Die Unverwüstlichen
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«Dieser Rat ist in seiner Mehrheit nichts anderes als der politisch verlängerte Arm der Wirtschaft. Er vertritt die handfesten Interessen des Kapitals. Wichtig und entscheidend sind in erster Linie Produzieren, Vermarkten, Geld verdienen! Alle Gruppen, die diesen Interessen nicht dienen, fallen unter den Tisch: Kinder, Rentner und Rentnerinnen, Kranke, Ausländerinnen und Ausländer, Arbeitslose, alleinerziehende Mütter, Frauen in unterbezahlten Stellungen, unzufriedene Jugendliche usw. … Auch unsere Umgebung, Luft, Wasser, Boden, Pflanzen und Tiere gelten in den Köpfen dieser Wirtschaftsvertreter nur als ‹Material›, rücksichtslos ausbeutbar bis zur Zerstörung!»
Das stand 1988 anlässlich der Wahlen für den St.Galler Gemeinderat (heute Stadtparlament) im Pressecommuniqué der Politischen Frauengruppe (PFG) mit dem Titel «Wer sich nicht wehrt, ist mitschuldig». Es blieb aber nicht bei der Anklage, die PFG stellte auch eine ganze Liste mit konkreten Forderungen auf. Unter anderem verlangte sie billigen Wohnraum für alleinerziehende Mütter, ein Verbot von Plakaten mit sexistischer Werbung, durchgehend geöffnete Kinderhorte und Tagesschulen in allen Quartieren, keine rollenfixierenden Berufsberatungen und Lehrmittel, eine Frauenquote für städtische Stellen, Begegnungs- und Beratungsstellen für Ausländer:innen, autonome Treffpunkte für Jugendliche, radikale Verkehrsreduktion, Tempo 30, öV zum Nulltarif und keinen AKW-Strom mehr für St.Gallen.
32 Frauen zählte damals die PFG-Liste – «genug, um die Hälfte aller Sitze im St.Galler Gemeinderat zu besetzen», so die kämpferische Ansage. Von einem 50-Prozent-Frauenanteil war die parlamentarische Realität zwar noch weit entfernt, doch die Wahlen 1988 endeten mit einem der grössten Erfolge in der PFG-Geschichte: Drei Sitze konnte sie erobern. Es war die erste und einzige Legislatur mit drei PFG-Sitzen, davor und danach hatte sie jeweils nur einen. Dafür bis heute.
«Sie kandidieren wieder!»
Judith Pekarek erinnert sich noch gut an den Wahlkampf 1988. Sie stiess kurz davor zur PFG und stand ebenfalls auf der Liste, Platz 20. Damals war sie Lehrerin, heute ist sie Studienbereichsleiterin und Dozentin an der Pädagogischen Hochschule St.Gallen – und immer noch aktive PFG-Frau. «Wir hatten kaum Geld für den Wahlkampf, dafür umso mehr kreative Ideen für Kampagnen und Aktionen», sagt sie mit einem Lachen. «Vieles war selbstgemacht, Plakate, Fotos und Flyer.» Ein Wahlplakat 1988 zeigte den Komiker Heinz Erhardt, der verschreckt seine Hand vor den Mund hält, dazu die Sprechblase: «Sie kandidieren wieder!»
Die PFG der 80er-Jahre war laut, rebellisch und immer wieder auch auf der Strasse präsent. Ziemlich unbequem fürs St.Galler Patriarchat. Das bestätigt auch Marina Widmer, PFG-Mitgründerin und langjährige Leiterin des Ostschweizer Archivs für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte, wo die PFG-Akten lagern. «Wir waren zwar gefühlt fünfmal pro Woche an einer Sitzung und leisteten lauter Gratisarbeit», sagt sie, «aber es war immer sehr lustvoll, besonders wenn es um unsere Aktionen auf der Strasse ging, zum Beispiel um die alljährlichen Demos zum internationalen Frauentag am 8. März. Bei dieser kollektiven Arbeit wurde eine grosse Energie freigesetzt.»
