, 11. Oktober 2019
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«Dort wo ich war, fotografierte niemand anderes»

Der Fotograf Meinrad Schade fotografiert im neusten Abschnitt seines Langzeitprojekts «Krieg ohne Krieg» den Alltag der Menschen inmitten des Israel-Palästina-Konflikts. Seine Bilder zeigte er beim dritten «Artist Talk» des Hauses zur Ameise letzten Dienstag im Palace. von Andri Bösch

Bilder: Meinrad Schade

«Der Auslöser für mein Projekt Krieg ohne Krieg war ein Besuch vor bald 20 Jahren im Museum zum grossen Vaterländischen Krieg», erzählt Meinrad Schade an seinem Vortrag im Palace, zu dem das «Haus zur Ameise» eingeladen hat. Der 51-jährige bereiste damals mit seiner Partnerin die Ukraine für ein Fotoprojekt über Museen der Sowjetunion.

«Grosser Vaterländischer Krieg», so nennt sich dort der Zweite Weltkrieg bis heute. «Dieses Museum ist eines der beliebtesten in Kiew, vielleicht sogar in der ganzen Ukraine. Ich finde es absurd, dass ein Krieg, der über 70 Jahre zurück liegt, noch immer derartig Menschen zu mobilisieren weiss», sagt Schade.

Dieses Erlebnis warf für den selbstständigen Fotografen viele Fragen auf: Wann ist ein Krieg vorbei? Kann ein Krieg als «beendet» bezeichnet werden, wenn seine Spuren noch dermassen stark in der Gegenwart manifestiert sind? Wann beginnt ein Krieg und was passiert neben einem Krieg? Diese Fragen wurden zur Basis für Schades Langzeitprojekt «Krieg ohne Krieg», welches, wie er selbst sagt, zu einem Lebenswerk zu werden «drohe».

«Nebenschauplätze»

Seit 2003 reist Meinrad Schade in unregelmässigen Abständen zu Orten, die mit Krieg zu tun haben. Dazu gehörten das ehemalige Stalingrad, Nagorno-Karabakh – ein Land zwischen Armenien und Aserbaidschan, das von kaum einem Staat anerkannt ist –, Kasachstan, die Ukraine und Russland.

Das Palace St.Gallen ist am Dienstagabend gut gefüllt, um die 50 Leute sitzen in den alten Kinosesseln. Sie alle wollen mehr wissen über das neuste Projekt «Unresolved – ungelöst», welches den Konflikt zwischen Israel und Palästina thematisiert.

Schade zögerte lange, ob er sich wirklich ins geheiligte Land aufmachen sollte, denn die dortige Situation gilt als eine der am besten dokumentierten überhaupt. «Was kann ich dem allem noch hinzufügen?», fragte er sich. «Schlussendlich entschied ich mich trotz aller Bedenken, dorthin zu gehen. Ich wollte wissen, wie sich der Konflikt in die Gesellschaft, in die Landschaft, in den Alltag einschreibt.»

Schades Bilder entsprechen kaum dem, was man sich unter gewohnter Kriegsfotografie vorstellt. Er sucht weder das Spektakuläre noch das Schockierende. Aktive Kriegshandlungen, Explosionen, die ganze Grausamkeit von Kriegen bleiben verborgen, entstehen nur im Kopf der Betrachtenden.

Beispielsweise dann, wenn Schade einen Raum voller palästinensischer Frauen fotografiert, die um einen vom israelischen Militär erschossenen Sohn trauern. Oder im Bild einer Familie, die um den Sarg eines israelischen Soldaten steht, der von Palästinensern getötet wurde. Für Schade geht es um die Nebenschauplätze, um das wenig Sichtbare.

«Dort wo ich war, fotografierte niemand anderes», sagt er. «Das ist mein Konzept, das Prinzip der Nebenschauplätze, denn das, worum es mir geht, zeigt sich meines Erachtens nicht in den spektakulären Eruptionen dieses ewigen Konflikts, sondern praktisch immer, Tag für Tag.»

Am liebsten selber nicht dort

Die Fotografien sind durchzogen von Subtilität, offenbaren erst bei genauem Blick oder Erklärung eine viel tiefere Bedeutung. Da ist das Bild eines ausgestopften Löwen in einem Zoo im Gazastreifen, der gestorben ist, weil nicht genug Geld für Futter vorhanden war. Oder eine durch einen Beamer beleuchtete Wand, wo Jugendliche einen Mann abzeichnen, den sie für einen Märtyrer halten. Oder das Bild einer israelischen Wohnsiedlung, welche gar keine ist, sondern das 3D-Modell eines palästinensischen Wohnprojekts für den Mittelstand.

«Für mich ist das ein Sinnbild dafür, dass der Traum des ‹normalen› Lebens auf beiden Seiten der Konfliktlinien sehr ähnlich aussieht», sagt Schade.

«Ich hatte durchaus immer wieder Momente, wo ich mich fragte, was ich überhaupt da mache. Es lässt sich sicher fragen, was ich als einigermassen wohlhabender Schweizer in so einem Gebiet verloren habe», antwortet Schade auf die erste Frage nach seinem Vortrag. «Und manchmal gibt es auch Situationen, die so absurd sind, dass ich im Moment jeweils am liebsten nicht dort wäre.»

Der bekannte Fotograf wirft viele Fragen auf, die Antworten nimmt er nicht vorweg. Er bleibt stets selbstkritisch und lässt vieles offen. Beispielsweise, wenn er sagt, dass er den Israel-Palästina-Konflikt immer wieder neu für sich verhandle. Sein nächstes Projekt ist bereits in Planung: Schade will sich mit der Darstellung von Krieg durch das Medium Film auseinandersetzen.

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