Die Töfflibuben und der göttlichste Käse

Der Erstling der französisch-schweizerischen Regisseurin Louise Courvoisier ist eine Entdeckung: eine temporeiche Tragikomödie über die Rauheit des Landlebens, sprachlose Trauer, starke Frauen und tolpatschige Männer.

Man soll­te sich we­der vom Trai­ler noch vom deut­schen (Köni­ge des Som­mers) noch vom in­ter­na­tio­na­len (Ho­ly Cow) Ver­leih­ti­tel ab­schre­cken las­sen. Vingt Dieux ist kei­ne lieb­li­che Co­ming-of-Age-Ge­schich­te, kein tes­to­ste­ron­ge­steu­er­tes Dorf­thea­ter und auch kei­ne Do­ku­fik­ti­on über Käse­her­stel­lung. Was al­ler­dings das Do­ku­men­ta­ri­sche in die­sem Lang­film­de­büt der 1994 ge­bo­re­nen Loui­se Cour­voi­sier be­trifft, so zeigt Vingt Dieux hier viel­leicht sei­ne er­staun­lichs­te Sei­te: Sämt­li­che Dar­stel­ler:in­nen sind Lai­en, stam­men aus der Ge­gend, in der der Film spielt, und sie ver­körpern weit­ge­hend sich sel­ber.

An­ge­sie­delt ist das al­les in Pi­mo­r­in und Um­ge­bung, ei­nem 200-See­len-Dorf im Her­zen des fran­zösi­schen Ju­ra. Auch Re­gis­seu­rin Loui­se Cour­voi­sier stammt von hier. Sie wuchs in Cressia auf, ei­nem Nach­bar­ort von Pi­mo­r­in, 250 Ein­woh­ner:in­nen, die Di­stanz nach Genf be­trägt 80 Ki­lo­me­ter, und die nach Lons-le-So­nier, dem Dépar­te­ment-Haupt­ort des Ju­ra Français, 20 Ki­lo­me­ter.

Es ist ei­ne raue Ge­gend von be­rau­schen­der Schönheit, in der die bald sanf­te, bald schrof­fe Na­tur­land­schaft mit der Ge­schich­te der Haupt­fi­gur, dem 18-jähri­gen Bau­ern­sohn Ton­to­ne, in idea­ler Wei­se har­mo­niert. Ton­to­ne ist nach dem plötz­li­chen Tod sei­nes dem Al­ko­hol zu­ge­ta­nen, ver­wit­we­ten Va­ters plötz­lich auf sich al­lein ge­stellt, muss für sich und sei­ne klei­ne Schwes­ter Loui­se sor­gen und da­zu ir­gend­wie auch noch den Hof über die Run­den brin­gen.

Kuh­saft und Stock-Car-Race

Das ers­te Bild in Vingt Dieux ist so spek­ta­ku­lär wie ir­ri­tie­rend: Ein Kalb steht auf dem Bei­fah­rer­sitz ei­nes par­kier­ten Au­tos und blickt aus dem Fens­ter. In ei­ner lan­gen Ein­stel­lung folgt die Ka­me­ra dar­auf­hin ei­nem Mann in ärmel­lo­sem T-Shirt, of­fen­sicht­lich der Be­sit­zer von Kalb und Au­to, wie er sich ei­nen Weg bahnt. Vor­bei an Es­senss­tänden, ei­nem klei­nen Fest­zelt und ei­ner Men­schen­men­ge, die der Ro­deo-Rei­te­rin auf ei­ner Wie­se zu­sieht, steu­ert der Mann ziel­si­cher auf sei­nen ei­ge­nen Stand zu, ei­nen Bier­aus­schank. Ei­ne joh­len­de Grup­pe jun­ger Bur­schen er­war­tet ihn, ruft ihm zu, sie hätten Durst – und sie ap­plau­die­ren, als er den Zapf­hahn öff­net. Will­kom­men am Som­mer­fest im fran­zösi­schen Ju­ra.