Im Parlament hat sich die PFG nie grosse Illusionen gemacht, trotzdem konnte sie immer wieder wichtige Debatten lancieren. Kein Wunder, haben sich manche Männer bemüssigt gefühlt, gegen die selbstbewussten Frauen Stimmung zu machen – oder sie schlicht mit Ignoranz zu strafen, wie es die bürgerliche Presse bis auf wenige Ausnahmen jahrelang tat. Was aber wenig überraschend ist, denn zu Zeiten des Kalten Krieges wurden vermeintlich linke Themen in bürgerlichen Blättern wie dem «St.Galler Tagblatt» nicht oder nur selten verhandelt, in der katholisch-konservativen «Ostschweiz» erst recht nicht. Dafür in der OAZ, der «Ostschweizer Arbeiterzeitung». Dort sind teils seitenlange Verlautbarungen von linken Parteien und Verbänden nachzulesen.
In den PFG-Unterlagen finden sich einige böse Briefe zuhanden der Frauen, benamst mit «Beschimpfungen». Einer kommt ganz ohne Worte aus, es reichten Brandlöcher. Ein anderer liest sich (für heutige Hassbriefverhältnisse) fast schon literarisch: «Man möchte Ihnen empfehlen, sich an einen Naturheiler zu wenden, der Ihnen helfen könnte, Ihren Hass und Ihre Komplexe zu überwinden. Eine Möglichkeit der Selbsthilfe für Sie könnte sein, zu versuchen, einmal etwas Sinnvolles zu leisten, Bescheidenheit und Anstand zu üben und sich von der Hybris der Vergöttlichung Ihrer Wahnvorstellungen zu befreien. Wenn es Ihnen möglich ist, sollten Sie auch versuchen, Ihr gedankliches Spektrum etwas zu erweitern und nicht durch dumme Sprüche zu tarnen zu versuchen, dass sie weniger ein Opfer der Luftzusammensetzung als eines des geistigen Niedergangs sind.» Das war im Vorfeld der Wahlen 1988.
Das Parlament als Vehikel für die Öffentlichkeitsarbeit
Zurück zu den Anfängen der PFG. Ab Mitte der 70er-Jahre gab es auch in St.Gallen eine lebhafte Neue Frauenbewegung (Glossar unten). Eine tragende Rolle spielte die Frauengruppe St.Gallen, 1974 angeregt von einer HSG-Studentin. Kurz nach ihrer Gründung schloss sie sich der Frauenbefreiungsbewegung FBB an. Schnell bildeten sich verschiedene Interessens- und Arbeitsgruppen, in denen über Bildung, Sexualität, Rollenteilung und Machtverhältnisse diskutiert wurde. 1978 gehörten bereits rund 90 Frauen zur Frauengruppe St.Gallen, die sich alle je nach Interesse an verschiedenen Projekten und Aktionen beteiligten. In dieser Zeit sind unter anderem die Frauenbeiz, das Frauenhaus, ein Aikido-Kurs zur Selbstverteidigung und die damalige Informationsstelle für Frauen INFRA entstanden.
Die Frauengruppe St.Gallen war anfangs eher projekt- und bewegungsorientiert, doch bald geisterten auch erste Ideen für eine Art parlamentarischen Arm herum. Im Frühling 1980 wurde schliesslich die PFG gegründet, nur ein halbes Jahr vor den Gemeinderatswahlen im September, zu denen sie auch sogleich antrat – mit der ersten unabhängigen Frauenliste schweizweit. Den Frauen ging es damals nicht um sogenannte Realpolitik, also darum, mit dem breitbeinigen Bürgerblock über Baumabstände oder Bauverordnungen zu diskutieren. Sie sahen sich mehr als Bewegung denn als Partei und wollten das Parlament primär als Plattform für ihre Themen nutzen und Öffentlichkeit schaffen.
Aus dem Stand gewann die PFG im September 1980 auf Kosten der SP einen Sitz im Gemeinderat, auch zu ihrer eigenen Überraschung. Dies sei ein Beweis dafür, dass «auch in St.Gallen ein grosser Bevölkerungsanteil Frauenprobleme ernst zu nehmen beginnt», resümierte sie nach der geglückten Wahl. Die Einflussmöglichkeiten seien zwar angesichts der bürgerlichen Dominanz «sehr klein», trotzdem wolle die PFG versuchen, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Aber: «Vorderhand werden wir keiner Fraktion beitreten. Wir wollen lieber eine überparlamentarische Arbeit der Frauen im Parlament anstreben. Daneben wollen wir unsere Gruppe und ausserparlamentarische Aktionen nicht vernachlässigen.» 1981 trat die PFG der Organisation für die Sache der Frau (OFRA) bei und trug fortan den Doppelnamen PFG/OFRA.
