Die St.Galler Festspiele sagen Njet

Die russische Kultur boykottieren? Das wäre ein weiterer Sieg des Gewaltherrschers Putin, meinen besonnene Stimmen und warnen davor, alles Russische unter Generalverdacht zu stellen.
So sieht es auch Werner Signer, geschäftsführender Direktor von Konzert und Theater St.Gallen: Das Theater werde weiterhin und auch in der nächsten Spielzeit russische Texte und Kompositionen auf die Bühne bringen. Eine «Kapitulation» der Kunst vor der Politik sei kein Thema.
Dennoch setzen die St.Galler Festspiele ihre geplante Oper auf dem Klosterplatz ab. «Der brutale Einmarsch Russlands in die Ukraine» zwinge sie dazu, Tschaikowskys Jungfrau von Orleans vom Spielplan zu nehmen, heisst es in der am Donnerstag vormittag verschickten Medienmitteilung.
«Angesichts des unvermindert anhaltenden Kriegsgeschehens im Osten Europas können wir es nicht verantworten, im öffentlichen Stadtraum ein russisches Werk aufzuführen, dessen Musik kriegerische Handlungen zugrunde liegen», lautet die Begründung. Auch wenn das Thema der Oper «durch und durch französisch» sei: Ein Festival im öffentlichen Raum verlange, anders als eine Aufführung im geschlossenen Saal, «nach einer speziellen Art der Rücksichtnahme».
Zu martialisch?
Tatsächlich hätte das Theater eine Inzenierung im Haus trotz des Kriegs nicht abgesagt, ergänzt Werner Signer auf Nachfrage. An den exponierten Spielort mitten in der Stadt und im Welterbe-Klosterbezirk würden jedoch andere Ansprüche gestellt. «Das muss man ernst nehmen»; drei Wochen lang die Stadt mit einem russischen Werk zu bespielen, in dem der Krieg eine zentrale Rolle spielt und das entsprechend martialische Passagen enthält, sei in der aktuellen Lage nicht angebracht.
Von einem «Akt der Rücksichtnahme auf die Gefühle all jener, die von der Situation unmittelbar betroffen sind», spricht auch Operndirektor Jan Henric Bogen gegenüber dem «Tagblatt».
«Wir haben um den Entscheid gerungen», sagt Signer. Fragen seien schon im Februar, vor Beginn des Kriegs aufgetaucht. Aber vorerst überwog bei ihm und Operndirektor Bogen die Hoffnung auf ein rasches Kriegsende. Die hat sich inzwischen zerschlagen. Kommt hinzu, dass einer der Solisten aus der Ukraine stammt und zum Krieg eingezogen worden ist. Über Ostern sei dann der Entscheid zum Wechsel des Stücks definitiv gefallen.
Tschaikowsky hat sich im von ihm selbst verfassten Libretto zur Oper tatsächlich stark auf das Schlachtgeschehen fokussiert. So stark, dass seine Jungfrau von Orléans (im russischen Original «Orleanskaja Deva») nach dem Zweiten Weltkrieg dank ihrer martialisch-patriotischen Züge zur Siegesoper stilisiert wurde, mit Inszenierungen 1945 in Leningrad oder 1958 in Tiflis. Die Uraufführung hatte 1881 in St.Petersburg stattgefunden, zwei Wochen später wurde Zar Alexander II. ermordet und der ganze Theaterbetrieb auf Eis gelegt. Tschaikowskys Stück war so trotz Publikumserfolg vorerst in Vergessenheit geraten.
Bereits 2008 auf dem Klosterhof
Statt der russischen Orleanskaja Deva stirbt jetzt auf dem Klosterhof die italienische Giovanna d’Arco auf dem Scheiterhaufen. Verdis 1845 entstandene Fassung zeichnet ein persönlicheres Bild der Jeanne und ihrer Liebesgefühle; stärker als der Krieg stünden hier die inneren Konflikte der Protagonisten im Vordergrund, sagt Signer.
Giovanna d’Arco erlebt damit eine Wiederauferstehung: Bereits 2008, an den dritten St.Galler Festspielen, stand Verdis Frühwerk im Klosterhof auf dem Programm, in einer damals musikalisch überzeugenden, aber als zu statisch kritisierten Inszenierung von Regie-Altmeister Giancarlo del Monaco.
Warum das Theater zwar das Stück wechsle, aber am Thema festhalte, sei auch ein Stück «Schadensbegrenzung», sagt Signer. Der Stoff bleibt der gleiche, das Konzertprogramm (inklusive russischer Orgelmusik) und der Tanz in der Kathedrale finden unverändert statt, die Bühnenanordnung bleibt so wie für Tschaikowsky geplant, das Leitungsteam bleibt, und auch die Besetzung versuche man möglichst beizubehalten.
Zwei Monate vor der Premiere fänden zwar noch keine Proben statt, aber vieles sei bereits im Entstehen – und eine besondere Herausforderung sei die kurzfristige Umstellung für die Laien-Opernchöre. Unverändert gelten bereits gekaufte Tickets auch für die neue Produktion.
Wissen, was man tut
Der Verzicht auf musikalisch «fetziges» russisches Waffengeklirr im öffentlichen Raum ist angesichts der Tragödie in der Ukraine nachvollziehbar. Allerdings war solche Correctness an den St.Galler Festspielen bisher nicht das Thema.
Denn dass im klassischen Opernrepertoire oft Krieg herrscht, dass religiöse oder nationalistische Konflikte das Geschehen bestimmen, ist alles andere als neu. Auch die Geschlechterverhältnisse lassen in den historischen Stoffen naturgemäss zu wünschen übrig – so waren gerade bei den beiden letzten Verdi-Inszenierungen im Rahmen der Festspiele, bei Attila 2013 und bei Trovatore 2019, wüste Schlachtengemälde zu sehen, siehe hier oder hier. Puccinis Edgar, 2018, war im Kern eine aufgeheizte Flüchtlingstragödie. Und über die verstaubten Männer- und Frauenbilder in Franz Schmidts Notre Dame konnte man sich 2021 ordentlich aufregen.
Drum müsste die Devise, radikaler als bei einer einzelnen noch so wohlüberlegten Entscheidung, lauten: Wer alte Opernstoffe reanimiert, muss wissen warum. Wer anno 2022 eine Jeanne d’Arc auf die Bühne bringt, muss sich unabhängig vom jetzigen Krieg oder von der Herkunft des Komponisten im Klaren sein, was er oder sie damit tut.
Pittoreske Gräberfelder und blutrot flammende Lichteffekte, wie sie die klassische Opernkulinarik noch immer und auch in St.Gallen parat hat, passen definitiv nicht mehr in die Zeit. Insofern kann man den Verzicht auf Tschaikowskys flammenwerfende Freiheitsheldin gutheissen – aber sollte mit ebenso kritischem Blick auf die Verdi-Alternative schauen.
Wie weiter mit dem kriegslüsternen Opernrepertoire? Generell könnte gerade das Theater, im Schauspiel oder in der Oper, ein Medium sein, Bilder zu schaffen, die die Sinnlosigkeit von Kriegen und die Folgen von Konflikten ins Bewusstsein brächten, sagt Werner Signer. Aber erstmal hängt für ihn vieles davon ab, wie sich der Ukraine-Krieg entwickle und es mit einer Welt weitergehe, «in der man nicht geglaubt hätte, dass solche Gräuel noch einmal möglich sein würden».