Die Ökologie des Papiers

FSC und Nachhaltigkeit, Zellstofffasern und Eukalyptusplantagen, eine Fabrik in Slowenien und eine Druckerei in St.Gallen, Kartoffelstärke und blaues Licht: Ein Blick in die globalisierte Papierbranche und die Auswirkungen auf die CO2-Bilanz von Saiten.
Von  Peter Surber
Die Bilder zum Dezemberheft hat Monica Ursina Jäger gemacht.

Wo fängt ein Druckerzeugnis wie Saiten an? Beim (leeren) Papier. 16’253 Tonnen Papier werden benötigt für eine Jahresproduktion von elf Ausgaben des Magazins. Das Papier kommt aus Slowenien, aus der Papierfabrik Goricane in Medvode, einem Ort 15 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Ljubljana. 640 Kilometer beträgt die Strecke (ein Weg) von dort an die Letzistrasse in St.Gallen Winkeln.

Hier ist der Sitz der Fischer Papier AG, der Lieferantin der Papiere «Profi Top» und «Profi Bulk». Von Fischer ist es wiederum nur noch ein Katzensprung zur Druckerei Niedermann, die das Magazin Saiten seit seiner Gründung druckt; sie liegt quasi gegenüber an derselben Strasse, ökologisch ein Idealfall. Die 10’400 tkm (Tonnenkilometer) für den Transport des Papiers aus Slowenien in die Schweiz schlagen in der CO2-Rechnung mit immerhin rund sieben Prozent zu Buche.

Noch einen Schritt zurück: zur Herstellung des Papiers. Von Gesetzes wegen müssen Papierfabriken die Umweltfaktoren für jedes ihrer Papiere dokumentieren. Die «Environmental Product Declaration» zeigt, dass das Saiten-Papier aus rund 60 Prozent Zellstoff und etwa 35 Prozent Pigment- und Füllstoffen besteht. Die Fabrik-Emissionen ins Wasser und in die Luft, der CO2-, Strom- und Landverbrauch sind beziffert, ausserdem die FSC-Zertifizierung des Papiers. Das FSC-Label (Forest Stewardship Council) oder das vor allem in den USA gängige PEFC-Label sollen sicherstellen, dass der Rohstoff aus nachhaltiger Forstwirtschaft kommt.

Nachhaltigkeit umfasst neben naturgerechter Pflanzung, Pflege und Nutzung auch Standards in Sachen Biodiversität, Landschaftsschutz oder sozialem und ökonomischem Wohlergehen der betroffenen Bevölkerung. FSC ist allerdings nicht unumstritten; mehrere Umweltorganisationen kritisieren, das Label werde zu leichtfertig vergeben, mehr Informationen dazu gibt es zum Beispiel unter fsc-watch.com.

Von der Baumschule bis zum Pneuabrieb

In einem weiteren Papier, der EU-Timber Regulation (EUTR), deklariert die Papierfabrik die Herkunft der Zellstoffe – nicht auf das einzelne Produkt, sondern auf die Gesamtproduktion bezogen. In den meisten Papieren ist eine Vielzahl von Zellstoffen unterschiedlicher Herkunft verwendet.

Die Liste liest sich wie ein globalisiertes Who-is-who der Baumpopulationen und gibt eine Ahnung von der Komplexität der Rohstofffrage: Acacia Mearnsii, Acacia Mangium, Acacia Crassicarp, Acer Campestre, Aspen Populus Tremula, Betula Pendula, Betula Pubescens, Carpinus Betulus, Eucalyptus Globulus, Eucalyptus Grandis, Eucalyptus Saligna, Eucalyptus Hybrids, Eucalyptus Maidenii, Eucalyptus Nitens, Eucalyptus Pelita, Eucalyptus Bicostata, Fagus Sylvatica, Fraxinus Excelsior, Acer, Salix, Almus Prunus Avium, Larix Decidua, Larix Sibirica und so weiter. Auch die Herkunftsländer sind, von Österreich über Malaysia bis Kanada, weltweit verstreut.

Trotz dieser Variantenvielfalt lässt sich die Gesamtbelastung durch die Papierherstellung annäherungsweise feststellen. Die Modelle von Carbotech beziehen dabei nicht nur die Fabrikation allein, sondern auch alle Faktoren der «Vorkette» mit ein, das heisst den Treibstoffverbrauch für Transporte, Kosten für Strassenbau und Fahrzeugbau, Stromverbrauch zur Herstellung von Bleichmitteln, Aufwand in der Waldbewirtschaftung, Verpackungsmaterialien für Transporte und so weiter. Oder auch, überraschend für Laien, den Kartoffelanbau.

Die Erklärung liefert Wikipedia: Kartoffelstärke und vergleichbare Stärkeprodukte werden bei der Papierherstellung eingesetzt, um die Festigkeitseigenschaften zu erhöhen, die Oberflächen zu veredeln sowie Griff und Glanz der Papiere zu verbessern.