Wer jetzt denkt, dass sich die PFG in ihren Anfängen nur für Frauenthemen im engeren Sinn eingesetzt hat, liegt falsch. Das Themenportfolio war schon ab der ersten Legislatur breit gefächert. Sicher, sie machte Vorstösse beispielsweise gegen sexistische Plakatwerbung, für eine Amtsstelle für Frauenfragen, eine zeitgemässe städtische Stellenausschreibungspraxis oder die Unterstützung gewaltbetroffener Frauen. Daneben beackerte sie aber immer wieder auch Umwelt-, Stadtplanungs-, kulturelle und sozialpolitische Themen.
In einem ihrer ersten Vorstösse fragte die PFG zum Beispiel, ob die Stadtpolizei überhaupt befugt sei, Kleinplakate herunterzureissen, und regte, als Alternative zur omnipräsenten Allgemeinen Plakatgesellschaft APG, Plakatwände und Wandzeitungen für nicht-kommerzielle Zwecke an. Weiter forderte sie eine massive Aufstockung der Veloabstellplätze, die Ausarbeitung eines neuen Verkehrskonzepts zur Reduktion des motorisierten Individualverkehrs, Tempo 30 in den Quartieren. Sie stellte das Finanzierungskonzept der VBSG zur Debatte, wehrte sich gegen Atomstrom und die Stationierung von Atomwaffen im süddeutschen Raum und setzte sich ebenso für biologische Landwirtschaft wie für bezahlbaren Wohnraum oder eine weniger repressive Drogenpolitik ein. Das ist nur ein Auszug aus der ersten Zeit im Parlament – praktisch alles wurde abgelehnt. Viele der von der PFG aufgebrachten Themen schafften es erst Jahre später ins breite gesellschaftliche Bewusstsein.
Gegen Machtkonzentration, Verfilzung und Personenkult
Die PFG hatte immer ein kollektives Verständnis von ihrer politischen Arbeit. Zum Ausdruck brachte sie das unter anderem mit dem jahrelang von ihr praktizierten Rotationsprinzip im Parlament. Die anderen Parteien verknüpften ihre Sitze für die Dauer der vierjährigen Legislatur stets mit nur den gewählten Personen, anders die PFG. Sie wollte ihre Anliegen gemeinsam vertreten, also trat die Gewählte nach einem Jahr zurück und übergab ihr Gemeinderatsmandat an die Nächste auf der PFG-Liste. Damit wollten die Frauen der Machtkonzentration, der Verfilzung und dem Personenkult in der Politik vorbeugen und das basisdemokratische Vorgehen fördern. Ausserdem konnte die PFG so möglichst vielen Frauen realpolitische Erfahrungen verschaffen.
«Ein Jahr Ratsarbeit – das reicht grad ungefähr aus, sich einigermassen in Betrieb und Geschäfte einzuarbeiten», monierte 1982 das «Tagblatt». «Viel mehr ist in dieser Zeit selbst jenen Ratsmitgliedern nicht möglich, die einer Fraktion angehören und nicht als ‹Einzelkämpfer› die ganze Papierflut selber durchsehen, sich zusätzliche Informationen in aufwendiger Kleinarbeit selber beschaffen müssen.» Als ob alle Parlamentsmitglieder so vorbildlich wären … Den totalen Durchblick zu haben, war aber auch gar nicht das Ziel der PFG. «Wir suchten uns jene Themen heraus, in denen wir eine Expertise hatten», erklärt Marina Widmer, die damals für die PFG im Gemeinderat sass. «Und wir haben gezeigt, dass es keine grosse Sache ist, im Parlament zu sitzen. Dass das jede kann, die will.»
