, 20. Januar 2020
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Don’t Stop the Dance!

Diesen Freitag wird wieder gesteppt bis zum Umfallen. Seit zehn Jahren gibt es die Veranstaltungsreihe «Soul Gallen» im Palace St.Gallen – eine Lobrede. von Florian Vetsch

Wann kam ich wohl das erste Mal ans Soul Gallen im Palace, der Festhütte, die 2006 die Jungen von der Frohegg übernommen hatten? Schwer zu sagen, aber ich besuche diese Tanzveranstaltung, die 2010 ins Leben gerufen wurde, so ziemlich von Beginn an. Anfangs drückte mein Erscheinen das Durchschnittsalter noch spürbar in die Höhe, doch in den Folgejahren durchmischte sich das Publikum immer mehr.

Die jüngsten Stepper zählen heute um die 16 Lenze, die ältesten gehen gegen die 70. Hier gibt es kein Ü40 oder U18. Die soziale Bandbreite reicht von Lehrlingen und Gymnasiastinnen über bürgerlich Situierte bis hin zu alten Freaks. Ich erinnere mich an Abende, an denen Flüchtlinge im Rahmen eines Integrationsprogramms zugegen waren. Die Migrationshintergründe der Tanzenden sind divers, ihre sexuellen Orientierungen spielen keine Rolle. Soul Gallen ist eine integrative Tanzparty sondergleichen.

Das Prinzip der Abende ist einfach und rasch erklärt: Mr. Soul Gallen aka DJ Soulsonic aka Herr Wempe (Klemens Wempe aus Zürich) lädt DJs aus aller Welt ein, und abwechselnd legen sie Schallplatten auf, vornehmlich aus dem unerschöpflichen Fundus der Soul-Musik – der Titel der Veranstaltung ist Programm: St.Gallen soll für eine Nacht zur Soul City werden. Zum Sound werden Ausschnitte aus alten Filmen auf die grosse Vorhangfläche projiziert, Musik- und Tanzvideos, zumal aus den 1950er, -60er, -70er Jahren. Darüber dreht die Discokugel ihre endlosen Runden, den Raum des alten Kinos, in dem weiland Pornos und Actionfilme gezeigt wurden, mit Lichtsplittern übersäend.

Herr Wempe im Element. (Bild: fb)

Zu den von Klemens Wempe eingeladenen DJs zählen, um nur wenige zu nennen, der spirituell befeuerte Soul Rabbi, die Body und Soul erwärmende Miss Brownsugar, Sir Dancealot, der seinem Künstlernamen alle Ehre zu erweisen weiss, DJ Fett, für den dasselbe gilt und der sich nicht untersteht, mitten im Geschehen die Turntables zu verlassen und seine zwei Zentner, mit verzücktem Gesichtsausdruck tänzelnd, durch das Publikum zu schieben.

Musikalisch geht die gespielte Musik – je nach den Vorlieben der eingeladenen DJs – in zahlreiche Richtungen. Die Ursprünge und Auswirkungen der Soul-Musik tauchen im Hörstrom der Jahre auf: Blues, Swing, Bebop, Cool Jazz, Gospel, R’n’B, Rock’n’Roll, Rockabilly, Doo-wop, Pop, Funk, Disco, Hip-Hop, Rap, Vibes aus Afrika, lateinische Rhythmen, Orientalisches, World-Music…

Die Abende, an denen es, neben der soliden Soul-Sause der Vinylisten, auch Live-Musik gibt, zählen zu meinen persönlichen Highlights. Mir unvergesslich: sweet Boogaloo-Darling Brandy Butler and The Fonxionaires oder die New Yorker Neo-Soul-Queen Nicole Willis and The Soul Investigators. Ich erinnere mich, wie das umwerfende Daptone-Duett Saun and Star eine Nummer ohne Mikrofon und musikalische Untermalung durch die Band zum Besten gab – du hättest eine Stecknadel fallen hören. Über einen der Auftritte des legendären Lee Fields im Rahmen der Soul Gallen-Tanznächte habe ich fürs «Tagblatt» vom 26. März 2012 einen Nachklang geschrieben, in welchem es u.a. heisst:

