Initiative braucht – und das sind gestandene Unternehmer, sie sehen, was andernorts abgeht und was ein attraktives Umfeld auslösen kann. Eine solche Dynamik fehlt in der Ostschweiz.

Da bleibt Lattich dann aber doch nur ein Tropfen auf dem heissen Stein. Um die Abwanderung zu stoppen, müsste man mit der grösseren Kelle anrichten.

Klar, es ist ein kleines Projekt, es sind 48 Module mit vielleicht hundert Personen, die hier tätig sind. Aber wir hoffen, dass es sich vernetzt und eine positive Dynamik, ein Multiplikatoren-Effekt entsteht. Zudem hat es auf dem Areal ja auch noch mehr Platz, es ist denkbar, dass Lattich weiter wächst und dadurch noch mehr Relevanz entwickeln kann. Es ist sicher nicht das alleinige Wundermittel, aber ich hoffe auf einen positiven Effekt für das Image von Stadt und Region.

Sind die Jungen auch gekommen? Anders gefragt: Was für eine Kategorie von Leuten hat die Idee des Lattich-Baus erreicht?

Lattich ist extrem durchmischt, vom Alter her und auch was die Branchen betrifft. Wir haben Leute erreicht, die Lust haben, in einem Umfeld zu arbeiten, wo sie sich Inspiration erhoffen durch den Austausch. Kollaborativ tickende Leute, die es attraktiver finden, gemeinsam statt irgendwo für sich allein zu arbeiten. Im Lattich ist man nah, man sieht sich, man hört sich auch, das gibt direkte Anknüpfungspunkte – anders als in einem normalen Bürogebäude.

Stimmt der Eindruck, dass IT-Fachleute sowie Architektur- und Ingenieurbüros dominieren im Lattich?

Was bisher fehlt, ist die Textilbranche, das ist schade. Aber eine Dominanz sonst sehe ich nicht, es sind auch Firmen aus dem Eventbereich, Kletterfreaks, Floristik, Comestibles und so weiter vertreten. Die Mischung ist erfreulich, und Lattich ist gefragt: Für die Einzelmodule gibt es eine Warteliste. Zwei Doppelmodule sind momentan noch nicht vermietet.

Nächstes Jahr verlegen die Appenzellerbahnen ihre Geleise am Güterbahnhof; was sind die Folgen?

Es wird zwei Jahre lang, 2020 und 2021, eine Baustelle geben. Die Bahn braucht Platz für die Bauinstallationen. Das wird mit Emissionen verbunden sein, auch die Mieter wissen das. Zwei Jahre später wird die Baustelle weg sein, dann haben wir einen Bahnhof, der vielleicht ebenfalls «Lattich» heissen wird, es gibt viel zusätzlichen Platz, und die Frage wird kommen: Was machen wir damit? Meine Hoffnung ist, dass er nicht mehr wie bisher als Parkplatz genutzt wird.

Sondern?

Als ein urbanes Labor… Mich fasziniert die Idee, die einst für den nicht mehr genutzten Flughafen Dübendorf entwickelt worden ist: Dort sollten, allerdings auf einer ungleich grösseren Fläche, Parzellen vermietet werden, auf denen Interessierte unter klaren Rahmenbedingungen und für eine festgelegte Zeit machen können, was sie wollen. Ein Ideenwettbewerb wie dort könnte auch in St.Gallen Dinge ins Spiel bringen, an die man heute gar nicht denkt.

Zum Beispiel?

Ich habe keine konkreten Vorstellungen, aber den Gedanken: Lasst uns diese Fläche mit dem kreativen Potential von vielen in Verbindung bringen, dann entsteht etwas Inspirierendes für die ganze Stadt! Interessant wäre auch eine temporäre Wohnnutzung, wie wir sie beim jetzigen Lattich-Bau schon gern realisiert hätten. Vielerorts werden neue Wohnformen diskutiert, Mikrowohnen, Mehrgenerationen-Modelle – dafür wären die Voraussetzungen hier gut. Das «Wohnzimmer» ist schon da, mit der Gastro, mit der Halle (mehr dazu auf Seite x, Anm. d. Red.) und dem gemeinsamen Aussenraum, und daneben hätte man als Mieterinnen und Mieter sein individuelles Wohnmodul. Solche Konzepte auf den Ort anzuwenden und den Güterbahnhof als «Fantasiefeld» zu nutzen, ist ein reizender Gedanke.

Steht ein solches «Fantasiefeld Lattich» im Zusammenhang mit anderen Ostschweizer Arealentwicklungen?

Das Aggloprogramm formuliert als Zielsetzung, die Siedlungsentwicklung dort zu forcieren, wo integrierte Standorte mit einer tipptoppen öV-Erschliessung vorhanden sind. Lattich ist gewissermassen ein Vorprozess einer künftigen Arealentwicklung, eine Chance, auszuprobieren, was zum Areal passt. Das kann später zu einer besseren definitiven Nutzung führen. Es wäre sicher nützlich, auch andernorts eine solche Laborphase durchlaufen zu können, bevor man baut für die nächsten hundert Jahre.

Andere bahnnahe Areale in der Stadt sind St.Fiden oder Winkeln, weitere gibt es in der Region. Wo liegen die wichtigsten Ostschweizer «Labors»?

Die Feldmühle Rorschach ist ein solcher Ort. Dort steht eine Zwischennutzungs-Zeit von vielleicht fünf Jahren bevor, aber fünf Jahre sind zu kurz, um eine bauliche Entwicklung in Gang zu bringen. Darum geht es dort um eine kulturelle Zwischennutzung im schon bestehenden Gebäude. In St.Fiden ist der Zeitraum mit fünf bis sieben Jahren auch zu kurz, um baulich temporär so einzugreifen, dass es sich für Private rechnen würde. Im Industriegebiet Gossau-Ost-Winkeln findet eher ein langsamer Transformationsprozess hin zu mehr Dienstleistungs-Betrieben statt. Vielleicht könnte dort ein Projekt à la Lattich gleichfalls Überlegungen in Gang bringen; es gibt jedenfalls unternutzte Flächen. In Arbon ist die Entwicklung schon ziemlich gelaufen.

Wie stark prägt der geplante und umstrittene Autobahn-Anschluss den Lattich-Alltag?

Eigentlich gar nicht. Ohne die Pläne hätte, wie eingangs gesagt, ein solches Projekt an einem so perfekten Standort gar nie entstehen können. Es ist ein Glücksfall für die Stadt und die Region, dass die Diskussion um den Anschluss das Areal freispielt für eine Zwischennutzung. Jetzt ist der Bau da, vielleicht kommt noch Neues hinzu, nach der Gleisverlegung der Appenzeller Bahnen. Das Baurecht ist für zehn Jahre gesichert. Das heisst: Aktuell kümmert uns die Autobahn nicht. Irgendwann wird das Thema aber auftauchen. In Zürich konnte das Basislager erfolgreich «gezügelt» werden. Das wird spannend: Was passiert, wenn hier eine definitive Nutzung kommt – mit oder ohne Autobahn?

Das Interview erschien im Mai-Heft.