, 1. Februar 2020
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«Du hattest kein Zuhause, du konntest nirgendwohin»

Durch seine Arbeit kam der Fotograf Peter Klaunzer mit ehemaligen Verding- und Heimkindern in Berührung. Bewegt durch ihre Geschichte, portraitierte er in zwei Jahren mehr als zwei Dutzend von ihnen. Die Portraits sind im Küefer-Martis-Huus in Ruggell zu sehen. von Anita Grüneis

Die Ausstellung in Ruggell. (Bild: Nicolaj Georgiev)

Bevor Peter Klaunzer die ehemaligen Verdingkinder fotografierte, besuchte er sie und hörte ihnen zu. Die 28 Portraitierten erzählten ihm vieles aus ihrer Vergangenheit – vieles aber auch nicht, weil es immer noch zu schmerzhaft ist oder weil sie bis heute keine Worte dafür finden. Manchmal fuhr er mit ihnen auch an Tatorte – Wälder oder Häuser, in denen einige von ihnen vergewaltigt und missbraucht wurden. «Ich war teilweise schockiert, denn es waren Horrorgeschichten und jede einzelne wäre ein Film für sich», sagt Peter Klaunzer.

Verzeihen ja, vergessen nicht

«Du hattest kein Zuhause, du konntest nirgendwohin», sagt die heute 82-jährige Rita Soltermann über ihr Schicksal. Sie war die zweitälteste von vier Kindern. Als ihr Vater starb, war sie fünf Jahre alt. Der Stiefvater mochte die Kinder nicht und verlangte von der Vormundschaftsbehörde eine Fremdplatzierung, die auch prompt erfolgte. Jedes Kind bekam einen anderen Platz.

«Verzeihen ja, vergessen nicht!!!», sagt der 72-jährige Hubert Meyer zu dem, was ihm von katholischen Priestern und anderen angetan wurde. Vergewaltigt, geschlagen, ins Gefängnis gesteckt, dort wieder missbraucht, in die Psychiatrie gebracht, hat er sein Leben trotzdem in den Griff bekommen.

Verdingkinder – Portraits von Peter Klaunzer: bis 26. April, Küefer-Martis-Huus Ruggell FL

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Flüchtlinge im eigenen Land

Es sind grauenhafte Schicksale von Schweizer Kindern, die sich nichts zuschulden kommen liessen – ihre Eltern waren arm, geschieden, arbeitslos oder sie hatten zu viele Kinder. Das war Grund genug für Behörden und Kirchen, um einzugreifen. Hunderttausende wurden damals zu rechtlosen Flüchtlingen im eigenen Land. Niemand glaubte ihnen, sie waren nichts wert. Bis weit in die 70er-Jahre wurden sie ausgebeutet und misshandelt. In den letzten Jahren hat eine Unabhängige Expertenkommission die Geschichte der sogenannten Administrativen Versorgungen aufgearbeitet, mehr dazu hier, zum Theaterstück Verminte Seelen hier und zum Kanton St.Gallen hier.

Die Ausstellung zeigt Gesichter von Menschen, die von diesem Leben geprägt sind. Und dennoch: Ihre Augen sind klar, ohne Vorwurf. Sie wirken wie ein Spiegel. Manche lächeln sogar, als wollten sie sagen: «Ich habs trotzdem geschafft. Ich lass mich nicht unterkriegen. Ich bin ein Mensch wie du auch. Und die Würde jedes Menschen ist unantastbar.»

Fritz Propst. (Bild: Peter Klaunzer)

Jedes Portrait ist mit einem Statement an einer Stellwand befestigt, dazu gibt eine kurze Biografie Auskunft über die Eckdaten der jeweiligen Person. Die Texte entstanden in Gesprächen mit den Betroffenen, die Walter Zwahlen, Präsident und Geschäftsführer des Vereins Netzwerk-Verdingt, führte.

«Es braucht Unabhängige, die sich um diese Schicksale kümmern»

Der Fotograf Peter Klaunzer, 1967 in Ruggell geboren, absolvierte eine Ausbildung zum Programmierer und Wirtschaftsinformatiker. Seit 2006 ist er Agentur-Fotograf bei Keystone in Bern. 2018 begleitete er Bundespräsident Alain Berset ein Jahr lang. Dabei entstand jenes Foto, das durch die Medien ging: Es zeigt Alain Berset in New York, auf dem Trottoir sitzend, in Papieren lesend mit einem Stift in der Hand.

Menschen interessieren Peter Klaunzer. Als er 2014 bei der Initiativen-Einreichung ehemalige Verdingkinder fotografierte, sah er den Menschen ins Gesicht. Sie waren interessanter als die Unterschriften.

Walter Zwahlen besuchte im Oktober 2007 eine Lesung der Selbsthilfeorganisation von ehemaligen Verding-Kindern und konnte kaum fassen, dass all das in der Schweiz geschehen war. Gemeinsam mit der Selbsthilfegruppe gründete er im Juli 2008 den Verein Netzwerk-Verdingt. Die gut 40 Mitglieder sind, abgesehen von ihm selbst, alles ehemalige Verdingkinder. «Heute sind noch ca. 10’000 Verdingkinder am Leben», schätzt er und meint: «Es braucht Unabhängige, die sich um diese Schicksale kümmern, ob Verding- oder Heimkinder, Jenische oder andere Ausgebeutete.»

Uschi Waser. (Bild: Peter Klaunzer)

Die Fotoausstellung entstand in Zusammenarbeit von Keystone-SDA, dem Verein netzwerk-verdingt und dem Küefer-Martis-Huus. Angereichert wird sie durch ein umfangreiches Beiprogramm zum Thema «Verdingen». Walter Zwahlen hat für die Ausstellung vier weitere Orte im Visier, die Ostschweiz ist (noch) nicht dabei.

Begleitprogramm:

  • 12. Februar, 19:30 Uhr: Robert Schneider liest aus seinen Büchern Die Unberührten und Schlafes Bruder
  • 27. Februar, 19:30 Uhr: Armin Leuenberger Rita Soltermann und Uschi Waser sprechen über ihre Schicksale als Verdingkinder
  • 3. März, 19:30 Uhr: «Geprägt fürs Leben – Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen als Teil behördlicher Fürsorgepolitik» mit der Historikerin Loretta Seglias
  • 25. März, 19:30 Uhr: Emilia Hassler liest aus ihrem Buch Fluri. Verdinggeschichten eines Bergbuben
  • 1. April, 19:30 Uhr: Spielfilm Der Verdingbub von Markus Imboden
  • 23. April 19.30 Uhr: Themenabend «Kinderheime, Kinderfürsorge, Jugendwohlfahrt und Zwangsmassnahmen in der Schweiz, in Liechtenstein und in Österreich», mit Thomas Huonker, Manuela Nipp und Horst Schreiber. Moderation: David-Johannes Buj Reitze

 

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