«Die Zeit können wir nicht beschleunigen»
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Saiten: Wann ist man psychisch krank? Verläuft irgendwo eine Grenze zwischen «gesund» und «krank»?
Ulrike Hasselmann: Wenn es eine sichere Grenze gäbe, würde das wohl einem Wunsch von uns Menschen entsprechen, das Fremde, Unbekannte, Angstmachende von sich fernzuhalten. Wir denken jedoch immer weniger kategorial, dafür immer entschiedener dimensional. Psychische Erkrankungen lassen sich als Spektrumsstörungen verstehen. Wir wissen, dass psychische Krankheiten unabdingbar zum Mensch- sein dazu gehören, eben mitten im Leben sind und alle treffen können. Jules Angst, ein Psychiater und Forscher aus Zürich, hat in epidemiologischen Langzeitstudien über 35 Jahre Belege dafür gesammelt, dass fast jeder Zweite irgendwann in seinem Leben an ernsthafte, existenzielle Fragen gelangt, sprich eine Krise erlebt. Kommt hinzu, dass die spezielle Symptomatik und Ausprägung psychischer Erkrankungen immer auch ein Spiegel der Gesellschaft sind.
Nehmen wir eine Angsterkrankung, die mit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen gehört: Wenn wir das jetzt dimensional denken, ist dieses Leiden durchaus nachvollziehbar, denn die Angst gehört zu den Grundtatsachen des Lebens, wie der Tod oder das Scheitern. Diese Tatsachen verleugnen wir gerne. Dabei ist die Angst auch etwas Hilfreiches, ein Schutzmechanismus. Ein gewisses Mass an Angst ist förderlich, aber wenn sie jemanden im Lebensvollzug behindert, entsteht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Angststörung.
Wie weiss man denn, ob und wann die kritische Schwelle erreicht ist?
Wenn man anfängt, daran zu leiden und sich die eigenen Spielräume zunehmend einschränken.
Und wo fängt das Leiden an? Wir Menschen sind doch diesbezüglich sehr verschieden…
Wir alle sind Beziehungswesen: Wir sind in Beziehung zu uns selbst, in Beziehung zu anderen und in Beziehung zur Welt. Bei jeder psychischen Erkrankung können wir sehen, dass immer alle drei Beziehungsgestaltungen tangiert sind. Wenn jemand so viel Angst hat, dass er oder sie sich nicht mehr vor die Tür traut, ist die Beziehung in allen drei Dimensionen eingeschränkt, weil die Person nicht mehr am Leben teilnehmen kann. Dieses Aus-den-Beziehungswelten-Fallen verursacht seelischen Schmerz.
In Japan gibt es die Hikikomori: junge, vor allem männliche Personen, die sich freiwillig in ihren Wohnungen oder Zimmern einschliessen, um den Kontakt zur Aussenwelt auf ein Minimum zu reduzieren.
Das scheint ein zugespitztes Phänomen unserer Zeit zu sein, ja. Wir leben in einer Beschleunigungsgesellschaft, es dominiert eine Steigerungslogik. Dabei gibt es Dinge, die lassen sich einfach nicht beschleunigen, die persönliche Entwicklung zum Beispiel, sie hat eine Eigenzeitlichkeit. Wir können industrielle Prozesse beschleunigen, das Wachstum und vieles mehr, aber die Zeit können wir nicht beschleunigen. Das ist eines der Hauptprobleme unserer Epoche. Was machen wir denn, wenn wir mehr Zeit brauchen? Wir packen einfach mehr rein, erledigen mehr in der gleichen Zeit, streichen die Pausen. Indem wir Zeit verdichten, versuchen wir Zeit zu vermehren. Dem verweigern sich diese japanischen Jugendlichen, sie werfen sich geradezu aus der Zeit.
Früher haben die Leute noch mehr gearbeitet, sieben Tage die Woche und wesentlich länger als acht oder neun Stunden pro Tag.
Genau. Die Arbeitszeiten waren zwar länger, aber es gab auch noch so etwas wie ein «Tagewerk». In der bäuerlichen Gesellschaft wurde lange gearbeitet, aber es war dann auch irgendwann einmal gut, wenn alle Äcker gepflügt und die Kühe im Stall waren. Heute gibt es viele Jobs, in denen es nie gut genug ist. Auch spät in der Nacht könnte man immer noch eine Mail checken, noch einen Gedanken zu Papier bringen. Wir wissen, wenn der Controller kommt, will er mehr sehen!
Und mit der Arbeit allein ist es ja noch nicht getan: Wir müssen auch noch super Eltern sein, perfekte Körper haben, glanzvolle Hobbys pflegen. Macht uns das Leben heute kranker als das Leben früher?
