Die «Schrüübler» von Rehetobel

In Ausserrhoden steht das weitherum einzige Velomuseum. In ihm lässt sich der Wandel des Fahrrads studieren – und jedes Vehikel hat seine eigene Geschichte. Nach einem Umbau öffnet das Museum diesen Freitag seine Türen.
Von  Peter Surber
Blick ins Velomuseum Rehetobel. (Bilder: Fritz Heinze)

«Mer sind Schrüübler.» So stellt sich François Cauderay vor. Wir stehen im Obergeschoss des Velomuseums: ein Holzgaden mitten in Rehetobel, das frühere Spritzenhaus. Unten wird der Boden neu ausgelegt, in einem Nebenraum sind die Kollegen des Old Bicycle Fan Club am Reparieren. Es sei ein Grundsatz des Museums, dass die ausgestellten Velos auch fahrtauglich sein sollen, erklärt Cauderay, Präsident des Museums, vor einem der ältesten, blitzblank geputzten Fahrräder, dem Tretkurbelrad «Landquarter» aus dem Jahr 1869.

Ein Museum zum Anfassen also – und in die Pedale treten. Attraktion Nummer eins bei den Führungen sei jeweils das Hochradfahren. Nur für Leute mit langen Beinen zu empfehlen; dafür könne man hoch zu Rad im Nachbarhaus auf dem Küchentisch sehen, was es zum Zvieri gebe…

Jedem Velo seine Geschichte

Aber auch der «Landquarter» hat es in sich, erzählt Cauderay. Man brauche beinah jeden Muskel, um sich oben halten zu können, und die Holzräder hämmerten trotz gefedertem Sattel mächtig in die Knochen. «Boneshaker» nennt man so etwas im Velopionierland England.

François Cauderay und der «Landquarter» von 1869.

Entwickelt worden war das erste Schweizer Veloziped von einem findigen polnischen Ingenieur der Maschinenfabrik Landquart; der Tretkurbelantrieb (noch ohne Kette) war die neuste technische Errungenschaft. Irgendwann muss der «Landquarter» nach Speicher gelangt sein, wo er auf dem Estrich des Zentralschulhauses verstaubte und jeweils für die Fasnacht benutzt worden sei. Letzter Besitzer war ein Textilfabrikant aus Speicher. Der wiederum hatte es in den 1950er-Jahren zwei Buben für einen Fünfliber abgekauft, die mit dem Vehikel Rennen von der Vögelinsegg herunter fuhren. Kurz vor seinem Tod habe ihn das schlechte Gewissen geplagt, dass er das Velo den Buben damals «abgeluchst» hatte – zur Wiedergutmachung gab er es ins Museum.

Oder, vis-à-vis im Raum, das Bambusvelo, 1904 von Grundner & Lemisch in Österreich gebaut und dannzumal hoch im Kurs, weil es vergleichsweise günstig und konkurrenzlos leicht war. Ein besonders spektakuläres Objekt ist das Dreirad mit Baujahr 1889 der Firma Rudge Cycle Co.,Ltd., Coventry GB, als speziell geeignete «Maschine für Photographen, Künstler, Sportsmann, Angler und Landvermesser» angepriesen. Oder das elegante Adler No.5 aus dem Jahr 1890, mit Vollgummipneus und einer Kette, deren jedes einzelne Glied die Stanzung «Hans Renold Manchester» trägt: Der aus Baden stammende Ingenieur stieg in England zu einem der führenden Hersteller von Doppelrollenketten auf.

Auch Queen Victoria hatte eins: The Royal Sociable Salvo, Baujahr 1882.

François Cauderay, 58 Jahre alt, im zivilen Leben Vermesser, hat mit dem «Schrüübler» bös untertrieben: Er ist ein wandelndes Lexikon der Technik- und Sozialgeschichte des Velos. Beinah jedes Velo könnte eine Anekdote erzählen oder hat einen Bezug in der Region. Wie das Fahrrad des Hackbrettspielers Hans Rechsteiner (1893-1986) aus Trogen: Man sieht ihm die täglichen Touren an, die Abnutzung inklusive dem Seil, mit dem er das Hackbrett auf dem Gepäckträger festschnürte. «Der Schweiss ist noch dran an dem Velo», sagt Cauderey.

