, 29. Juli 2022
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Doppelt amputiert

2014 finden im russischen Sotchi die Paralympics statt – gleichzeitig überfallen Putins Panzer die Krim. Filmemacherin Lesia Kordonets erzählt im Dokfilm «Pushing Boundaries» von den Folgen für die ukrainischen Behindertensportler:innen. Und von einem Land, das es so nicht mehr gibt.

Pararuderer Roman Polyanskyj beim Training. (Bilder: pd)

«Die Welt ist Feuer und Flamme für eine neue grossartige Geschichte», tönt es pathetisch aus den Lautsprechern bei der Eröffnungszeremonie der Winter-Paralympics 2014 im russischen Sotschi. Zur gleichen Stunde besetzen russische Panzer die ukrainische Krim. Die Bilder vom völkerverbindenden Sportanlass und von der völkerrechtswidrigen Annexion sind im Auftakt des Films scharf gegeneinander geschnitten.

Aus der erträumten «grossartigen Geschichte» wird für die ukrainische Delegation der Paralympics mit der Annexion eine Leidensgeschichte. Nicht lange zuvor hatte der staatliche Behindertensportverband auf der Krim eine hochmoderne Trainingsanlage gebaut und damit die Sportler:innen beflügelt: 2012 an den Sommerspielen in London holt die Ukraine insgesamt 84 Medaillen. Jetzt ist der Zugang zum Trainingscenter verunmöglicht – und damit auch die Teilnahme am nächsten Weltturnier, den Paralympics in Rio 2016, in Frage gestellt.

Wettkampf und Alltagskampf

Das ist der Hintergrund, vor dem die in der Schweiz lebende ukrainische Filmemacherin Lesia Kordonets ihren Dokumentarfilm Pushing Boundaries entwickelt. Sie begleitet eine Auswahl der ukrainischen Profisportler:innen, allen voran Angelika Churkina, die Kapitänin der Sitzvolleyballerinnen, den Gewichtheber Anton Kriukov und die Pararuderer Roman Polyanskyj und Alla Lysenko.

Das Team der Sitzvolleyballerinnen (oben) und Alla beim Training.

Mit dem Verlust des Trainingscenters wird für sie alles anders. Alla trainiert mit ihrem Rollstuhl jetzt auf dem Mittelstreifen einer Autostrasse, bedrängt von Trucks, die unablässig an ihr vorbeibrausen. Die Volleyballerinnen finden in einem Konservatorium in Dnipro im Keller mehr schlechte als rechte Trainingsräume. Roman muss aus seiner Heimat nach Odessa flüchten und wird als «Binnenflüchtling» im Land herumgeschoben. Es gehe um mehr als um sportliche Ziele, nämlich um ein «Lebens-Diplom», sagt er einmal.

Anton hält in Mariupol durch mit seinem kleinen Sohn und der Hoffnung auf eine Medaille, die mehr als ein Stück Metall ist: Wer siegt, bekommt Stipendien, kann auf eine Wohnung hoffen, hat im noch sehr sowjetisch anmutenden Hochleistungs-Sportbetrieb der Ukraine gesellschaftliche Aufstiegschancen.

Pararuderer Roman.

Vorläufig und im Film dominant sind jedoch die postsowjetischen Problemzonen: marode Gebäude, schlechte Ausrüstung, überbordende Bürokratie, enge Lifte, in die kein Rollstuhl passt, Armut – und ein oft verzweifelt anmutendes Prinzip Hoffnung: Das geht vorbei, dieser Krieg ist ein schlechter Scherz, er kann einfach nicht sein. «Herrscht überhaupt noch Krieg?», fragt an einem trinkseligen Abend eine Frau. Nein, Nachrichten schaue sie nicht.

Regisseurin Lesia Kordonets liefert, mit der Kamera stets nah an ihren Hauptfiguren, so auch ein Sittenbild des ukrainischen Alltags der letzten paar Jahre abseits der öffentlichen Wahrnehmung.

Krim, an der ukrainisch-russischen Grenze.

Der Film tut weh, in mehrfacher Hinsicht.

Da sind Menschen, die nicht nur ihre körperliche Beeinträchtigung mit ungeheurer Anstrengung überwinden müssen, sondern denen zusätzlich ihr Land amputiert wird. Und deren so schon hürdenreicher Alltag durch den Krieg und die Angst zusätzlich erschwert wird.

Und da hoffen – der Film kam 2021 heraus, ein Jahr vor dem Krieg – alle noch auf ein friedliches Ende, noch sind die Städte, Mariupol, Simferopol, Dnipro intakt, noch wird am Schwarzen Meer gebadet. Und noch kämpft Valeriy Sushkevich, der Präsident des paralympischen Nationalteams, im Rollstuhl verbissen um den Wieder-Zugang zu «seinem» Trainingscenter auf der Krim. Man fühlt sich permanent und wörtlich «im falschen Film»: Will sich nicht ausdenken, welche Verheerungen das Land seit dem 24. Februar durchmacht.

Die Realität überholt die Fiktion

Pushing Boundaries, Lesia Kordonets‘ Abschlussfilm an der ZHdK, ist ein Dokument, in dem die Realität immer wieder groteske Züge annimmt. Beim Qualifikationsturnier der Volleyballerinnen für Rio treffen in Slowenien im Endspiel ausgerechnet die Ukraine und Russland aufeinander – nach vier Sätzen steht es 2:2, am Ende siegen die Ukrainerinnen. Oder: Als Alla nach einem Training im Auto picknickt, tönt aus dem Radio ein Schlager mit dem Refrain «Sve budet choroscho»: «Alles wird gut».

Pushing Boundaries: ab heute im Kinok St.Gallen.

Währenddessen schnürt sich die Schlinge immer enger um die Sportler:innen: Angelika, die in der Krim wohnt, muss jetzt für ihre Heimatregion eine russische Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Im Donbass werden Häuser zerbombt. Zäune, Checkpoints, Kontrollen nehmen überhand. Und das Trainingscenter scheint unwiederbringlich verloren – hier trainiert jetzt Russland.

Ein Happyend gibt es immerhin für Roman: Der Pararuderer holt in Rio Gold und kann die fortschreitende Krankheit, an der er leidet, in Schach halten.

«Grenzen verschieben»: Was als idealistischer Slogan der Paralympics beginnt, endet in der politischen Katastrophe des Überfalls auf die Ukraine. Entsprechend schwer hält es im Kriegsjahr 2022, an die Devise des ukrainischen Behindertensports zu glauben, die im Film immer wieder beschworen wird: «Das Unmögliche ist möglich».

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