Die zarte Schale eines Menschen
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Diese Geschichte gibt es in diversen Ausführungen: Eine Frau erschafft etwas, dann kommt ein Mann und eignet es sich an. Das passiert bis heute und im Grossraumbüro genauso wie in der Kunst. Im Fall E.1027 stehen sich darüber hinaus zwei Persönlichkeiten gegenüber, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Eileen Gray und Le Corbusier. Hier die stille Schafferin, die am liebsten hinter ihren Werken verschwand, dort der mediengewandte Guru der Moderne. Auf der einen Seite die Künstlerin, die das Haus als «Schale des Menschen» begriff, auf der anderen der Architekt der brutalistischen Wohnmaschinen.
Die Villa E.1027 steht versteckt an einem Hang bei Roquebrune-Cap-Martin an der französischen Riviera. Nach jahrelanger Restauration wurde sie 2021 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht, allerdings nicht in ihrem Urzustand. Es gibt einen Streit um den betörenden Bau, der noch immer ungeklärt ist. Regisseurin Beatrice Minger und Co-Regisseur Christoph Schaub erzählen in E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer die Geschichte dahinter und stellen dabei bewusst die Gedankenwelt der Schöpferin ins Zentrum.
Vertreterin einer sensiblen Moderne
War es Freundschaft? Liebe? Ein Arbeitsbündnis? Es bleibt ein Geheimnis, was genau Eileen Gray und den rumänischen Architekten und Journalisten Jean Badovici verband. Er, ein Lebemann und Leichtfüssler, gab eine bedeutende Architekturzeitschrift heraus. Sie bewegte sich im Paris der 1920er-Jahre gerne in den eher diskreten sapphischen Kreisen und war zu der Zeit vor allem als Möbel- und Innendesignerin tätig. Nachdem Gray ihre aristokratische Familie in Irland 1898 verlassen hatte, studierte sie als eine der ersten Frauen an der Slade School of Art in London, danach folgte die Weiterbildung in Paris.
Das Zusammentreffen mit Badovici muss etwas ausgelöst haben. Er bewundert ihren Designstil, und auf seine Anregung hin beginnt sie bald, auch Gebäude zu entwerfen. Unterstützt von Badovici baut sich Gray zwischen 1926 und 1929 einen Rückzugsort an der Côte d’Azur: E.1027 ist ein architektonisches Meisterwerk. Das anmutige Haus auf Stützen ist zur Meerseite hin offen und bietet einen atemberaubenden Blick in die Weite. Anders als viele Bauten der Moderne, die oft wuchtig und durchkonzeptioniert sind, wirkt Grays Haus irgendwie informell. Es strahlt eine ganz eigene Sensibilität und Verspieltheit aus. Sie fühle sich darin geschützt und doch frei, sagt Gray.
Faire la Fête an der französischen Riviera
Die Côte d’Azur war in dieser Zeit heiss begehrt bei Künstler:innen und Promis, und so dauerte es nicht lange, bis etliche von ihnen in E.1027 ein und aus gingen. Badovici bewirtet sie mit grossem Vergnügen und sonnt sich im brillanten Entwurf. Auch Le Corbusier wird darauf aufmerksam. Gray verlässt Badovici und das Haus 1931. Sie kehrt nie mehr zurück. Le Corbusier hingegen schon. Er entwickelt eine regelrechte Obsession für E.1027, entdeckt darin seine Berufung als Maler und überzieht die weissen Wände mit bunten Fresken – nackt natürlich, wie es sich für ein derart potentes Genie gehört.
Le Corbusier veröffentlicht stolz Bilder seiner Malereien, sieht sie als «Geschenk». Gray bezeichnet sie als Akt des Vandalismus und will sie weghaben. Er ignoriert sie und setzt stattdessen den Cabanon, seine berühmte Ferienhütte, quasi in ihren Hinterhof. Er wird später zum Weltkulturerbe erklärt, klar, was sonst. Grays E.1027 hingegen verlottert und wird nur knapp vor dem Zerfall gerettet.
E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer: 28. November, 20 Uhr, Kinok St.Gallen. Premiere mit Regisseurin Beatrice Minger, moderiert von Architektin Katrin Eberhard. Weitere Vorstellungen bis Ende Dezember.
Bildgewaltig dank Computertechnik
Die Kontroverse bekommt genügend Raum im Film, spielt aber nicht die Hauptrolle. Diese gehört Eileen Gray. Beatrice Minger und Christoph Schaub setzen Gray äusserst poetisch ins Bild, zurückhaltend und verletzlich, aber dennoch elegant und glasklar in der Haltung, wie es auch ihre Entwürfe waren. Dabei helfen Projektionen, Collagen, Montagen. Und das starke Spiel von Natalie Radmall-Quirke, die Gray verkörpert. Ihre Gegenspieler Jean Badovici (Axel Moustache) und Le Corbusier (Charles Morillon) wirken bei so viel Klasse fast schon etwas ordinär. Als wollten die Männer nur eines: sich eine Scheibe von Gray und ihrem visionären Schaffen abschneiden.
Besonders gelungen ist die Inszenierung des Hauses selbst. Wie es dort thront. Wie es lebt und atmet. Wie es sich über die Jahrzehnte verändert. So sinnlich wird Architektur selten in Szene gesetzt. Aber so, wie E.1027 in diesem Film zu sehen ist, wird es wohl nie wieder zu sehen sein. Dazu brauchte es Computertechnik, denn Le Corbusiers schrille Fresken sind immer noch da. Was sagt uns das über die Anerkennung der Leistungen von Frauen in den Künsten – und überhaupt?