Woher diese Velopassion? Ende der 70er-Jahre hatte sich Cauderay ein Mountainbike aus einem alten Velo gebaut. Es stellte sich heraus, dass es das Fahrrad des früheren Dorfpfarrers war, mit Jahrgang 1907. Um es reparieren zu können, tauchte er in die Welt der Oldtimer ein, studierte Normen und Ersatzteile. Und kam nicht mehr los. Mit der Zeit erwarb er andere historische Velos, besuchte Veloflohmärkte, vernetzte sich mit der internationalen Sammlerszene. Am Ende besass er weit über hundert Velos, und 1994 gründete er mit anderen die Sammlergemeinschaft, die heute das Museum betreibt.

Dädalus und seine «Dadelos»

Heute ist das Velo ein Massenphänomen. Aber den ersten richtigen Veloboom gab es bereits nach 1900, als die Fahrräder zwar nicht billig, aber erschwinglich wurden. Das Velo machte die «Büezer» mobil, war mehr Arbeits- als Freizeitgerät. Arbeiter-Touring-Bünde schossen aus dem Boden. Das Aufkommen von Töff und Auto nach dem Zweiten Weltkrieg bremste das Velo vorerst aus, bis Mitte der 60er-Jahre zuerst mit den Minivelos, dann mit BMX und Mountainbikes der Aufschwung der Freizeit-Velomobilität einsetzte – bis zum Siegeszug des E-Bikes. Cauderay setzt grosse Hoffnungen in den aktuellen Boom: «Er könnte die Chance sein, die Verkehrsprobleme zu lösen.»

Drei exklusive E-Bikes gehören mit zur Sammlung – momentan im Keller gelagert, dicht an dicht neben Hunderten von Fahrrädern aller Art und Grösse. Auch sie haben ihre Geschichte: Gebaut hat sie Daniel Demuth, der in Speicher in einem Keller rund zwanzig Jahre lang an Elektromotoren und Steuerungen für Fahrräder herumtüftelte. Die «Dadelos», wie er sie nannte, waren schnell wie ein Töff, luden sich im Treten selber auf – aber brachten es wohl vor allem wegen ihres übermässigen Gewichts nie zum Erfolg.

Gerade einmal acht Prototypen habe Demuth, eine Art moderner Dädalos des Motorvelos, in all den Jahren produziert. Drei davon haben es dafür zu musealen Ehren gebracht.

Ein Fall für Individualisten

Das Velo, sagt Cauderay, ist nichts Schwieriges: «Gummi, Stahl, ein Stück Leder und viel Luft dazwischen». Zumindest optisch scheine es simpel, aber physikalisch sei es eine der erstaunlichsten Ingenieursleistungen im Bereich des Leichtgewichtbaus. «Beim Fahrrad mussten fahrdynamische Herausforderungen gelöst werden, die die nachfolgenden Vehikel der individuellen Mobilität erst ermöglichten. Mit welchem 12 Kilogramm schweren Gerät gelingt es, ein x-Faches seines Eigengewichtes mit bis zu 80 km/h beherrschbar zu bewegen?»

Das Velomuseum Rehetobel eröffnet die Saison am Freitag 7. Mai:
15-18 Uhr offen, 18 Uhr Führung

velomuseum-rehetobel.ch

Vielleicht gerade darum seien Velofahrer eine besondere Spezies. Individualisten. Wollen aufsteigen, die Route frei wählen, absteigen, wie und wann es ihnen grad passt. «Der Individualismus und das Naturerlebnis: Das macht den Reiz des Velofahrens aus. Es spricht alle Sinne an. Velofahren heisst die Umwelt er-fahren.»

Der Brooks-Sattel, erfunden von John Boultbee Brooks nach einer unbequemen Fahrt auf dem Fahrrad im Jahr 1878, patentiert 1882.

So ähnlich steht es denn auch im Büchlein, das mir Francois Cauderay am Schluss in die Hand drückt: Lob des Fahrrads des französischen Anthropologen Marc Augé (deutsch 2016): «Der erste Tritt in die Pedale ist der Beginn einer neuen Autonomie, er ist ein schöner Ausreissversuch, die spürbare Freiheit, die Bewegung der Fussspitze, wenn die Maschine auf das Verlangen des Körpers reagiert und ihm gleichsam vorauseilt. Innerhalb weniger Sekunden befreit sich der begrenzte Horizont und die Landschaft gerät in Bewegung. Ich bin anderswo. Ich bin ein anderer; und dennoch bin ich so sehr ich selbst wie sonst niemals; ich bin, was ich entdecke.»

Dieser Beitrag erschien im velofreudigen Aprilheft von Saiten.