Die zerrissene Generation
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Kurt Mettler wuchs an der Winkelriedstrasse am St.Galler Rosenberg auf, in der Villa Freia, die längst einem Neubau Platz gemacht hat. Er besuchte die Kantonsschule, danach kurz die Handelshochschule und studierte anschliessend Recht in Zürich. Er war ein begabter Cellist und wird zum eifrigen Kunstsammler. Die letzten Monate seines kurzen Lebens ist er Galerist in Paris. Diese Biografie wäre längst vergessen, hätte Mettler nicht einen bis heute von der Familie gehüteten Schatz hinterlassen: Mehrere hundert Seiten Tagebücher aus den Jahren 1927 bis 1930, die nun – ergänzt mit Auszügen aus erhaltenen Briefen und einer kritischen Würdigung – ein mehr als tausend Seiten dickes Buch hergeben.
Kurt Mettler – Tagebücher 1927-1930, hrsg. von André Weibel, Limmat Verlag Zürich 2019, Fr. 59.-
Zu verdanken ist diese Publikation den Nachfahren der Familie Mettler sowie David Streiff, dem früheren Direktor des Filmfestivals Locarno und späteren Direktor des Bundesamts für Kultur. Streiff ist über seine Grossmutter mit der Familie Mettler verwandt. Als ihm 2011 sein Cousin Ruedi Mettler die Tagebücher zu lesen gab, war rasch klar: «Dieser bisher unbekannte Verwandte verdient es, dass sein kurzes Leben dargestellt wird», so Streiff im Vorwort.
Äusserer Glamour, innere Unsicherheit
Die erhaltenen Tagebücher beginnen während der Zürcher Studienzeit. In Einträgen unterschiedlicher Länge schildert Kurt Mettler den Alltag und analysiert damals aktuelle Entwicklungen. So erschreckt ihn der zunehmende Nationalismus, doch mit den Linken hat er trotzdem nichts am Hut. Und wir erfahren viel über das Familienleben, am St.Galler Rosenberg ebenso wie im Ferienhaus auf dem Hirschberg.
Der Sohn aus gutem Haus ist mit 19 zum ersten Mal in Paris, mit 20 bekommen er und sein Zwillingsbruder vom Vater je eine Viertelmillion in Aktien geschenkt. Er startet auf dem St.Galler Breitfeld mit dem Flugzeug einmal nach Genf, das andere Mal nach München. Er ist mit dem schnellen Auto in der ganzen Schweiz unterwegs. Er fährt im Engadin Ski. Kein Wunder, wirkt er oft dandyhaft und altklug. Er ist karrierebesessen, aber rasch auch unsicher und vor allem innerlich zerrissen. Erst spät eröffnet er einem Arzt seine homosexuellen Neigungen. Doch ausleben will er sie nicht, er verschreibt sich Selbstbeherrschung.
Der Historiker André Weibel, der die Tagebücher editiert und mit umfangreichen Recherchen und einer Würdigung ergänzt hat, um damit die Zusammenhänge der Zeit zu beleuchten, stellt den Protagonisten als hübsch und klug, aber spiessbürgerlich verklemmt vor. Die Bedeutung der Aufzeichnungen liegt für Weibel im raren und reichen Einblick in die Sozial- und Mentalitätsgeschichte der bürgerlichen Jugend in der Zwischenkriegszeit.
Dichte Aufzeichnungen
Kaum das Studium abgeschlossen bricht Kurt Mettler zur Reise um die Welt auf. Ein halbes Jahr verbringt er in New York, wo er wie ein Reporter durch die Strassen flaniert, die eleganten Quartiere lobt – und die U-Bahn meidet. Diese Aufzeichnungen haben – so André Weibel – «dichterische Sensibilität». Mettler hat schriftstellerische Ambitionen.
Buchvernissage: 23. Mai, 18.15 Uhr, Stadthaus der Ortsbürgergemeinde St.Gallen, mit André Weibel, David Streiff und Max Lemmenmeier
Die Reise geht weiter über Japan, wo er Erika und Klaus Mann trifft, nach Korea und schliesslich – an einer Amöben-Infektion erkrankt – mit der transsibirischen Eisenbahn durch Russland nach Hause. Die Krankheit wird er offensichtlich nie mehr ganz los, und es stellen sich Depressionen ein. Trotzdem bricht er im März 1929 nach Paris auf, um eine eigene Galerie zu eröffnen.
Weder finanziell noch gesundheitlich kommt Mettler in Paris auf die Beine. Er lebt zwar in einer Luxuswohnung an bester Lage, aber er ist depressiv und kränkelt. Das Geld ist praktisch ausgeben. Im September 1930 bekommt er hohes Fieber, er bestellt die Eltern aus St.Gallen an sein Krankenbett und stirbt kurz darauf mit nur 25 Jahren, wahrscheinlich an den Folgen der Infektion. Die Urne mit seiner Asche wird im Garten des Ferienhauses auf dem Hirschberg beerdigt. Dort steht das Kreuz noch heute, halb versunken im Moos. Die schlichte Inschrift: «Kurt Mettler, 1930».
Eine Familie mit Nazi-Sympathien
Arnold und Elsa Mettler-Specker, die Eltern von Kurt Mettler, waren bekannte Figuren der St.Galler Zeitgeschichte. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wandte sich Arnold Mettler immer mehr vom liberalen Gedankengut ab und war später ein stadtbekannter Nationalsozialist. Elsa Mettler-Specker suchte nach dem frühen Krebstod der Tochter ebenfalls Halt in der autoritären Ideologie. Der jüngste Sohn des Ehepaares, Hannes, schloss sich der Waffen SS an und starb als einer der ersten Schweizer Freiwilligen in der Ukraine.