Die sumpfige Chronik der Gallenstadt

Can Isik verlieh seiner Trauer über Pfahlbauers Abgang mit einem Plakat Ausdruck. 

Als Charles Pfahlbauer jr. hat Marcel Elsener 23 Jahre lang «Nachrichten aus dem Sumpf» gesandt und in den Saiten-Kolumnen die Ereignisse in der Ostrandzone grantig und ironisch beobachtet. Ein Buch versammelt nun eine Auswahl der schönsten Sumpfblüten.

Ein Ko­lum­nen­buch hat­te uns ge­ra­de nicht ge­fehlt. Aber Charles Pfahl­bau­er jr. hat es trotz­dem ge­tan: Er hat 70 von sei­nen ins­ge­samt 250 Sai­ten-Ko­lum­nen aus­ge­wählt und zwi­schen zwei Buch­de­ckel bin­den las­sen. Ge­mäss Un­ter­ti­tel sind es die «lus­tigs­ten und ab­grün­digs­ten». Ein «Lus­ti­ges Ta­schen­buch» ist es denn auch dem For­mat nach, nur ganz so far­ben­lus­tig ist der schwar­ze De­ckel nicht. Passt aber zum schwarz­hu­mo­ri­gen In­halt.

Es ist ein Buch von ei­nem, der no­ta­be­ne zehn­mal lie­ber über Fil­me und Songs schreibt und im Ab­spann auch ei­nen Sound­track mit­lie­fert. Bü­cher kom­men bei ihm haupt­säch­lich beim Aus­mis­ten vor. Und doch muss­te es jetzt ein Buch sein. Da­mit man es in die Hand neh­men und wei­ter­ge­ben kann? Ein star­kes In­diz für die­se Tro­phä­en­theo­rie wä­re das Co­ver­bild des aus­ge­stopf­ten Bä­ren mit der Flin­te in den Tat­zen. Und viel­leicht woll­te sich der Pfahl­bau­er da­mit in Bi­blio­the­ken und Bü­cher­ge­stel­le ein­nis­ten (hm, bis zum über­nächs­ten Aus­mis­ten) und da­mit ak­ten­kun­dig wer­den als Teil der Kul­tur­sze­ne von St.Gal­len – zu der Char­lie im Üb­ri­gen ei­ne iro­ni­sche Di­stanz wahrt. 

Kult­sta­tus be­sitzt das, was sich Mar­cel El­se­ner von 2001 bis 2024 Mo­nat für Mo­nat bis nach Re­dak­ti­ons­schluss als Ge­brauchs­text ab­ge­run­gen hat, al­le­mal: Die Fan­post nach dem En­de der «Nach­rich­ten aus dem Sumpf» be­legt es. Pe­ter Sur­bers fein­sin­ni­ge Wür­di­gung wur­de jetzt zum Nach­wort des Buchs. Was bleibt da noch zu sa­gen in ei­ner «kri­ti­schen Re­zen­si­on», wie von der Re­dak­ti­on ge­wünscht? Mis­si­on im­pos­si­ble! Ich wer­fe dar­um drei nicht ganz wahl­los aus dem In­ter­net ge­fisch­te Ur­tei­le über «gu­te Bü­cher» in den Ring.

Manuel Stahlbergers gezeichnete Hommage aus dem Februarheft 2024 von Saiten. 

«Mich in­ter­es­siert in der Li­te­ra­tur ei­gent­lich nur der Mensch. Mäu­se und Kü­he in­ter­es­sie­ren mich nicht.» (Mar­cel Reich-Ra­ni­cki)

Kü­he ge­hö­ren für Pfahl­bau­er ins Kuh­fla­den­land, hin­ge­gen hegt er für Mäu­se und Fle­der­mäu­se, Wel­se, Dach­se, Sa­la­man­der und al­ler­lei an­de­res Ge­tier gros­se Zu­nei­gung. Und man muss sa­gen: Der Li­te­ra­tur­papst irrt. Denn der Sumpf, aus dem die­se Nach­rich­ten kom­men, ist ein Bio­top. Was Men­schen dar­in im Na­men der Zi­vi­li­sa­ti­on an­rich­ten – sei­en es Mar­ke­ting­für­ze, Park­platz­fan­tas­te­rei­en oder Rauch­ver­bo­te – durch­kreu­zen die Tie­re. Sie spie­geln den mensch­li­chen Irr­sinn und er­zäh­len sehr viel dar­über, was wir nicht sind und heim­lich wohl ver­mis­sen. 

Aus­ser­dem: Die­ser Pfahl­bau­er ist ewi­ger Nörg­ler, ein Mis­an­throp und erst noch ein weh­lei­di­ger Typ. Über al­les, was er in der Gal­len­stadt und an sich selbst er­fährt, er­giesst sich sein Spott. Nie­mals aber über die Tie­re, da wird er weich und zeigt sein Herz. «Die Tie­re kön­nen nichts da­für, wenn die Men­schen ver­sa­gen.»