Ich will die Vergangenheit nicht romantisieren. Früher gab es genau so viel Leid, heute haben wir einfach andere Fragestellungen, zum Beispiel: Wie gehen wir mit den Beschleunigungsprozessen um? Mit der Globalisierung? Mit den Geschlechterverhältnissen? Mit den Veränderungen der Familienstrukturen?
Und es gibt «neue» Krankheiten wie das Burnout. Warum ist es einerseits fast schon normal, sich in Behandlung zu begeben, während andererseits Leute, die nicht so gut schritthalten können, fast schon geächtet werden?
Das hat viel mit dem herrschenden Menschenbild zu tun; dass wir als autonome Wesen selbst verantwortlich sind für eine gute Performanz, dass viele Menschen ein psychisches Problem sich selbst anlasten, sich anschuldigen «nicht zu genügen». Dabei ist es eine Krankheit wie jede andere auch. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile der Grund Nummer eins für Neu-Berentungen. Das ist ein grosses gesellschaftliches Problem, das wir dringend anerkennen und angehen müssen. Ich arbeite viel mit Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern zusammen, da gibt es zwei Gruppen: Die einen sind unwahrscheinlich interessiert, engagiert, geduldig und unterstützen die betroffene Person. Ich kenne tolle Lehrmeister! Die anderen wollen von psychischen Problemen gar nichts wissen und künden den Betroffenen, sobald sie wieder gesundgeschrieben sind. Darum ist es ungemein wichtig, dass das gesellschaftliche Verständnis für psychische Erkrankungen wächst. Es gibt immer noch Unwissen und darum hat man Angst davor.
Es ist auch ein bisschen unfair: Leuten, die kreativ, sagen wir im Kulturbereich tätig sind, lässt man viel mehr «durchgehen» als jemandem, der «nine to five» in einem Speditionsbetrieb oder im Detailhandel arbeitet. Wurzeln viele der psychischen Probleme unserer Zeit nicht doch in der kapitalistisch geprägten Arbeitswelt?
Ja, dieser Teil entspricht der Angst, nicht mehr Schritt halten zu können mit der Veränderungsgeschwindigkeit. Ich kenne Patienten, die haben drei Umstrukturierungen gut bewältigt, bei der vierten ging es dann nicht mehr. Es wäre schön, wenn es mehr Nischenarbeitsplätze gäbe, ja. Die Kreation von flexibilisierten Arbeitsumständen, zum Beispiel mit Jahresarbeitszeiten, ist für mich ein ganz zentraler Punkt für die Zukunft. Man weiss heute, dass Depressionen in den meisten Fällen Stressfolgeerkrankungen sind. Stress am Arbeitsplatz ist aber nicht der einzige Faktor. Der Anspruch an uns, auch in anderen Lebensbereichen gut zu performen, kann ebenfalls enorm zum Stress beitragen. Dabei sind wir sehr unterschiedlich und individuell in Bezug auf unsere Widerstandsfähigkeit: Was für den einen das Mass übersteigt, ist für den anderen noch aushaltbar. Letztlich hängt dies davon ab, was für ein Fundament eine Person mitbringt: Ist sie in ausreichend guten Verhältnissen aufgewachsen? Hat sie als Kind eine feinfühlige Beantwortung erlebt? Konnte sie Vertrauen in die Welt entwickeln?
Junge Eltern haben immer öfter das Gefühl, sie müssten alles perfekt machen und geraten unter Druck. Das ist ein Irrglaube. Sie müssen es «good enough» machen, um es mit dem englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott zu sagen. Je nach dem entwickelt das Kind eine Grundgestimmtheit, mit der es die Welt erlebt; im positiven Fall optimistisch und abenteuerlustig, im anderen Fall eher feindlich und versagend.
Kann man dieses Missverhältnis zur Welt im späteren Leben noch irgendwie «korrigieren»?
Klar, sonst wäre mein Beruf absurd. Es ist heute belegt, dass Psychotherapie wirkt. Nehmen wir an, jemand hat als Kind zu wenig feinfühlige Beantwortung erlebt: Diese Person wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein sehr geringes Selbstvertrauen haben, sich nicht viel zutrauen, aber gleichzeitig ganz hohe Anforderungen an sich selber stellen. Weil sie denkt: «Wenn ich es ganz gut mache, hat mich vielleicht doch noch jemand lieb.» Diese Konstellation prädestiniert für psychische Krankheiten. Dann kommt die Adoleszenz – die zweite Chance: In dieser Phase kann ganz viel umgearbeitet werden. Wenn man zum Beispiel gute Freunde hat, gute Lehrer, Erfolgserlebnisse, kann dies ganz vieles «ausbügeln». Wenn das aber ebenfalls schiefgeht, wird es schwieriger und die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Erkrankung steigt. Wenn man dann noch durch die LAP fällt und von der ersten Liebe verlassen wird, braucht es schon beträchtliche innere Ressourcen, um das gut bewältigen zu können.
