, 4. September 2019
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«Die prekären Lebensumstände von Sans-Papiers passen nicht zur herausgepützelten Schweiz»

Matthias Rickli und Gianluca Cavelti haben die «IG Sans-Papiers SG» mitgegründet. Ein Gespräch über das Leben unter dem gesellschaftlichen Radar, fehlende Räume und das Abwägen zwischen Autonomie und Zusammenarbeit mit Behörden.

Bilder: Ladina Bischof

Saiten: Wie viele Sans-Papiers leben im Kanton St.Gallen?

Gianluca Cavelti: Genaue Zahlen gibt es nicht, da die Erhebung sehr schwierig ist. In der letzten grossen Studie von 2015 war die Rede von etwa 500 Menschen im ganzen Kanton.

Matthias Rickli: Dabei handelt es sich um Sans-Papiers im klassischen Sinn, also um Menschen, die nirgends registriert sind und einen illegalisierten Aufenthaltsstatus haben. Es gibt auch andere Schätzungen, wonach allein in der Stadt St.Gallen 500 Sans-Papiers leben. Die Dunkelziffer ist leider kaum zu benennen, unter anderem weil es keinerlei Anlaufstellen oder Institutionen für Sans-Papiers gibt im Kanton.

Wie sieht die Lebensrealität von Sans-Papiers aus?

MR: Sans-Papiers können sich kaum im öffentlichen Raum bewegen, ohne Angst, von der Polizei aufgegriffen zu werden. Die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ist somit stark eingeschränkt, die politische Mitsprache sowieso. Viele arbeiten schwarz, zum Beispiel in Haushalten, in der Sexarbeit oder in der Landwirtschaft. In diesen Bereichen sind die Ausbeutungstendenzen sehr stark, da man keine Möglichkeit hat, sich abzusichern und seine Rechte als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer einzufordern.

GC: Beim Sozialamt melden sich nur die wenigsten, da ja immer die Gefahr besteht, dass die Daten unter den Behörden weitergeleitet werden und man ausgeschafft wird. Sans-Papiers haben auch oft einen erschwerten Zugang zu medizinischer Grundversorgung, das ist ein weiteres grosses Problem. Was passiert beispielsweise, wenn ein Kind unterwegs ist oder wenn jemand stirbt?

Zu den Sans-Papiers gehören auch abgewiesene Asylsuchende aus Ländern ohne Rückführungsabkommen. Sie bekommen zwar Nothilfe und sind dadurch ein wenig besser gestellt, leben aber auch unter schweren Umständen. Welches sind ihre grössten Probleme?

MR: Einerseits gibt es Meldepflichten und diverse Aus- und Eingrenzungen, sprich abgewiesene Personen dürfen sich nur in gewissen Gemeinden oder Gebieten frei bewegen. Andererseits sind auch hier die Wohnverhältnisse sehr prekär, nicht zuletzt weil sie keiner bezahlten Arbeit nachgehen dürfen. Auch diese Gruppe ist politisch und gesellschaftlich ausgegrenzt, hat aber Zugang zur medizinischen Grundversorgung. Über ihre Lebensrealität müsste man unbedingt mehr herausfinden. Man weiss zum Beispiel, dass immer wieder Leute mit Nothilfe untertauchen, weil sie ohne die behördlichen Überwachungs- und Kontrollmechanismen fast «freier» leben können. So sind sie nicht mehr der Willkür der Ämter und Gemeinden ausgesetzt.

Warum ist es so schwer, für diese Personengruppen und Themen eine Öffentlichkeit zu schaffen?

MR: Das wichtigste wäre, dass die Betroffenen selbst eine Stimme haben. Aber es mangelt an Orten und Räumen, um sich auszutauschen und auszudrücken. Kommt hinzu, dass Sans-Papiers strukturell ausgegrenzt und entmenschlicht werden. Das verunmöglicht Begegnungen und macht es schwierig, eine Öffentlichkeit zu schaffen.

Gianluca Cavelti, 1991, macht den Master in Sozialer Arbeit und ist am Institut für Soziale Arbeit und Räume tätig. Matthias Rickli, 1988, ist beim Verein Tipiti tätig und begleitet geflüchtete, unbegleitete Minderjährige (MNA).

GC: Auch für uns ist es schwierig, Sans-Papiers zu treffen und mit ihnen in Kontakt zu treten. Was auch verständlich ist, denn wer sich «outet» oder gar öffentlich präsentiert, muss ja immer mit einer Ausweisung rechnen. Man setzt seine ganze Existenz aufs Spiel.

