Doping für die Verlierer

Es gibt bessere Sätze, einen Film anzukündigen, als diesen: Neuland ist ein Dokumentarfilm über eine Basler Integrationsklasse. Das tönt nach Pflichtstoff für Pädagoginnen oder Pädagogen, die in urbanen Schulquartieren ihr Geld verdienen. Und genau das ist Neuland. Wieso der Film aber auch wie eine Art Doping für die Abstimmungsverlierer vom 9. Februar funktioniert, ist gar nicht so einfach zu erklären. Vielleicht liegt es daran, dass die Regisseurin Anna Thommen und die in St.Gallen aufgewachsene Kamerafrau Gabriela Betschart von ihrem Thema in erster Linie fasziniert waren – und keine pädagogische Absicht damit verknüpften. Möglicherweise auch keine politische.
Das Resultat ist jedenfalls Kino – nicht Schulfernsehen. Es gibt keine Scheu, Emotionen direkt zu zeigen. Die Kamera bleibt beharrlich auf dem Gesicht einer Schülerin, als sie gespannt nachfragt, ob sie eine Lehrstelle bekommt. Der Film funktionierte auch auf der riesigen Leinwand in der Solothurner Reithalle, und zwar so gut, dass Neuland gegen starke Konkurrenz den Publikumspreis gewann. Entscheidend für den Erfolg war aber wohl der Anfangsimpuls der Filmemacherin, hingehen und einfach einmal alles filmen. Dazu: viel Empathie, wenig Kalkül.
Und dann ist es vielleicht doch die Dramaturgie, die ausmacht, dass das Publikum bei der Aufführung an den Filmtagen den verschiedenen Erzählsträngen wie gebannt folgte. Neuland beginnt mit dem ersten Schultag. Die Jugendlichen, die von irgendwoher in Basel gelandet sind, werden in ihre Klasse eingeteilt. Ihr neuer Lehrer Christian Zingg redet überdeutliches Pädagogen-Deutsch und macht erst noch diese abgestandenen Lehrerwitze, dass einem die Schülerinnen und Schüler fast ein bisschen leid tun. Eine weitere Eigenheit von ihm: Er stellt rhetorische Fragen, deren Antwort nur er kennt, und natürlich versteckt sich dahinter eine pädagogische Absicht.
Nazlije und Eshanullah
Im Nachhinein muss man zugeben, dass diese Startminuten wahrscheinlich der Grund waren, wieso man sich danach von der Geschichte einfangen liess: Zuerst erhielt die Skepsis Nahrung, dann begann man, den Erzählsträngen zu folgen und den ersten Eindruck zu korrigieren. Geschildert werden der Schulalltag und die Suche nach einer Lehrstelle – mehr eigentlich nicht.
Im Mittelpunkt stehen ausser in ein, zwei Szenen immer die Jugendlichen. Die Kamera – und damit das Publikum – ist direkt dabei, als Teil der Gruppe. Der Film lässt sich Zeit, einige der Schülerinnen und Schüler näher kennenzulernen und konzentriert sich dann auf zwei von ihnen: Nazlije kommt aus Serbien und würde wohl Lehrerin werden, wenn sie in der Schweiz aufgewachsen wäre. Der verschlossen wirkende Afghane Eshanullah muss die Schule unterbrechen, weil er Schlepperorganisationen einen Kredit von 20’000 Dollar zurückzahlen muss. Sie stehen in ständiger Interaktion mit Christian Zingg, den man als uneitlen Pädagogen kennenlernt, dem es mit beharrlichem Pragmatismus gelingt, das Vertrauen der Jugendlichen zu gewinnen – und es durch alle Krisen hindurch zu behalten. Sein Rezept könnte sein, nie mehr vorzugeben, als er wirklich ist: ein Unterstützer mit begrenzten Möglichkeiten, kein Retter der Welt.
Eine Schweiz mit Kraft
Neuland ist die Masterarbeit von Anna Thommen. Dafür filmten sie und Betschart zwei Jahre lang und sammelten Material. Danach begann die schwierige Arbeit am Schneidetisch. Erst dort wurde die Grundaussage des Films herausgearbeitet. Es ist eine positive. Neuland zeigt die gute Schweiz. Eine, die die Kraft und den Willen hat, Jugendliche aus allen Krisengebieten der Welt aufzunehmen und auszubilden. Die dafür ein System entwickelt hat, das nicht perfekt ist, aber das funktioniert. Und das zu verteidigen sich lohnt. Mehr denn je.
Neuland im Kinok St.Gallen: 2./ 3./ 5./ 7./ 9./ 11./ 13./ 16./ 23. und 27. April.
Am 2. April: Diskussion mit der Regisseurin Anna Thommen, dem Lehrer Christian Zingg und der Kamerafrau Gabriela Betschart. Moderation: Dr. Bettina Grubenmann, FHS St.Gallen.