«Der Au­tor hat kein Ta­lent, son­dern ist ein Glücks­pilz.» (über Wil­liam Gol­dings Lord of the Flies, Her­kunft un­be­kannt)

Sei­ne ers­te Ko­lum­ne mag Mar­cel El­se­ner no­lens vo­lens ge­schrie­ben ha­ben, das sug­ge­riert der ers­te Text. Viel­leicht war sie ein Glücks­griff. Aber was er in den 23 Jah­ren dar­aus ent­wi­ckel­te, ist ein Pan­op­ti­kum von ku­rio­sen Fi­gu­ren, die man ir­gend­wann zu sei­nen al­ten Be­kann­ten zähl­te und von de­nen man wis­sen woll­te, was sie neu­er­dings wie­der um­treibt. Da zeigt sich Kön­ner­schaft. Ver­le­gen­heits­lö­sun­gen wie DD (Drin­gen­de Darm­ent­lee­rung) für ein vor­zei­ti­ges En­de oder un­schar­fe Ti­tel wie «La­den­lo­ka­le und Wasch­bä­ren» sind sel­ten. Und so­gar den Traum, die­sen ul­ti­ma­ti­ven Aus­weg von Au­tor:in­nen, die nicht mehr wei­ter­wis­sen, ver­zeiht man ihm, weil er ihn der­mas­sen mons­trös über­stei­gert.

Die Tex­te von El­se­ner sind al­les an­de­re als tef­lon­glat­te KI-Mach­wer­ke: Ihr Sound ist un­ver­kenn­bar gran­tig, die Na­del­sti­che tref­fen den Nerv. Ein die­bi­sches Ver­gnü­gen be­rei­ten al­lein schon die ei­gen­sin­ni­gen Be­nen­nun­gen, die zur Kennt­lich­keit ent­stel­len: Grögraz, Ro­schee Dor­nim­au­ge, die Ku­schel­z­wil­lin­ge oder Teevau­null, Gru­sig uf de Gass, Pip­pi­ban­ken­platz. Der Er­zäh­ler treibt durch die Ost­rand­zo­ne und fin­det da­bei im­mer et­was (im wahrs­ten Sinn des Wor­tes) Auf­re­gen­des, das er as­so­zia­tiv ins Ab­sur­de führt. Er­gän­zend zu den Tex­ten lie­fert er ei­ne wit­zi­ge Bild­schie­ne mit enig­ma­ti­schen Bot­schaf­ten, von de­nen der Buch­ge­stal­ter Adri­an El­se­ner noch ei­ni­ge zu­sätz­li­che ins Buch ge­schmug­gelt hat.

«Ein gu­ter Ro­man ist ein Teil des Le­bens, der in das Le­ben hin­ein­wächst.» (Ja­mes Joy­ce)

Hopp­la, ein gros­ser Stie­fel. Dub­lin ist Char­lie zwar herz­lich egal, aber es geht auch in der Gal­len­stadt: durch die Stras­sen und die Ba­na­li­tä­ten des All­tags fla­nie­ren und da­bei sei­ne Ge­dan­ken flies­sen las­sen. Die Nach­rich­ten aus dem Sumpf neh­men über all die Jah­re im­mer wie­der ak­tu­el­le Er­eig­nis­se auf, klop­fen sie ab und schla­gen Ver­bin­dun­gen, bis die Fun­ken sprü­hen. Der Pfahl­bau­er ist in das Stadt­le­ben hin­ein­ge­wach­sen wie sonst viel­leicht nur noch Stahl­ber­gers Herr Mä­der. Das ist die gros­se Leis­tung die­ser Ko­lum­nen. 

An­de­rer­seits ist ih­nen da­mit auch ein Ab­lauf­da­tum ein­ge­schrie­ben. Was vie­le in der Stadt heu­te noch zu­ord­nen kön­nen, wird in der Er­in­ne­rung im­mer mehr ver­blas­sen. Schon jetzt er­tappt man sich beim Le­sen durch all die ver­gan­ge­nen Pfahl­bau­er-Jah­re ab und zu beim Suh­len im Sumpf der Nost­al­gie. Tut gut.

 

Mar­cel El­se­ner ali­as Charles Pfahl­bau­er jr.: Nach­rich­ten aus dem Sumpf. Die lus­tigs­ten und ab­grün­digs­ten Sai­ten-Ko­lum­nen aus über zwei Jahr­zehn­ten. Sai­ten Ver­lag, St.Gal­len 2024. Be­stel­lun­gen an ver­lag@sai­ten.ch