Selbstverständlich ging das mit allerhand Arbeit einher. Die PFG-Frauen trafen sich mehrmals pro Monat, anfangs in der Frauenwohnung an der Löwengasse und ab 1986 in der neu gegründeten Frauenbibliothek Wyborada an der Harfenbergstrasse. Im Kollektiv diskutierten sie Geschäfte, planten Vorstösse, verfassten Voten. Zu Beginn holperte dieses Gemeinschaftswerk noch ein bisschen, zumal alle immer auch noch an anderen Projekten beteiligt waren. Im Protokoll vom 15. Juni 1981 ist zu lesen: «Wir haben festgestellt, dass unser Gemeinderatssitz bis jetzt immer am Rande mitlief: Herta [Lendenmann] hat sich jeweils auf die Sitzungen vorbereitet, aber es fehlte die Mithilfe der Gruppe. Das müssen wir unbedingt ändern. Wir haben den Sitz, also müssen wir ihn auch ausnutzen. Nach einiger Diskussion haben wir beschlossen, jeden 2. Montag nur Gemeinderatsfragen zu besprechen.» Ein sportliches Programm, denn es kamen laufend neue Gruppen hinzu. Neben der Parlamentsgruppe gab es bald auch noch eine Lesegruppe, eine Frauenfilmgruppe, eine Theatergruppe, eine Selbsterfahrungs- und eine Militärgruppe.
Und sie rotieren doch
Das Rotationsprinzip, das die PFG unter anderem den Grünen in Deutschland abgeschaut hatte – in der Schweiz wurde die Grüne Partei erst 1983 gegründet, den ersten Sitz in der Stadt St.Gallen gewannen die Grünen (damals Grüne Alternative St.Gallen GRAS) bei den Wahlen im Jahr darauf –, erregte wenig überraschend auch die Gemüter des alteingesessenen Polit-Establishments. Zum Ende des ersten PFG-Rotationszyklus 1984 erreichte den Stadtrat eine Einfache Anfrage von FDP-Gemeinderat Peter Streuli. Er wollte wissen, mit welcher Begründung er die «verfassungswidrige» Rotation dulde und ob er diese nicht auch als «Irreführung des Wählers» verstehe.
Der Stadtrat verwies in seiner Antwort auf eine Spezialvorschrift im Gemeindegesetz, die einen Rücktritt «ohne Weiteres» erlaube, auch bei bestehendem Amtszwang. Das stehe zwar nicht im Einklang mit der Kantonsverfassung, dennoch werde er die Rotation weiterhin dulden und keine rechtlichen Schritte einleiten, zumal die Rotierenden, wenn überhaupt, politisch sanktioniert werden müssten, sprich durch ihre Wähler:innen. Diese wussten allerdings, was Sache war. Die PFG machte schon im ersten Wahlkampf 1980 klar, dass sie rotieren will. Und ihre Wähler:innen unterstützten diesen Kurs. Bei den Wahlen 1984 konnte die PFG ihren Stimmenanteil weiter erhöhen. Andere Gruppierungen in der Ostschweiz hatten das Rotationsprinzip mittlerweile übernommen, so auch die Grünen oder im Frauenfelder Stadtparlament die Leute von «Chrampfe & Hirne» (CH).
Damit hätte die Sache abgehakt sein können – wäre da nicht ein gewisser Kurt Reber aktiv geworden. Der damalige Präsident des Kassationsgerichts, einst ein freisinniger Befürworter des Frauenstimmrechts, reichte im Dezember 1985 eine Aufsichtsbeschwerde ein. Die PFG mache die Demokratie lächerlich, heisst es darin. Dass «die Damen» sich auf das Gemeindegesetz stützten, sei ja «noch einfühlbar, sie sind nicht Juristinnen und haben auch sonst von der Mitarbeit des Bürgers in unserer Demokratie eine eher unterentwickelte Auffassung. Aber dass der Stadtrat ihnen auf den Leim gekrochen ist, mag verstehen, wer will; mir fehlt es offenbar an dem dazu nötigen Verstand.»
Der St.Galler Regierungsrat hiess Rebers Beschwerde gut und wies den Stadtrat an, künftig keine jährliche Rotation mehr zu genehmigen. Dieser Amtszwang ging sowohl der PFG als auch dem Stadtrat zu weit, weshalb sie beim Verwaltungsgericht Beschwerde einreichten. Diese wurde abgelehnt, juristisch blieb die Frage jedoch ungeklärt. Die Frauen zogen weiter ans Bundesgericht, welches aber nicht darauf eintrat. Mittlerweile waren zwei Jahre vergangen und die PFG rotierte munter weiter. Dank einem Schlupfloch: Auslandsaufenthalte und kurzfristige Wohnsitzverlegungen aus der Stadt heraus. In diesen Fällen greift der Amtszwang nämlich nicht.
