, 25. April 2018
keine Kommentare

Dürfen wir uns gemeinsam fürchten?

Die Inszenierung von George Taboris Farce «Mein Kampf» am Konstanzer Stadttheater sorgte für grosses Aufsehen in den Medien. Die Idee einer Freikarte beim Tragen eines Hakenkreuzes löste eine Debatte aus, ebenso das Premierendatum am 20. April. Im Gespräch mit der Sozial- und Kulturanthropologin Andrea Zielinski erhielt sie einen anderen Blick auf die Dinge.

Bild: Ilja Mess, Theater Konstanz

Saiten: Frau Zielinski, würden Sie zu Beginn kurz erzählen, wer Sie sind und was Sie nach Konstanz verschlägt?

Andrea Zielinski: Ursprünglich komme ich aus Hamburg, wo ich einen Grossteil meines Studiums absolvierte. Ich bin Konfliktforscherin mit dem Fokus Religion und Politik in Gesellschaften des Umbruchs. Bevor ich nach Konstanz kam, habe ich vier Jahre am Londoner Institute of Commonwealth Studies verbracht. Konstanz ist meine nun über ein Jahr währende Erholung von der schlechten Luft, mein «Zauberberg». Anthropologen sind aber im Dienst, wie Sie gleich sehen werden.

Und als solche erleben Sie hier in der Provinz ein Stück, das es im Vorfeld sogar bis in die «New York Times» geschafft hat…

Nur leider nicht mit der für die «Times» sonst so zuverlässigen Recherche. Bei gewissen Symbolen sind einfach alle gleich bei drei auf dem Baum und schreien. Die Idee mit den Hakenkreuzbinden hat einen Diskurs ausgelöst, der dringend notwendig ist.

Lassen Sie uns doch durch die verschiedenen Ebenen der Inszenierung gehen. Inhaltlich wird das Stück ja in den Medien recht knapp besprochen. Die meisten Schlagzeilen machen die Hakenkreuze.

Ja, es wird Zeit, dass das Stück raus aus der Nachrichtensparte und rein ins Feuilleton kommt. Die Diskussion drum herum ist aber nicht überflüssig. Kein Diskurs wird jemals geführt, wenn er nicht notwendig ist! Das zu zeigen, ist Somuncu mit diesem Kunstgriff vorab gelungen. Er hat die Frage in den Raum geworfen, ob in Deutschland nun die Gesamtgesellschaft nach dem Nationalsozialismus gemeinsam um verlorene Menschenleben, Moral, Kunst und Wissen trauert oder ob sie es immer noch getrennt tut.

Dr. Andrea Zielinski spricht auch auf dem Glaubenskongress am 27. Mai im Theater in der Spiegelhalle Konstanz.

Somuncus Gesellschaftsbild ist inklusiv: Alle werden gleich beschimpft. Damit entsteht die Forderung, dass alle Gruppen sich gleichermassen angesprochen fühlen und sich Zugang zur gesellschaftlichen Gestaltung verschaffen sollen. Beispielsweise müssen sich Juden heutzutage fragen, ob sie ein gestalterischer Teil der Gesellschaft sein wollen oder ob sie sich reduzieren lassen auf ihre Opfer- und Mahnerrolle. Durch die aktuellen Bezüge in der Inszenierung von Mein Kampf sowie die verschiedenen sprachlichen Akzente im Schlussmonolog des Stückes, stellt sich darüber hinaus die Frage: Sollen, können und dürfen wir uns jetzt endlich gemeinsam vor dem erstarkenden völkischen Denken fürchten, oder soll auch dieses weiterhin in der von der Gesamtgesellschaft zugewiesenen und auch selbst bewirtschafteten Ecke geschehen?

Umso verstörender sind vereinzelte Kommentare von AfDlern und jüdischen Kritikern auf Facebook, die denselben Wortlaut aufweisen.

Die AfD macht bundesweit Werbung, um Juden zum Schulterschluss gegen den Islam zu gewinnen. Blogtexte, in welchen islamophobe Inhalte verbreitet werden, werden Mitgliedern der jüdischen Gemeinschaften zugeliefert. Gleichzeitig gibt es dann den Aufruf, dass man auswandern soll, nach Panama, Israel oder sonst wohin. Der Antisemitismus wird also subtil verbreitet.

Zurück zur Inszenierung. Wie haben Sie Taboris Stück unter Regie von Somuncu erlebt?