Liegen die Ursachen immer in der Kindheit oder gibt es noch andere Einflüsse, die psychische Probleme begünstigen?
Psychische Erkrankungen manifestieren sich häufig in Lebensübergängen, wenn Veränderungen eintreten. Wir arbeiten mit dem mit dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell: Mit «bio» sind die genetischen Einflüsse gemeint, wobei diese weniger Einfluss haben, als man früher gedacht hat. Gene sind oft Dispositionen, also Möglichkeiten. Erst wenn die sozialen Umgebungsaspekte und die biografische Entwicklung auch nicht passen, kommen sie allenfalls zum Tragen. Die meisten psychischen Erkrankungen sind übrigens gut behandelbar – sofern man sich die nötige Zeit gibt. Bei meist chronischen Erkrankungen wie Psychosen oder bipolaren Störungen ist das schwieriger, hier geht es um ein möglichst gutes Mit-der-Krankheit-leben-Können, auch ein umfassendes Verständnis für geeignete Medikamente und deren Wirkungsweise ist für die Akzeptanz wichtig.
Gibt es Alarmsignale? Wie sollte das Umfeld reagieren?
Die grösste Gefahr ist die Sprachlosigkeit. Das erlebe ich fast täglich: dass nicht gefragt wird. Das Umfeld merkt zwar, dass irgendwas nicht stimmt, wagt aber nicht, etwas zu sagen. Viele sind unsicher, wie sie die Dinge ansprechen sollen, dabei ist das Wie gar nicht so entscheidend. Wichtig ist, dass man Ich-Botschaften formuliert, dass man zum Beispiel sagt: «Weisst du, wenn ich dich so erlebe, mache ich mir Sorgen, dass es dir nicht gut geht. Ich würde dich gerne fragen, warum du dich so zurückziehst…» Und man sollte dranbleiben, auch wenn im ersten Moment nichts zurückkommt. Für den Fall, dass man gar nicht mehr weiter weiss: In Wil gibt es ein kostenloses Beratungsangebot für Angehörige durch erfahrene Pflegefachfrauen. Auch ein Anruf bei der dargebotenen Hand kann ein erster Schritt sein.
Es gibt auch Leute, die zwar wissen, dass sie ein Problem haben, aber trotzdem nichts dagegen unternehmen. Wie würden Sie da vorgehen?
Wir kommen immer wieder auf die Angst zurück. Freud sagte: «Das bekannte Elend ist einem letztlich immer vertrauter als das unbekannte neue.» Auch Veränderung mach Angst! Ein Stück weit kann ich es also verstehen. Ich würde die Betroffenen ermutigen, einmal probeweise eine Fachperson aufzusuchen. Nicht als Verpflichtung, sondern als eine Art Auslegeordnung. Die Frage ist ja, was jemanden davon abhält, sich Hilfe zu holen. Wenn zum Beispiel eine Person sehr misstrauisch zu mir kommt, würde ich ihr Misstrauen zum Thema machen und schauen, welche Geschichte sich dahinter verbirgt.
Wie stehen Sie zu stationären Behandlungen? Wann braucht es eine, wann nicht?
Auch das hat im Grunde mit der Zeit zu tun. Wenn man ein psychisches Leiden früh erkennt, braucht es höchst selten einen Psychiatrieaufenthalt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn viel zu lange nichts unternommen wurde, wenn die Gesamtsituation verfahren ist. Wir unterscheiden dabei zwischen Krise und Notfall: Die Krise ist eine Situation, in der sich das Sichtfeld stark verengt, nur noch eine Perspektive, zum Beispiel Hoffungslosigkeit zulässt – der berühmte Tunnelblick. Wenn die Person absprachefähig ist, kann eine Krise gut in einem ganz offenen Rahmen, etwa im Krisenzentrum an der Teufenerstrasse in St.Gallen, behandelt werden. Wenn das nicht mehr gegeben ist, sprechen wir von einem Notfall, dann ist ein stationärer Aufenthalt notwendig.