Hier sind die Sit­ten rau, et­wa in der Art, wie schnell hier bis­wei­len die Fäus­te zum Ein­satz kom­men. Das er­in­nert et­was an ei­nen Wes­tern, und man fährt nicht nur nachts be­sof­fen Au­to, son­dern man ver­an­stal­tet mit auf­ge­motz­ten Schrott­kar­ros­sen Stock-Car-Ren­nen. Der Schau­wert die­ses Spek­ta­kels ist in der Tat be­acht­lich: Auf ei­ner Na­tur­pis­te krei­sen die zer­schlis­se­nen Ge­fähr­te her­um und es ge­winnt, wer sich so oft wie möglich über­schla­gen und da­bei so lan­ge wie möglich im Ren­nen blei­ben kann.

Und man fährt hier Last­wa­gen, auch wenn man kei­nen Fahr­aus­weis hat. Mit be­sag­tem Ge­fährt, ei­nem LKW mit Milch­tank, soll Ton­to­ne den kost­ba­ren Kuh­saft auf den Höfen in der Ge­gend ein­sam­meln, doch an sei­nem ers­ten Ein­satz­ort, dem Hof der al­lein­le­ben­den Jung­bäuerin Ma­rie-Li­se, schliesst er den Milch­schlauch falsch an, das weis­se Nass spritzt mit Hoch­druck auf Ma­rie-Li­se und ihn sel­ber. Die­se ers­te Be­geg­nung, in die man viel­leicht ei­ne et­was bra­chia­le Sym­bo­lik hin­ein­in­ter­pre­tie­ren könn­te, ist tat­sächlich der Be­ginn ei­ner Lie­bes­ge­schich­te.

An­ar­chie und Spiel­witz

Das Le­ben in Pi­mo­r­in ist so ar­cha­isch wie an­ar­chisch. Pro­ble­me re­gelt man un­ter­ein­an­der, wie er­wähnt, oft mit Fäus­ten und Fuss­trit­ten und über­haupt mit vol­lem Körper­ein­satz – und ei­ne Staats­macht in Form von Po­li­zei scheint hier nicht zu exis­tie­ren. Das ein­zi­ge Mal sieht man so et­was wie staat­li­che Au­to­ri­tät, als sich Ton­to­ne in der ört­li­chen Käse­rei nach den Be­din­gun­gen für die Teil­nah­me an ei­nem hoch do­tier­ten Wett­be­werb für den bes­ten «Con­té»-Käse (ei­ne streng ge­schütz­te Mar­ken­be­zeich­nung für den Käse aus der Re­gi­on) er­kun­digt und man ihm erk­lärt, was er al­les er­füllen müss­te, um über­haupt teil­nah­me­be­rech­tigt zu sein.

Doch Ton­to­ne lässt sich nicht ent­mu­ti­gen, zu­sam­men mit sei­ner Töff­li-Gang und mit viel List und Tücke schafft er das Wun­der, wenn auch auf durch­aus märchen­haft an­mu­ten­de Wei­se. Die­se Märchen­haf­tig­keit kon­tras­tiert ge­konnt mit den do­ku­men­ta­ri­schen Sze­nen über die Käse­her­stel­lung oder spek­ta­ku­lär in ei­ner (fast) in Echt­zeit ge­zeig­ten Ge­burt ei­nes Kal­bes.

Das Cas­ting hat Loui­se Cour­voi­sier un­ter an­de­rem an ei­ner bäuer­li­chen Fort­bil­dungs­schu­le durch­ge­führt. Hier fand sie auch die 23-jähri­ge Maïwène Bar­thélémy, ei­ne Bäuerin, die ge­ra­de dar­an war, ihr Zer­ti­fi­kat in Milch­vieh­al­tung zu ma­chen. Die jun­ge Frau, die die Haupt­rol­le der toug­hen Ma­rie-Li­se spielt, ist sich auch nach ih­rem Er­folg von Vingt Dieux – sie er­hielt bei den dies­jähri­gen Césars den Preis als bes­te Nach­wuchs­dar­stel­le­rin – ziem­lich si­cher, dass sie ih­ren land­wirt­schaft­li­chen Ab­schluss ma­chen wird. Sie sagt: «Ich weiss ja nicht, ob ich je­mals wie­der die Möglich­keit ha­be, Fil­me zu ma­chen.» Auch der männ­li­che Prot­ago­nist, der 20-jähri­ge Cle­ment Fa­veau, der die Rol­le des Ton­to­ne mit viel Spiel­witz ver­körpert, ist kein Schau­spiel­pro­fi. Im rea­len Le­ben ver­dient er sein Geld als Hühner­züch­ter.

Vingt Dieux: bis 19. Mai.

ki­nok.ch