Ein Buch schlägt Alarm
Die wichtigste Waffe ist für den Autor die Bildung. Er widmet ihr ein ganzes Kapitel, aus Protest gegen das seiner Meinung nach desolate Bildungssystem in Deutschland, das ein «Trümmerhaufen des Neoliberalismus» sei und den «Humanities», also der kulturellen Bildung viel zu wenig Platz einräume. Verknappte Schulzeiten, keine Freiräume, Wirtschaftstauglichkeit als Lernziel Nummer eins, von Firmen gesponserte Lehrmittel, zu wenig kulturelle Teilhabe der «Outerclass», also der einkommensschwachen Schichten und der Migrantinnen und Migranten: Das sind gemäss Seliger die Symptome. Zwar ist seine Analyse sehr deutschland-lastig; die Verhältnisse hierzulande dürften entschieden besser sein, wovon auch die Texte zur Jugendmusik-Förderung im Saiten-Oktoberheft zeugen.
Dennoch hat es Seligers Idealbild musischer Bildung in sich. Er fordert: Musik- und Kunstunterricht auf allen Stufen, Musikstunden quer durch alle Genres, Instrumentalunterricht für jedes Kind, obligatorische Konzertbesuche, Schulkonzerte mit Profis, Gratismuseen und günstige Tickets für Konzert und Theater («öffentliche Kulturförderung dient nicht der Wirtschaftsförderung, sondern muss sich daran orientieren, Geringverdienern und all jenen, die bisher nicht an der kulturellen Vielfalt partizipieren, Teilhabe zu ermöglichen»), Familien-, Mittags- und Nachtkonzerte zu tiefen Tarifen, eine 25-Prozent-Quote für zeitgenössische Musik in Konzerten und Radioprogrammen, Austausch mit nicht-europäischer Musik, kostenlose Live-Mitschnitte von Konzerten im Netz und schliesslich: mehr Mittel für Musikschulen.
Seliger räumt ein: Einiges passiert da bereits. Zudem: Ein Pflichtfach «Digitalisierung» gehöre genauso dazu wie mehr Musik- und Kunstunterricht. Und natürlich: All diese Massnahmen kosten viel Geld. Aber es handle sich dabei, mit dem Bariton Christian Gerhaher gesprochen, «nicht um Subventionen, sondern um Investitionen».
Soweit die Bildungsoffensive, die Seligers Buch ausruft. Und die Schlacht, die da geschlagen werden soll? Seligers Klassikkampf zielt auf einen Kulturbetrieb, der sich immer noch in weiten Teilen als «Selbstinszenierung des Bildungsbürgertums» verstehe und aufführe. Seliger weist nach: Klassikkonsum ist schichtenspezifisch; je schlechter die Ausbildung, je schlechter das Einkommen, desto seltener gehen Menschen ins klassische Konzert oder in die Oper.
Weiter: Der Klassikbetrieb lebt von aufdringlichem Konzernsponsoring; die Schilderung etwa einer zeitgeistigen Parsifal-Video-Verhunzung im Auftrag von Audi gibt zu denken, ebenso die lapidare Erkenntnis, dass sich «an der Schnittstelle von Sub- und Hochkultur gutes Geld verdienen» lässt. Kaum noch verdient wird dagegen mit Tonträgern – ein weiteres Kapitel in Seligers Analyse der «Systemkrise», in der der Klassikbetrieb stecke. Hinzu kommt die Kanonisierung des Konzert-Repertoires; Zeitgenössisches fällt fast ganz aus den Traktanden, aus «Angst vor Dissonanzen» wird gespielt, was das Publikum schon kennt.
«Die klassische Musik ist eine Erfindung des bürgerlichen Zeitalters, eine Konstruktion der Bourgeoisie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht zufällig parallel zur Konstruktion der Nation entstanden». Ins 21. Jahrhundert übertragen, zementiere sie das Repertoire von damals, verflache es zum «Event», bediene so breite Konsumbedürfnisse und unterwerfe die Schöpfungen von Bach bis Bartok damit den Interessen von Markt, Mehrheitsgeschmack und kommerzieller Verwertbarkeit.
Bei dem Negativbild bleibt es aber nicht. Seliger glaubt an den Wandel. Dass dieser Zeit brauche, zeige sich am Beispiel der Neuen Musik: «Das Publikum, das sich beim heutigen Zustand der Bewusstseinsindustrie für alles andere interessiert als für ‹komplizierte› zeitgenössische Musik, muss immer wieder neu gewonnen und begeistert werden.»
Sein Ansatz geht aber weiter; insgesamt sei ein neuer, widerständiger Begriff von «Klassik» nötig. In einer bemerkenswerten Retrobewegung plädiert Seliger für eine wiederbelebte und geschärfte Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur. Deren Aufweichung sei nicht im Interesse der Kunst und der Gesellschaft, sondern des Markts. «Der Neoliberalismus will keine ernste Kunst, er will Entertainment und Konsumismus, die für Ablenkung sorgen sollen. Insofern betreiben all diejenigen, die leichtfertig das Credo von der Aufhebung der Trennung von E- und U-Musik nachbeten, das Geschäft nicht nur der Kulturindustrie, sondern auch all derer, die nicht wollen, dass wir über die Verhältnisse und deren Verursacher nachdenken und sie vielleicht sogar ändern wollen.»
Erfreuliche Universität im Palace St.Gallen:
17. Oktober, 20.15 Uhr: «Lecture Show» mit Berthold Seliger
31. Oktober, 20.15 Uhr: Zur Lage der Klassik in der Ostschweiz, Podium mit Helena Winkelman, Christian Braun und Florian Scheiber
7. November, 20.15 Uhr: Porträtkonzert Charles Uzor, mit Jeannine Hirzel (Sopran) und Ute Gareis (Klavier)
An zahlreichen Musikbeispielen (nachzuhören auf spotify), mit Blicken über den europäischen Tellerrand hinaus und mit einem ausführlichen Kapitel zu Beethoven macht Seliger Lust darauf, den «rebellischen Kern» der Klassik neu zu entdecken und zu beleben. Und dies gerade auch in den immer wieder gespielten Werken des Kanons. Zum Beispiel in Beethovens Fünfter – deren nicht enden wollende Schlussakkorde hört Seliger mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt als «die Eröffnung einer Zukunft». Und traut den sieben C-Dur-Akkorden kulturoptimistisch zu, dass sie «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» propagieren, gegen Ausbeutung und Rassismus antönen und mit jenem Pathos, das Seligers Klassikkampf eigen ist, verkünden: «Ein anderes Leben ist möglich.»
Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.