Die IV-Rentenzahl nimmt insgesamt deutlich ab, gleichzeitig gibt es gibt eine Zunahme von Rentenanträgen junger Menschen. Die Sozialkommission des Nationalrats fordert nun im Zuge der IV-Revision einen Rentenstopp für unter 30-Jährige. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Ich sehe zwei Entwicklungen: Die Versorgung von jungen Menschen ist in den letzten Jahren besser geworden, das hat sich die IV auch zum Konzept gemacht. Es wird beispielsweise zeitnäher Geld gesprochen für berufliche Massnahmen, auch die Zusammenarbeit mit uns Fachpersonen hat sich in Bezug auf junge Menschen verbessert meiner Erfahrung nach – und sollte noch weiter ausgebaut werden. Allerdings gibt es zum Glück selten so schwere Verläufe, dass eine mittelfristige Wiedereingliederung nicht mehr gelingt. Für ältere Menschen hingegen ist es sehr schwierig geworden, nach den Überprüfungen entsteht zunehmend ein Shift in die Sozialhilfe.
Was halten Sie von den jüngsten Bestrebungen in Richtung «Sozialdetektive»? Psychische Krankheiten sind ja quasi unsichtbar, da wird den Leuten schnell einmal «Simulatitis» unterstellt.
Diese Unsichtbarkeit psychischer Erkrankungen ist eines der Hauptprobleme. Viele meiner Patienten fragen sich, was mit ihnen passiert, sollten diese sogenannten «Sozialdetektive» tatsächlich kommen. Meine Frage wäre, was denn da genau überprüft werden soll, weil das Leiden ja im Inneren stattfindet! Meine Bestrebungen als Behandlerin gehen dahin, die Leute zu aktivieren. Wir wissen, dass jede Form von Passivität psychische Erkrankungen verschlechtert. Was heisst das konkret: Ich arbeite daran, dass ein Depressiver wieder rausgeht, sich im öffentlichen Leben wieder zeigt. Wenn diese Person jetzt am Spazieren ist, kommt dann der Sozialdetektiv und sagt: «Herr XY kann spazierengehen und Sport treiben, also wird er wohl auch an der Kasse stehen können…»? Im Moment haben wir eine Situation tiefer Verunsicherung bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung, und auch für mich als Fachperson ist sehr unklar, nach welchen Kriterien eine solche Überprüfung stattfinden soll.
Sie fordern mehr gesellschaftliche Aufklärung, was psychische Leiden angeht. Wo würden Sie ansetzen?
Die Teilhabe von Menschen mit psychischer Erkrankung an gesellschaftlichen Prozessen und Arbeitsprozessen muss selbstverständlicher werden. Indem es selbstverständlicher wird, dass jemand auch einmal nicht mehr kann, indem es möglich wird, offen, akzeptierend und unterstützend damit umzugehen. Und ich wünsche mir, dass Dinge länger dauern dürfen, gerade in Ausbildungsprozessen ist das sehr wichtig. Es muss möglich sein, eine Ausbildung auch einmal zu unterbrechen und sie später wieder aufzunehmen, um ausreichend gute und intensive Behandlungen zu machen. Die Verfügbarkeit von Psychotherapien wird zunehmend eingeschränkt und auch intern, bei den Institutionen, soll vieles beschleunigt und mit weniger Personal bewältigt werden.
Kürzlich war zu lesen, dass es in der Schweiz viel zu wenig Psychotherapeutinnen und -therapeuten gibt. Ist das so?
Ja, gerade unter dem Gesichtspunkt, dass Frühinterventionen lange Krankheitsausfälle verhindern könnten. Auch bei mir gibt es lange Wartezeiten. Aber wenn man die Tatsache, dass Veränderungsprozesse Zeit brauchen, ernst nimmt, läuft es nunmal darauf hinaus, dass der Platz für eine gewisse Zeit belegt ist. Das ist auch eine gesundheitspolitische Frage: Wie viel Geld will eine Gesellschaft für diese Themen und insgesamt für Prävention aufwenden?
Sie haben von internen Beschleunigungsprozessen gesprochen: Man hat weniger Zeit pro Patient bzw. soll noch mehr Patienten in derselben Zeit «abfertigen». Was sind die Konsequenzen?
Es besteht die Möglichkeit, dass nicht ausreichend gründlich behandelt werden kann, so dass die Gefahr von Rückfällen steigt. Oder dass sich derjenige, der in die Behandlung kommt, nicht gesehen und gehört fühlt und sich enttäuscht wieder abwendet. Freud sagte, das Ziel einer Behandlung sei es, wieder oder erstmals liebes- und arbeitsfähig zu werden. Das heisst Beziehungen gestalten zu können und sich selbst als wirksam in der Welt zu erleben. Das ist eine schöne Definition, aber wenn man keine Zeit hat für resonante Beziehungen, wird man beides nicht schaffen.
Dieses Interview erschien im Juniheft von Saiten.