Die Turnerin und der Diktator

Vor drei Jahren startete Nathalie Grand in St.Gallen ein Projekt zur Förderung des Mädchen- und Frauenfussballs. Bis zum Beginn der Frauen-EM 2025 in der Schweiz schreibt sie über Frauen, Sport und Gleichstellung.
Von  Nathalie Grand , Bilder:  Lea Le

Ich fragte kürzlich eine Freundin, welche weiblichen Vorbilder sie als Jugendliche im Sport gehabt habe. Ohne lange zu überlegen, nannte sie Nadia Comăneci. Die rumänische Sportlerin war eine Ikone des Turnsports. Mit ihrer Kür am Stufenbarren an den Olympischen Sommerspielen in Montreal von 1976 stellte die damals 14-Jährige die Sportwelt auf den Kopf. Sie war die erste Turnerin, die vom Kampfgericht mit der perfekten Note 10,0 ausgezeichnet wurde.

Die Kehrseite der Medaille: Die Leistungen der fünffachen Goldmedaillen-Gewinnerin wurden bis zu deren Flucht 1989 in die USA für die kommunistische Propaganda missbraucht. Diktator Nicolae Ceaușescu beherrschte Rumänien mit eiserner Faust. Comăneci wurde von der westlichen Lebensweise abgeschirmt, von der Geheimpolizei Securitate überwacht und von ihren Trainern missbraucht. Die Wirtschaft war am Boden und die Bevölkerung verarmte, da sollte die Turnerin das Volk mit sportlichen Erfolgen beruhigen.

Eigentlich geht es den Sportler:innen bei Olympia heute nicht besser: Sie sollen als Stolz der Nation die Erwartungen des Publikums erfüllen und die Menschen von ihren Problemen ablenken. Wenn die US-Amerikanerin Simone Biles in Paris ihre Übungen turnte, liessen sich nicht nur viele Sportlegenden und Promis blicken, auch tausende Fans schwenkten erwartungsvoll die US-Fahne und hielten sich bei der Hymne die Hand an die Brust.

Wenn die schwarze Sportlerin vollkommene Leistungen zeigte, wurde sie von den Zuschauer:innen vergöttert, wenn sie sich menschlich zeigte und stürzte, wurde hinter ihrem Rücken «gezischt». Die «kleine Schildkröte» ist aber nicht nur sportlich für mich eine GOAT. 2021 bei den Spielen in Tokio zog sie sich von fast allen Wettkämpfen zurück. Der Hauptgrund war Larry Nassar. Der ehemalige Teamarzt, der jetzt im Gefängnis sitzt, missbrauchte Hunderte von jungen Frauen und Mädchen. Auch Simone Biles ist eine Überlebende der sexuellen Übergriffe des Arztes. Die Turnerin kehrte zurück und erklärte ganz offen, dass sie jede Woche zur Therapie gehe.

In Paris hat die 27-Jährige zudem gezeigt, dass auch «Golden Girls» grossartige Sportlerinnen sein können. Sie hat nicht nur vier weitere Medaillen gewonnen, mit einer Social-Media-Aktion hat sie sich weit über den Sport hinaus Respekt verschafft. «I love my black job», postete die 142 Zentimeter kleine Turnkönigin. Damit spielte sie auf das rassistische Konzept des Möchtegern-Diktators Trump an, dass Schwarze in den USA nur Hilfsjobs ausführen könnten.

Der Song zum Text: «Die Südstaaten-Bäume tragen merkwürdige Früchte, Blut auf den Blättern und Blut an den Wurzeln.» Das sind die ersten Zeilen des Songs Strange Fruit, der die afroamerikanische Sängerin Billie Holiday 1939 weltweit bekannt machte und untrennbar mit dem politischen Kampf um Gleichberechtigung verbunden ist.