Ich habe Tabori gelesen, als das Stück in den 1980er-Jahren uraufgeführt wurde, ich war damals Studentin. Nun habe ich ihn nochmal gelesen und war hingerissen von der Vielschichtigkeit, die sich mir als junge Frau nicht erschlossen hat. Somuncu hat umgesetzt, worum es in dem Stück geht: Liebe, Demut und Demütigung. Und er hat das Stück hervorragend weiter interpretiert: Am Ende erschiesst Gott Hitler, der Jude wird am Hakenkreuz aufgehängt – die Inszenierung ist atemberaubend bis zum Schluss und schauspielerisch grossartig!

Ich habe diese Pathetik stellenweise als Griff in die unterste Niveauschublade empfunden. Der Jude am Hakenkreuz, Hitler zu Helene Fischer tanzend, Lobkowitz, der sich für Gott hält, als Donald Trump verkleidet – das hat man doch nur verstanden, wenn man das Stück gelesen hat.

Lobkowitz ist Koscherkoch, der bei Tabori irgendwann Fleisch mit Schmelzkäse vermischt und damit beginnt, die eigenen Gesetze zu brechen. Zusammen mit seinen Allmachtsfantasien passt Trump doch hervorragend zu diesem Charakter! Er stutzt seinen Freund Schlomo immer wieder zurecht. Dieser übt sich in Demut und wird gedemütigt. Nicht nur von Hitler, auch von Gott.

Eigentlich aber geht es in dem Stück um die Liebe. Die reine Liebe von Schlomo zu Gretchen, die sich abkehrt und Hitler in die Arme wirft. Hitler, dem Würgeengel. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Ist der jüdische Gott omnipotent und omnipräsent? Und ebenso wichtig: Macht Gott Gebrauch davon, wenn es hart auf hart kommt? Sagt Ihnen Schir Haschirim etwas? Das Hohelied der Liebe?

Das biblische Liebesgedicht?

Ja, in der christlichen Lesart ist es das. Durch das Konstrukt der Erbsünde fallen Gottesliebe und Erotik im Christentum weit auseinander. In der jüdischen Tradition hingegen sind die Gottesliebe und die körperliche Liebe sehr verwandt. Liebe kann das eine sein, und gleichzeitig das andere – die beiden Konzepte liegen nah beieinander. So gibt es beispielsweise Bücher zum Thema Koscherer Sex. Viele Yogastudios und Kamasutratheorien verweisen auf das Hohelied auf ihren Internetseite.

Was beinhaltet «Koscherer Sex»?

Es geht beispielsweise darum, dass die Frau auch ein Recht auf Befriedigung hat. Will ein Mann lange auf Reisen gehen, muss er seine Frau zuvor um Erlaubnis fragen, da er für ihre Lust verantwortlich ist. Es geht um Hingabe. Und das hat Somuncu in dieser Inszenierung in der ganzen Tiefe herausgeholt. Schauen Sie sich doch den Helene Fischer-Text an: «Wir sind heute ewig, tausend Glücksgefühle. Alles was ich bin, teil‘ ich mit Dir. Wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich. Komm nimm‘ meine Hand und geh‘ mit mir. Atemlos…» – das ist das Hohelied! Das Liebesverhältnis des jüdischen Gottes zu seinem Volk. Es bedarf einer guten Vorbereitung, um die ganzen Zitate zu verstehen, die Somuncu in das Original eingebaut hat.

Musste es trotzdem der schwarze Riesendildo sein? Und das geschlachtete Flüchtlingskind?

Naja, also da wurde keine Etikette gezeigt, das ist schon klar. Aber die Übersetzung von Schlomos Huhn Mitzi zum Flüchtlingsbaby Ali zeigt die Skrupellosigkeit, die in uns allen steckt: der Hitler. Das ist der alte, in diesem Fall europäische Kolonialismus, an dem sich Hitler bediente. Rassistisches Denken, das die unterschiedliche Wertigkeit menschlichen Lebens impliziert.

Ist dieser Shitstorm auf das Theater eine Antwort auf den «Hitler in Konstanz»?

Konstanz ist in diesem Fall nur der Austragungsort, das Brennglas der Gesellschaft. Somuncu hat den Inhalt des Stückes nicht nur von der Bühne an die Kasse, sondern auch zeitlich vor die Premiere gelegt. Ähnlich wie beim Hamburger Jedermann handelt es sich um den Konstanzer Mein Kampf. Dem Regisseur kann man an dieser Stelle keinen Vorwurf machen. Er kommt speziell für seine Arbeit und verlässt den Ort wieder, sobald diese getan ist. Das Theater jedoch hätte sensibler mit der lokal praktizierten Erinnerungskultur, ihrer Ausgestaltung und Pflege, getragen von speziellen Persönlichkeiten, eingehen können. Und diese Protagonisten der Erinnerungskultur haben sich dann auch zu Wort gemeldet. Es handelt sich lokal um die erste und zweite Generation nach der Schoah und einen jungen Geschichtswissenschaftler.