Heute sind die Widerstände geringer
Anfang der 90er-Jahre verabschiedete sich die PFG vom Rotationsprinzip. «In manchen Köpfen sind wir aber bis heute die Emanzen, die rotieren», sagt Andrea Hornstein und lacht. Die Gesundheitsfachfrau und Geschäftsleiterin sitzt seit 2013 für die PFG im Stadtparlament und in der Bildungskommission. Als sie Mitte der 90er-Jahre zur PFG stiess, hatte sich diese weiterentwickelt: Die Zeiten vom Parlament als Plattform waren vorbei, die PFG wollte die Stadtpolitik jetzt ganz konkret und noch aktiver mitgestalten. Das gelingt vor allem in den Kommissionen, und um in diesen zu sitzen, braucht es neben politischer Konstanz auch Fraktionsstärke. Anfang der 90er-Jahre schloss sich die PFG darum den Grünen an – «eine bunte Gruppe von Individualist:innen», erinnert sich Judith Pekarek, die von Oktober 1995 bis November 1998 für die PFG im Parlament sass. Seit 2005 bildet die PFG zusammen mit der SP und den JUSO eine Fraktion.
Die Arbeit im Parlament bezeichnen Judith Pekarek und Andrea Hornstein als bereichernd. «Mir wurde als Frau zugehört, was damals nicht überall selbstverständlich war. Und ich hatte plötzlich Einblick in Themenbereiche, über die ich mir vorhin nie Gedanken gemacht hatte», sagt Judith Pekarek. «Auch das überparteiliche Arbeiten mit den anderen Frauen dort hat mir gefallen. Zeitweise gingen wir Parlamentarierinnen regelmässig miteinander essen, um Frauenanliegen zu diskutieren. Vielleicht bin ich dadurch mit der Zeit sogar ein bisschen kompromissbereiter geworden.»
Auch Andrea Hornstein sagt: «Der PFG-Sitz hat mittlerweile einen gewissen Status. Was ich im Parlament sage, wird gehört. Es ist nicht mehr dieser ständige Kampf wie in den 80er-Jahren, die Widerstände sind heute geringer. Aber anders als die SP, die vieles mit der Kantonalpartei abstimmen muss, habe ich immer noch eine gewisse Närrinnenfreiheit und kann dadurch das eine oder andere mehr fordern. Das schätze ich sehr.» Trotz allem brauche es aber viel Vernetzung und Kooperation, um die Anliegen durchzubringen, insbesondere in der Kommissionsarbeit.
Parlament – Bewegung – Projekte
Es scheint, als wäre die PFG angepasster geworden. Oder die Gesellschaft hat sich ihr angepasst. So manches, was die Frauen damals forderten, ist heute selbstverständlich oder auf dem Weg dazu. Zweifellos hat die Partei, die immer noch lieber Bewegung sein will, in den vergangenen 43 Jahren für die Frauen in St.Gallen eine nachhaltige Rolle gespielt. Sie hat viele politisiert und den Frauen realpolitische Erfahrungen ermöglicht. Sie hat Bildungsangebote lanciert, Projekte aufgegleist, Demos angeführt und sich international mit anderen Feministinnen vernetzt.
Das ausserparlamentarische politische Engagement ist tief in der PFG verankert. Die PFG-Frauen waren auch auf der Strasse präsent, als die Proteste und Aktionen der linken Kräfte mit dem Mauerfall und dem wuchernden Neoliberalismus seltener wurden. Marina Widmer spricht von einer eigentlichen «Baisse der Linken» während der 90er-Jahre, der allgemeine Elan habe nachgelassen. Trotzdem hat die PFG auch in dieser Zeit einiges mit auf die Beine gestellt: jedes Jahr den 8. März, 1991 als Gegenfest zur 700-Jahr-Feier der Schweiz eine Hommage an die französische Revolutionärin Olympe de Gouges, 1995 ein mehrtägiges 15-Jahr-Jubiläum oder im Jahr 2000 den Marche Mondiale des Femmes – und selbstverständlich die zwei landesweiten Frauenstreiks 1991 und 2019.
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1791 verfasste Olympe de Gouges die «Déclaration des droites de la femme de la citoyenne», «Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin.» Die PFG organisierte 1991 anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums ein Fest.