MR: Ein weiteres Problem ist das Unwissen vieler Behörden. Sie wissen zu wenig über die Lebensumstände von Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung, sind kaum sensibilisiert. Alles geschieht im Untergrund, es wird kaum debattiert. Das Mantra der Behörden scheint zu sein: Haben wir nicht, gibt es nicht, kennen wir nicht.

Viele Medien interessieren sich auch nicht wirklich oder nur sporadisch für Sans-Papiers…

MR: Aus journalistischer Sicht kann ich nicht sagen, warum das so ist, aber als Gesellschaft ist unser Motto ja oft: aus den Augen, aus dem Sinn. Ich habe das Gefühl, man will sich nicht mit diesem gesellschaftlichen und politischen Versagen auseinandersetzen. Die prekären Lebensumstände von Sans-Papiers passen nicht zum heilen, herausgepützelten Schweizer Kosmos. Darum werden auch Drogenabhängige und andere Randgruppen gerne ignoriert.

Mit dem Verein «IG Sans-Papiers SG» wollt ihr das Thema Sans-Papiers nun aus der Versenkung holen. Worum geht es genau?

GC: Wir bedauern es sehr, dass es in der Ostschweiz keine Anlaufstelle für Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung gibt. Das wollen wir mit unserem Projekt ändern. Unser Ziel ist die Vernetzung und Beratung. In einem ersten Schritt geht es nun darum, den Bedarf abzuklären, um aufgrund dieser Erkenntnisse dann ein passendes Angebot zu erarbeiten. Es gibt bereits Erfahrungen von Anlaufstellen in anderen Städten, klar, aber dieses Wissen kann man nicht eins zu eins auf St.Gallen übertragen.

MR: Im Moment wollen wir herausfinden, wie man ein entsprechendes Angebot schaffen kann, sprich welches die dringendsten Bedürfnisse sind und wie man die Menschen am besten abholen kann. Die konkrete Umsetzung dieses Angebots kann, aber muss nicht zwingend über unseren Verein laufen. Wir wollen primär Wissen aufarbeiten, gesellschaftlich und politisch sensibilisieren und mehr Öffentlichkeit schaffen.

Ihr wollt mit anderen Organisationen und Institutionen zusammenzuspannen. Lauft ihr damit nicht Gefahr, eure Unabhängigkeit zu verlieren?

MR: Vielleicht macht es ja Sinn, die Anlaufstelle einer bereits bestehenden Organisation anzugliedern. Das wird unsere Untersuchung zeigen. Für uns ist aber klar, dass die Anlaufstelle unabhängig bleiben muss, sowohl finanziell als auch ideell.

Was soll die Anlaufstelle konkret leisten?

MR: Sans-Papiers sollen sich einerseits über ihre Rechte informieren können und andererseits auch Unterstützung erhalten, um ihre Grundrechte einfordern zu können. Das betrifft vor allem die Bereiche Bildung, Gesundheit, Arbeit, rechtliches Gehör, Schutz vor Ausbeutung und soziale Sicherheit.

Es gibt bereits Hilfsangebote zum Beispiel vom Solihaus oder vom HEKS. Wären das mögliche Kooperationspartnerinnen?

GC: Durchaus. Für unsere Untersuchung sind wir auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen, auch auf die Behörden. Das HEKS hat zwar bereits Angebote, aber die Sans-Papiers gehören nicht zu dessen Hauptanliegen, habe ich den Eindruck. Das ist wohl auch eine Frage der Ressourcen.

MR: Die Vorlaufzeit für ein solches Projekt ist sehr gross und braucht viele Ressourcen. Um sowas auf die Beine zu stellen, braucht es entweder Menschen, die Lust haben, sich über lange Zeit freiwillig zu engagieren, oder es braucht Organisationen, die langfristig Ressourcen bereitstellen wollen und können. Unser Verein besteht derzeit aus elf Personen und uns wird je länger je mehr klar, dass wir das Projekt ohne Unterstützung von aussen kaum stemmen können. Darum sind wir froh und interessiert daran, wenn weitere Interessierte mitmachen möchten.

Warum denn schon wieder Freiwilligenarbeit? Oder anders gefragt: Warum fangt ihr das Versagen von Politik und Gesellschaft in eurer Freizeit auf?

MR: Das haben wir uns auch gefragt. Wir sind etwas unschlüssig … Eigentlich müsste ein solches Projekt von der öffentlichen Hand mitgetragen werden, ja, aber andererseits verliert man auch ein Stück Autonomie, sobald Steuergelder im Spiel sind. Im Idealfall gelingt es uns, eine Anlaufstelle zu schaffen, die nachhaltig ist und auch entsprechend finanziert werden kann – in welcher Form auch immer.

