, 5. September 2021
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Ein Berg von einer Frau

Gertrud Woker: brillante Naturwissenschaftlerin, international vernetzte Pazifistin, bewegte Frauenrechtlerin – und vielen ein Dorn im Auge. Ein animierter Dokfilm macht sich nun auf die Spuren dieser «vergessenen Heldin».

Bis zu ihrem Tod schreibt sie mehrere Bücher über Massenvernichtungswaffen und deren Auswirkungen auf Mensch und Natur. (Bilder: pd)

Verglichen mit ihrer freien und entdeckungsreichen Vorschulzeit kommt ihr das Klassenzimmer vor wie eine Dressurkoppel. Im Rückblick auf ihr Leben sagt Gertrud Woker einmal: «Dann kam die traurige Zeit, in der ich in die Institution eingespannt wurde, die man Schule nennt. Ich verstand nicht, wieso man stillsitzen musste. Das ging mir vor allem wider die Natur.»

Das Zitat beschreibt Gertrud Wokers Lebenshaltung ziemlich gut. Stillsitzen liegt ihr bis ins hohe Erwachsenenalter nicht, stillsein erst recht nicht. Sie sieht sich immer als Kämpferin: für die Frauen und für den Frieden. Der animierte Dokfilm Die Pazifistin von Fabian Chiquet und Matthias Affolter zeigt das eindrücklich. Er ruft aber auch in Erinnerung, mit welch perfiden Methoden bewegte Frauen früher aktiv verhindert und diskriminiert worden sind. Und wie manipulierbar Familiengeschichte ist.

Summa cum laude – bis es um die Frauenrechte geht

Gertrud Johanna Woker kommt im Dezember 1878 in Bern auf die Welt und wächst in einer hoch gebildeten Familie auf. Für Puppen und Kleider hat sie nie viel übrig, dafür klettert sie flink auf Bäume oder verliert sich sonstwie in der Natur, in ihrem Tun stets mütterlich und grossmütterlich unterstützt, auch wenn der Vater sie lieber am Herd und im, wie Woker es nannte, «Besenpensionat» sieht. «Von frühester Kindheit an hat mich nichts so sehr gekränkt wie die Zurücksetzung meines Geschlechts», so ihr Fazit.

Woker als Kind am Thunersee

Den Institutionen Ehe und Kirche kann sie ebenso wenig abgewinnen wie der Institution Schule. Ihr Wissensdurst hingegen ist nahezu unstillbar, und so beschliesst sie, sich alleine und heimlich auf die Maturitätsprüfung vorzubereiten. Immer nächtens riecht sie an den «verbotenen Früchten gefährlicher Lektüre» und nimmt dafür, insgeheim lachend über die Sorge der Eltern, auch körperliche Mangelerscheinungen in Kauf.

Matur: Bestnote in allen Fächern. Studium in Bern und Berlin: summa cum laude. Ihre Dissertation über die «Synthese des 3,4 Dioxyflavons»: «meinem Hasen» gewidmet. 1907 ist Gertrud Woker die erste Chemiedozentin in der Schweiz, ihr Werk über die Katalyse bald Standard. Sie wird ernstgenommen – bis sie sich politisch zu engagieren beginnt. Mit ihrer Frauenverbindung fordert sie bereits 1917 gleichen Lohn für gleiche Arbeit, ausserdem ist sie aktiv in der Frauenstimmrechtsbewegung. Dafür habe man sie zunehmend belächelt, erklärt die Historikerin Franziska Rogger im Film.

Trotzdem gesteht man Woker ein Forschungslabor samt Assistentinnen zu – mehr aber auch nicht. Ihre unzähligen Gesuche um Beförderungen, weitere finanzielle Mittel und mehr Lehrbefugnisse: allesamt abgelehnt. Die respektable Wissenschaftlerin, die so gerne an der Spitze der Forschung tätig gewesen wäre, muss sich schliesslich mit einer schlecht bezahlten Professur für Naturwissenschaftsgeschichte zufriedengeben. Ein Gebiet, das sich vor allem um Errungenschaften von Männern dreht.