Wenn sie nicht auf der Strasse oder im Parlament waren, haben sich die PFG-Frauen aktiv an diversen Projekten beteiligt. Die Frauenbibliothek Wyborada, der Frauenpavillon im Stadtpark, die Wen-Do-Selbstverteidigungskurse, der Stadtladen, der Antirassismustreff Cabi, die Frauenschule Aida, das Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte, die Kinderbetreuung IG Rutschbahn oder die Feministischen Juristinnen Ostschweiz: Bei all diesen Projekten, die mittlerweile zu Institutionen geworden sind, hatten PFG-Frauen ihre Finger im Spiel, mal mehr und mal weniger.
«Zeitweise waren wir ein regelrechter Durchlauferhitzer», erklärt PFG-Mitgründerin Marina Widmer. «Die Frauen kamen, engagierten sich und verstreuten sich dann wieder in diversen Projekten, wo sie mit anderen autonomen Gruppen und Personen zusammengearbeitet haben. Es ist beeindruckend, was alles umgesetzt und welche Kräfte da zum Teil entfesselt wurden durch diese Zusammenschlüsse.»
Die PFG ist noch lange nicht fertig
In den letzten Jahren ist es etwas ruhiger geworden um die PFG. Nach dem letzten Frauenstreik 2019 sind zwar wieder ein paar jüngere Frauen dazugekommen, auch aus der Klimabewegung, aber Corona hat der PFG den frischen Wind wieder aus den Segeln genommen. Es sei nicht einfach, Neuzugängerinnen zu halten, räumt Judith Pekarek ein. «Gerade junge berufstätige Mütter haben oft nicht die Kapazitäten, sich auch noch politisch zu engagieren.» Aktuell bilden acht Frauen das Kernteam, hinzu kommen rund 300 langjährige Unterstützerinnen, die sogenannten Mitfrauen, und natürlich die Stimmen der Wähler:innen. Bei den Parlamentswahlen 2020 waren es 2241. «Akute Nachwuchsprobleme haben wir nicht», sagt Andrea Hornstein, «aber wir freuen uns jederzeit über neue Frauen und ihre Perspektiven. Dieser Austausch ist uns sehr wichtig.»
Die Themen gehen der PFG trotz allem noch lange nicht aus. Andrea Hornstein zählt auf: «Es braucht nach wie vor verstärkt Massnahmen, um Armut zu verhindern, Gewalt insbesondere gegen Frauen und Kinder zu stoppen, die tatsächliche Gleichstellung voranzutreiben, Partizipation zu fördern und das Klima zu schützen. «Und wir müssen natürlich weiter fleissig am Geschlechterkorsett rütteln», ergänzt Judith Pekarek. «Nicht nur für Frauen, auch für Männer, Kinder und queere Menschen ist dieses immer noch viel zu eng.»
Womit auch die Frage geklärt wäre, warum es die PFG immer noch gibt und auch braucht. In Zeiten, wo Ständerätinnen zum Kampf gegen «Wokeness» blasen und «Gender-Tage» an Schulen aufgrund von Sicherheitsbedenken abgesagt werden müssen, siehe Stäfa, tut feministische Politik not – in den Parlamenten, Institutionen und auf der Strasse.
Feministischer Streik 2023: 14. Juni, Stadt St.Gallen
Das feministische Streikkollektiv St.Gallen ruft am 14. Juni erneut auf die Strassen für Gleichstellung, Gerechtigkeit und Freiheit. Auch vier Jahre nach dem Frauenstreik 2019 werden Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans, agender und genderqueere Personen (FLINTAQ*) in vielen Lebensbereichen benachteiligt. Von der Wirtschaft über die Politik bis ins Private: Sie leisten mehr unbezahlte Care-Arbeit, bekommen tiefere Löhne und weniger Renten, erleben Diskriminierungen, Bevormundungen, Belästigungen und Gewalt.
Der Tag beginnt mit einem Sternmarsch zum Streikplatz in der Marktgasse St.Gallen, wo ab 10.45 Uhr verschiedene Aktionen, Reden und Performances stattfinden, mit Barbetrieb und Risotto. Um 11 Uhr zeigen Pascale Pfeuti und Anja Tobler die «Perfemme*ance» Ein Volksfeind. Ab 16 Uhr gibt es Musik von Kisanii Pittoreska, Kader und Dilek, Spoken Words von Piera Cadruvi und Texte von Laura Vogt. Die Moderation übernimmt Rebecca C. Schnyder. Um 18 Uhr findet die grosse Demo statt, anschliessend die After-Party mit DJ Pa-Tee.