«Aus dem Album My World (2009) bringt Fields alsbald den Hit Ladies. Darin versichert er, dass er alle Frauen liebe, die kleinen, die grossen, die schmalen, die starken, die hellen, die dunklen – ‹all ones›. Fields entpuppt sich als charismatischer Entertainer, wenn er spontan aus dem Publikum eine Frauenstimme zum Mitsingen erweckt. Ist das nicht der Beweis für diesen anderen neuen Titel: I Still Got It? Ausgefuchste Tanzeinlagen weiss der Sänger mit funkensprühendem Charme ebenso einzulegen wie stimulierende Fragen: ‹Are you happy?› Alle schreien. Feuerzeuge gehen an. Das Publikum singt den Refrain von Love Comes and Goes mit. Eine Dame reicht Fields ihren schwarzen BH auf die Bühne…»

So verbindet denn Soul spirituelle mit sexueller Energie. Soul hebt den Dual von Körper und Geist auf. Soul beflügelt und erdet zugleich. Soul macht ganz. Soul heilt. Und Soul ist, nicht zu vergessen, politisch: Diese Songs erzählen einen Teil der Geschichte der afroamerikanischen Selbstermächtigung, zu welcher sie selbst beigetragen haben. Vor allem aber fährt Soul teuflisch in die Knie, gibt dir das Ziehen unter den Füssen, lässt das Becken kreisen, die Schultern rollen, die Arme sich zum imaginären Flug ausbreiten; Soul bringt dich unwiderstehlich zum Tanzen. «Trägt doch der Tänzer sein Ohr – in seinen Zehen.» (Nietzsche)

Und Soul Gallen ist im Begriff, das 10-jährige Bestehen am Freitag, den 24. Januar 2020, zu feiern.

Jessas!

Was verbinde ich nicht alles mit diesen Abenden? Glückliche Stunden mit meiner Frau, unendliches Abtanzen mit meinen Töchtern und ihren Freunden, ekstatisches Drehen, Schreien und Stampfen mit meinen Maturandinnen und Maturanden, heiteres Gleiten über den Dance Floor mit Jugendbekanntschaften…

Ich selbst tauche an den Soul Gallen-Abenden meistens recht pünktlich um 22 Uhr zur Türöffnung auf, lasse mir an der Bar ein grosses Lager zapfen und lausche mich langsam in die eingespielten Rhythmen ein, beginne zu wippen, an meinem Bier nuckelnd, manchmal mit anderen Gästen plaudernd, manchmal ruhig für mich. Derweil brechen die ersten Stepper das Eis. Diesen Moment liebe ich: die Verwandlung der alltäglichen Bewegungen in die nicht-alltäglichen des freien Tanzens. Ich mische mich bald unter sie. Oft verausgabe ich mich dabei im dionysischen Veits-Dienst. Ich erhitze mich dermassen, dass ich mich nach zwei Stunden wie nach einem harten Spinning-Training anfühle, so, als käme ich gerade mitsamt den Kleidern aus der Dusche…

10 Jahre Soul Gallen mit Sanfilippo, Novak & Wempe: 24. Januar, Palace St.Gallen

palace.sg

Nach Mitternacht, wenn die Tanzfläche für meinen Geschmack arg voll wird, trolle ich mich, bachnass in Mantel, Schal und Hut gehüllt, mache mich vom Acker und schnappe das letzte Bähnlein heimwärts… Die getankte Energie hält jeweils noch ein paar Tage an, die innere seelische Lockerung, die psychische Entspannung, die das freie Tanzen, das Befolgen der eigenen motorischen Impulse zum Rhythmus der Musik, hervorgerufen hat: das gute offene Gefühl in der Brust…

Und Mr. Soul Gallen? Klemens Wempe, dessen Sounds schon so manche Lesung von mir und anderen untermalt haben, ist ein lakonisch gestimmter Mensch mit dem Herz auf dem rechten Fleck (dem linken). Er erscheint zu all seinen Sets aufgeräumt: cool, calm and collected, trägt Anzug und Krawatte, auch noch morgens um vier. Er ist bekannt dafür, angespielte Songs stets auszuspielen. Respekt! Beat ist sein Leben. Ihm gebührt ein grosser Dank dafür, dass er nun seit zehn Jahren regelmässig für ein natürliches Hoch – «a natural high» – in der Festhütte zu St.Gallen sorgt. Die Einwohner der Saint Soul City freuen sich auf die nächste Dekade unter Klemens Wempes inspirierender Ägide!

Dieser Beitrag erschien im Januarheft von Saiten.

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