Die Befreiung der «Sklaven des Militarismus»

Ihr Engagement für die Frauen geht Hand in Hand mit ihrem Engagement für den Frieden. Während die Männer im Ersten Weltkrieg zu den Waffen rufen, kämpft Gertrud Woker mit Flugblättern gegen die Kampfgase und für die Verantwortung der Wissenschaft. Bis zu ihrem Tod schreibt sie mehrere Bücher über Giftgase, Massenvernichtungswaffen und deren Auswirkungen auf Mensch und Natur.

1915 gründet Woker die spätere Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) mit, ein Zusammenschluss von Pazifistinnen aus dutzenden Ländern, die die weltweite Abrüstung fordern. Das Mittel der Wahl: Aufklärung. Woker und ihre Mitstreiterinnen sind überzeugt, «die Sklaven des Militarismus» mittels Vorträgen und Kundgebungen befreien zu können. 1924 chartert die internationale Frauenliga den Zug «Pax Special» für eine grosse Aufklärungstour und fährt damit quer durch Amerika und Kanada. Woker ist mit an Bord.

1924 mit der internationalen Frauenliga in New York

Die Reaktionen der verängstigen Machmänner lassen natürlich nicht lange auf sich warten. Diese Ligafrauen seien «offensichtlich in überreizter seelischer Verfassung», steht in den Zeitungen, und ihre gemeinsame Zugreise diene nur dazu, «ihre Nervenanspannung abzubauen». Man könne gar nicht anders, als diese Frauen als «geisteskrank» zu bezeichnen, am besten sei es, der Pax Special würde «entgleisen».

Diskriminierende Diagnosen

Gertrud Woker lässt sich davon nicht einschüchtern, erst recht nicht zum Schweigen bringen, auch wenn sie die Anwürfe nicht kalt lassen. Besonders hart für sie wird es ein Jahr später in Morristown, wo sie in Molekularbiologie forscht. Intrigen, Verleumdung, falsche Denunziation: Mann lässt nichts aus, um sie loszuwerden. Besonders bitter: Damit ist sie keineswegs allein. Viele ihrer Mitstreiterinnen berichten von ähnlichen Erlebnissen.

Die Pazifistin Gertrud Woker: Eine vergessene Heldin: ab 8. September im Kino

8. September: Premiere mit den Filmemachern Fabian Chiquet und Matthias Affolter, Kinok St.Gallen

13. September, 18.30 Uhr: Vorstellung mit Helena Nyberg, Kino Center Chur

18. September, 20 Uhr: Vorstellung mit Protagonistin Franziska Rogger, Kino Luna Frauenfeld

Politisch aufmüpfige Menschen mit perfiden Vorwürfen zu diskriminieren, ist bis heute eine beliebte Strategie der Herrschenden. Gertrud Woker hat nie aufgegeben, aber sie hat für ihr politisches Engagement einen hohen Preis gezahlt. Nicht nur ihre wissenschaftliche Karriere wurde aktiv verhindert, auch ihr Privatleben litt. Historikerin Gerit von Leitner zitiert im Film einige «Diagnosen», die man Woker in späteren Jahren angehängt hat: «unverständliche Weltfremdheit», «krankhafte Ideen», «Verfolgungswahn».

Selbst nach ihrem Tod ist es vor allem das, was bleibt: Über «Tante Trudi» wurde immer gesagt, dass sie «nicht ganz klar im Kopf» gewesen sei, erzählt Grossneffe Martin Woker im Film, schliesslich habe sie US-Präsident Kennedy einmal einen Brief gegen den Krieg geschrieben, das sei ja Beweis genug. Heute bedauert er es, sie nie kennengelernt zu haben, «diese historische Persönlichkeit».

Mit seinen zwei Brüdern sitzt Martin Woker vor Gertruds ehemaligem Haus in Merlingen am Thunersee, das sie geerbt haben. Am andern Ufer türmt sich der Niesen auf, stabil wie Gertruds Überzeugungen. Fast etwas fassungslos diskutieren die Drei darüber, was ihre Grosstante Prof. Dr. Woker alles geleistet hat und wie gross auch ihr internationaler Einfluss gewesen ist. Der Kennedy-Brief hat für sie heute eine andere Bedeutung.

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