Neue Frauenbewegung
In den westlichen Ländern bildeten sich die ersten Gruppen der Neuen Frauenbewegung Ende der 1960er-Jahre. Als Geburtsstunde der Neuen Frauenbewegung in der Schweiz gilt der Protest der Frauen der späteren Frauenbefreiungsbewegung (FBB) an der Jubiläumsveranstaltung des Zürcher Frauenstimmrechtvereins 1968.
In der Ostschweiz nahm die Neue Frauenbewegung 1974 mit der Gründung der Frauengruppe St.Gallen Fahrt auf, die sich noch im selben Jahr der FBB anschloss. Die Initiative ergriff eine Ökonomiestudentin der HSG, die kurz davor aus Berlin zurückgekehrt war. Rund 30 Frauen haben sich in der Frauengruppe St.Gallen zusammengeschlossen, darunter Lehrerinnen, Studentinnen, Kindergärtnerinnen, Hausfrauen und Angestellte. 1978 gehörten bereits rund 90 Frauen zur hiesigen Frauengruppe, die verschiedene Untergruppen hatte, unter anderem eine Frauenbeizgruppe, zwei Selbsterfahrungsgruppen oder eine Gruppe zum Thema Gewalt an Frauen. Für Aufruhr sorgte die Frauengruppe St.Gallen erstmals, als sie die Studentenzeitschrift «Prisma» der HSG 1976 einem feministischen Makeover unterzog.
FBB
Die Frauenbefreiungsbewegung FBB war die grösste Gruppe der Neuen Frauenbewegung in der Schweiz und hatte ihre Wurzeln unter anderem in den Studentenrevolten. Im Februar 1969 trat in Zürich erstmals eine Gruppe von Frauen als Frauenbefreiungsbewegung auf, in Anlehnung an das amerikanische Women’s Liberation Movement. Sie hatte schon im Jahr davor mit einer Störaktion beim Frauenstimmrechtsverein für Aufruhr gesorgt (siehe oben). Bald gründeten sich in allen Landesteilen lose, untereinander vernetzte autonome Gruppen; in der französischen Schweiz das Mouvement de libération des femmes, MLF (ab 1970), und in der italienischen Schweiz u.a. das Movimento femminista ticinese, MFT (ab 1972).
In Anlehnung an den Slogan «Das Private ist politisch» verknüpfte die FBB Kapitalismus- mit Patriarchatskritik. Sie grenzte sich stets ab von der institutionellen Politik, beteiligte sich aber immer wieder an Ini-tiativen und Vorstössen. 1988 hat sie sich aufgelöst. Ein wichtiges Organ der FBB war die ab 1975 in Zürich herausgegebene «Fraue-Zitig», 1995 umbenannt in «FraZ». Sie erschien noch bis 2009.
OFRA
Die Organisation für die Sache der Frau (OFRA) wurde im März 1977 im Anschluss an die Zürcher Frauenwoche gegründet und war eine der wichtigsten Organisationen der Frauenbefreiungsbewegung. Initiantinnen waren die Frauen der Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH). Bald gab es im ganzen Land etliche Sektionen und Initiativgruppen, die sowohl auf klassische politische Instrumente als auch auf medienwirksame Aktionen und Proteste setzten. Eine wichtige Multiplikatorin und Plattform war die von 1975 bis 1998 erschienene Zeitschrift «Emanzipation». 1981 trat auch die PFG der OFRA als Sektion bei und führte ab dann den Doppelnamen PFG/OFRA. Ende 1997 wurde die OFRA aufgelöst und die nationale Folgeorganisation FemCo (feministische Koalition) gegründet.
UFF!
Die PFG-Liste 1980 war die erste autonome Frauenliste in der Schweiz. Andere folgten erst Ende der 80er-Jahre: 1987 die FraP in Zürich und die Unabhängige Frauenliste Luzern, 1991 die FraB Basel, die Frapoli Aarau und die Frauengruppen Solothurn. 1993 schlossen sie sich zu den unabhängigen, feministischen Frauenlisten UFF! Schweiz zusammen. Mittlerweile haben sich die verschiedenen Frauenlisten alle wieder aufgelöst – ausser
die PFG St.Gallen.