Wäre diese Bedarfsabklärung, die ihr jetzt macht, nicht ein klassischer Fall für eine Fachhochschulstudie?

GC: Diese Frage haben wir uns auch gestellt. Allerdings geht es teilweise um sehr sensible Informationen. Es gibt zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte, die Sans-Papiers unter der Hand betreuen. Ich bezweifle, dass diese bereit wären, ihre Informationen und Daten mit öffentlichen Stellen zu teilen. Die Informationsbeschaffung müsste also unbedingt über Privatpersonen gehen. Und dann gibt es noch die andere Seite: Wir sind der Meinung, dass das Vertrauen der Sans-Papiers gegenüber einer unabhängigen Stelle grösser ist als gegenüber einer öffentlichen oder gar staatlichen Stelle.

Ist eine Kooperation mit den Behörden vorgesehen?

MR: Wir sind auf eine gewisse Kooperation seitens Polizei, Migrationsamt und anderen Behörden angewiesen. Die Stadt scheint diesbezüglich offen zu sein. Letztlich ist es aber ein Abwägen … Wenn es dereinst eine Anlaufstelle gibt, muss zum Beispiel klar sein, dass die Polizei die Klientinnen und Klienten nicht kontrolliert, kaum haben sie den Ort verlassen. Sie müssen sich sicher fühlen.

Die IG:

Im Vorstand und in den Arbeitsgruppen arbeiten St.Gallerinnen und St.Galler, welche sich im Bereich Sans-Papiers engagieren und allen Menschen im Raum St.Gallen die gleichen sozialen Grundrechte ermöglichen wollen. Nebst Matthias Rickli und Gianluca Cavelti sind auch Laura Cutolo (26) und Claudio Keller (31) Teil des Vorstands.

igsanspapierssg.ch

Wie weit seid ihr mit eurer Untersuchung?

GC: Wir stehen noch ziemlich am Anfang. Wir haben verschiedene Arbeitsgruppen gegründet, eine Homepage aufgebaut und konnten auch bereits ein bisschen Geld akquirieren.

MR: Unter anderem beschäftigt uns das Konzept des «Blended Counseling». Dabei geht es darum, die Vorteile der neuen Kommunikationskanäle systematisch miteinander zu kombinieren. So entwickeln wir beispielsweise einen Chat-Bot, der mit Daten gefüttert wird und gewisse Grundinformationen ausspuckt, eine niederschwellige Wegleitung. Idealerweise wäre der Bot mehrsprachig, aber momentan arbeiten wir noch am Prototyp.

Wäre auch eine Plattform denkbar, die Sans-Papiers mit Leuten vernetzt, die ärztliche Hilfe, Jobs oder Wohnungen unter der Hand anbieten? 

MR: Grundsätzlich finde ich die Idee interessant. Wir würden uns jedoch in gewissen Themen auf der illegalisierten Ebene bewegen und könnten dadurch Sans-Papiers gefährden. Nicht zuletzt geht es aber sicher darum, die Möglichkeiten und Graubereiche auszuloten.

GC: Ich stelle mir das auch schwierig vor… Aufgabe einer Anlaufstelle wird es neben der Informationsvermittlung auch sein, die rechtlichen Bestimmungen auf der politischen Ebene auszuhandeln. Eine City Card beispielsweise könnte vieles vereinfachen.

Was sind die nächsten Schritte?

MR: Präsenz zeigen, uns richtig reinwühlen, das Netzwerk weiter aufbauen, Informationen beschaffen – und auch aufmüpfig sein. Darauf freuen wir uns. Und am  Freitag, 11. Oktober ist im Kulturkonsulat St.Gallen eine Veranstaltung zum Thema Sans Papiers in St.Gallen geplant, Details folgen.

Dieser Beitrag erschien im Septemberheft von Saiten.

1 Kommentar zu «Die prekären Lebensumstände von Sans-Papiers passen nicht zur herausgepützelten Schweiz»

  • Monika Hegi sagt:

    Euer Herz schhlägt für diese exkludierten Menschen in der Schweiz. Ihr habt Vorstellungen für die Inkludierung dieser Menschen, die eintreffen werden, wenn genügend Ressourcen bereitgestellt werden. Für die Sensibilisierung und Öffentlichmachung habt ihr euer tolles IG Sans-Papier AG gegründet.
    Das ist ein Engagement für die Menschen und die Gesellschaft. Danke und viel Erfolg!
    Monika Hegi

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