Man muss wissen, dass es zwei Fragen sind, die die jüdische Existenz nach der Schoah bedrängen: Warum hat Gott dies zugelassen? Und warum habe ich/haben meine Eltern überlebt? Daher sind die meisten Juden heute Agnostiker. Die erste und zweite Opfergeneration kann sich schon rein kognitiv nicht auf das Tragen eines Hakenkreuzes oder Davidsterns einlassen. Das hätte das Theater Konstanz von der hier praktizierten Erinnerungskultur ableiten können und im Vorhinein den dritten Weg der Neutralität anbieten müssen.

Was wäre denn eine Alternative gewesen zu Hakenkreuz und Davidstern?

Ein Buffet mit Symbolen! Es gab ja neben den Juden eine Vielfalt an weiteren NS-Opfern: Sinti und Roma, Sozialdemokraten, Kommunisten, Homosexuelle, Menschen mit Handicap – und jede Menge Symbole von NS-Bünden. Da hätte man sich doch ein entsprechendes Symbol aussuchen können. Und natürlich neutrale Symbole. Jeder wäre auf sich selbst zurückgeworfen worden. Somit wäre auch der Aspekt der persönlichen Positionierung, die Somuncu fordert, umgesetzt gewesen.

Warum gab es Ihrer Meinung nach schlussendlich doch keine Hakenkreuzarmbinden und keine Davidsterne am Einlass?

Ganz einfach: Weil es nicht mehr notwendig war. Die Diskussion darum hat im Vorfeld stattgefunden. Übrigens hatte sich niemand beschwert, dass die bezahlte Eintrittskarte mit einem Judenstern gelabelt wird.

Was ziehen Sie als Sozialanthropologin für Schlüsse aus dem öffentlichen Diskurs?

Zunachst einmal finden wir uns hier in einer so genannten Border-Culture wieder, einer Gesellschaft an einer Grenze. Diese Gesellschaften sind immer konservativ, bewahrend, ja auch verharrend. Dazu haben wir es mit einem handfesten Generationenkonflikt um die Deutungshoheit und die gestalterische Ausformung der gegenwärtigen Erinnerungskultur zu tun. Und dieser Konflikt betrifft – daher das Presseecho und der Shitstorm – die gesamte Bundesrepublik. Es ist eine Frage nach der Erinnerungskultur, jetzt 70 Jahre nach dem Krieg, wo die letzten Zeugen auf beiden Seiten sterben. Dieses trifft natürlich auch die jüdischen Gemeinschaften, deren junge Mitglieder und auch Zuwanderer aus den ehemaligen GUS-Staaten sich nicht mehr auf die Opfer- und Mahnerrolle reduzieren lassen wollen. Es ist also eine Bruchstelle in der Fortführung einer Tradition. Daher stellt sich die Frage, wie es in Zukunft weitergehen soll. Wie wird die Erinnerungskultur aussehen?

Wir haben in der Schulzeit sehr viel Erinnerungskultur erlebt. Ich habe vor mehr als zehn Jahren Abitur gemacht und wir hatten in jedem Schuljahr Pflichtlektüren aus der NS-Zeit. Das konnte schon keiner mehr hören. Bei der Besichtigung eines KZs herrschte eine typische Klassenausflugatmosphäre – von Betroffenheit war wenig zu spüren. Was ist da falsch gelaufen?

Nichts, da ist alles richtig gelaufen. Ihre Generation ist übersättigt von der Beschämung. Junge Leute haben kein Interesse daran, da es sie nicht mehr persönlich betrifft. Da muss ein anderes Verständnis geschaffen werden. Es gibt in Deutschland keine homogene Schülerschaft mehr, die Klassen sind pluralistisch und bei den vielen Migranten stellt sich die Frage: Warum sollten sie die Rolle der Beschämten ausfüllen?

Ist meine Generation mit 30, oder sind die jüngeren, 20-Jährigen denn nicht mehr von der Historie Deutschlands betroffen?

Doch, definitiv. Es gibt keine Abschwächung der Traumata. Nur der persönliche Bezugspunkt ändert sich. Generationen, die nicht persönlich erlebt haben, was in der Zeit des Nationalsozialismus passiert ist, haben natürlich keine Flashbacks. Aber das Lebensgefühl, das Vertrauen in die nachkommende Generation und auch der Umgang mit dem eigenen Körper, mit der Würde und Unversehrtheit der abhängigen Menschen, bleiben in dieser jungen Generation gestört. Und das wurde hervorragend in Somuncus Inszenierung aufgegriffen: das Gefühl des Pessimismus in die Lernfähigkeit der Menschen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit 30 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!