, 15. Juli 2024
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Die Verurteilten

Wie es sich anfühlt, nach der Flucht endlich ein neues, eigenes Zuhause beziehen zu können und was das mit dem Film «Die Verurteilten» zu tun hat, schreibt Saiten-Kolumnistin Liliia Matviiv im aktuellen Sommerheft.

Habt ihr jemals darüber nachgedacht, wie es ist, sein Zuhause zu verlieren? Ich meine nicht einfach irgendwohin umzuziehen, in einer anderen Stadt zu arbeiten oder wegen einer Scheidung das Eigentum zu teilen, sondern eines Tages auf den Kühlschrank, auf den lila Wäschekorb zu schauen und in der Nacht ins Unbekannte aufbrechen zu müssen. Mit einem Rucksack, der zehn Jahre Wanderungen über- standen hat, und einem kleinen Handgepäckkoffer für sieben Kilo, falls man fliegen muss. Weil das der Lieblingskoffer ist.

Einfach weil jemand beschlossen hat, Raketen auf den Flughafen, in dessen Nähe du wohnst, abzufeuern. Und du wolltest so sehr in der Nähe des Flughafens wohnen um bequem reisen zu können. Und in der Nähe der Eisenbahn. Genau dieses Gebiet, das nun terroristisch bedroht wird.

… Zwei Jahre sind seither vergangen. Ich sitze in der Migros und schaue in den Regen. Er fällt, wie er in St. Gallen immer fällt. Ich halte einen kleinen Schlüssel in der Hand. Ich drücke ihn so fest, dass ich denke, ich würde nachts damit schlafen. Ich feiere: Vor mir auf dem Tisch steht ein Kaffee zum Aktionspreis von 5 Franken 45 mit zwei kleinen Törtchen. Ich schreibe ein paar lieben Menschen – ich habe jetzt einen Ort zum Leben!

Bis zu dem Zeitpunkt gab es alles Mögliche an Unterkünften. Auch das Leben mit einer Familie an einem ruhigen und blühenden Ort. So wunderbar dieses Haus auch war, es fühlte sich nicht an wie «mein Zuhause». Es war ein Experiment, das diese Familie und ich grossartig durchführten und für das ich immer dankbar sein werde. Wie Schulferien. Es gab auch eine schwierige Phase in einer Sozialwohnung. Dort habe ich ständig gelernt. Es war wirklich, als wäre ich 20 Jahre zurückversetzt worden. Und ich suchte weiter.

In jener Nacht, als ich mein Zuhause zum letzten Mal sah, das nun nicht mehr sicher war, konnte ich mir nicht vorstellen, was Krieg heisst. Und dass es weder wegen einer Reise noch einer Konferenz noch eines Urlaubs sein würde, dass ich meine Wohnung verliesse. Ich wollte einfach nur schlafen. Ich habe fast zwei Monate nicht geschlafen. Und die fast zwei Jahre danach auch kaum.

Ja, ich hatte einen Schlafplatz, aber kein Zuhause. Diesen Ort, an dem ich meinen Schlafanzug anziehe und meinen Lieblingstee trinke. Ich vermisste das so sehr, und immer dachte ich, es sei selbstverständlich.

… Und da stehe ich nun an der Haltestelle, und ein Mädchen aus einer Student:innen-WG übergibt mir ihr Zimmer, wir haben gerade ihre Sachen nach unten zum Bus gebracht. Das ist jetzt deins, sagt sie. Wir umarmen uns, und ich schaue auf das Haus, vor dem Rosen wachsen. Es regnet, und ich fühle mich wie Tim Robbins in Die Verurteilten, als er den Tunnel in die Freiheit gegraben hat.

Ich bin nicht mehr die Schnecke mit dem Haus auf dem Rücken.

Die alte Haustür quietscht, und ich liebe diese Tür bereits jetzt. Drinnen riecht es unglaublich gemütlich. Die Lampe und der Wasserhahn funktionieren nicht, aber es scheint, als hätte ich die beste Aussicht der Welt aus dem Fenster. Das ist mein Bett, sage ich zu mir, und ich hätte nie gedacht, dass man weinen kann, weil der Boden in deinem Zimmer so schön ist. Wenn man das wiederfindet, was man verloren hat, fühlt man sich wieder lebendig.

P.S. Mit Stand 1. Juni 2024 steht der Film Die Verurteilten auf Platz eins der IMDb-Liste der 250 besten Filme.

Liliia Matviiv, 1988, stammt aus Lviv in der Ukraine. Die Journalistin, Essayistin und Sozialaktivistin ist im Frühling 2022 in die Schweiz gekommen und lebt derzeit in St. Gallen. Ol’ha Gneupel hat den Text übersetzt.

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