80 Prozent der Zellstoffe im Saiten-Papier kommen nach Auskunft von Fischer-Geschäftsleiter Andreas Bernhard aus Europa, vor allem aus Skandinavien, Österreich und der Slowakei. 20 Prozent kommen aus Übersee. Die letzte Schweizer Zellulose-Fabrik, jene im solothurnischen Attisholz, hat ihre Tore 2008 geschlossen. Einer der wichtigsten Zellstoff-Lieferanten ist der Eukalyptus-Baum, der schnell wächst und dessen Faser ideal ist für die Herstellung hochwertiger Grafikpapiere.

Grosse Eukalyptus-Plantagen gibt es in Portugal und insbesondere in Brasilien. Weitere Zellstoff-Giganten sind die skandinavischen Länder, deren Rohstoff jedoch hauptsächlich für stärkerfasrige Kraftpapiere in Frage kommt. Ein Werbefilm des schwedischen Zellstoffunternehmens Södra zeigt die Dimensionen: gigantische Saatflächen für Jungpflanzen, quadratkilometerweise Papierholzstämme, eine gewaltige Zellstoffmühle, die dank «grünem» Energiekreislauf ohne Fremdstrom auskommt. Dass in der Schweiz kein Zellstoff mehr produziert werde, sei kein ökologisches, sondern ein politisches Thema, sagt Drucker Gallus Niedermann.

Im gesamten Produktionsprozess der Papierfabriken und damit auch in der CO2-Bilanz tragen die Zellstoffe einen bedeutenden Teil bei, hinzu kommen optische Aufheller, die bereits genannte Kartoffelstärke, Kaolin (ein weisses Weichgestein, das in der Papierherstellung als Füllstoff und teils als Pigment dient) sowie Heiz- und Stromkosten, wiederum verteilt auf die gesamte Kette der Rohstoffe und der Verarbeitung.

Weltweite Nachhaltigkeits-Anstrengungen

Der hohe Anteil von Papier und Druck am Gesamt-CO2-Verbrauch von Saiten macht deutlich: Papier ist ein Schwergewicht – selbst als weisses, unbedrucktes Blatt. Das sagt auch Druckereibesitzer Gallus Niedermann: «Papier ist ein Thema, das die ganze Welt betrifft.»

Das Papier und seine Klimafolgen beschäftigt ihn täglich im Betrieb. Und darüber hinaus; Niedermann hat in Schweden Papierfabriken besichtigt und war beeindruckt von den ökologischen Fortschritten, er kennt die Eukalyptus-Plantagen in Portugal, wo pro Tag 160ʼ000 Jungbäume gezogen werden. Gerade evaluiert er eine zukunftsträchtige Digitaldrucktechnik, denn das Papier ist das eine, die Druckfarben aber sind das andere. In den Farben stecken Pigmente, Bindemittel, Trockenstoffe, Mangan, Kobalt, mineralische Öle und so weiter. Digitaldruck könnte die Menge an Ausschuss und die Umweltbelastung senken.

Die ökologischen Dimensionen der Papierbranche sind auch für Andreas Bernhard von Fischer Papier AG ein Dauerthema. Dabei gebe es viel Un- und Halbwissen, zum Beispiel was das Reizwort «Brasilien» betreffe: Die Zellstoffproduktion dort bedeute nicht Raubbau an Bäumen, sondern im Gegenteil gewaltige Aufforstungsarbeit. Das Abholzen des Regenwalds sei ein anderes Thema; Raubbau, aber nicht dem Papierverbrauch geschuldet. Bernhard hebt zudem die Anstrengungen seiner Firma hervor, den Verbrauch fossiler Brennstoffe zu minimieren, und lobt die Schweizer Druckereien für ihre fast hundertprozentige FSC-Zertifizierung – in Deutschland betrage der Anteil der zertifizierten Druckereien ein paar wenige Prozent.

Die Information kann man sich hinters Ohr oder noch besser aufs Papier schreiben, wenn man das nächste Mal einen Druckauftrag ins «preisgünstige» Deutschland vergibt.

Auch die Druckerei Niedermann ist in Sachen Nachhaltigkeit vorbildlich. Sie verfügt über ein Heizsystem mit Wärmerückgewinnung und Speicherung in Wärmetanks. Für eine Solaranlage zur Stromerzeugung auf dem Dach sind alle Vorkehrungen getroffen. Allerdings stehe hinter allen Nachhaltigkeitsüberlegungen und Investitionen immer auch die Frage: Wie bleibt man als Unternehmen im Hochlohnland Schweiz konkurrenzfähig? Und wie überzeugt man seine Kundinnen und Kunden von einem Produkt, das nachhaltiger, aber dadurch etwas teurer ist?

Bernhard wie Niedermann haben einschlägige Erfahrung: Private Kunden, viele und gerade auch grössere Konzerne sowie teils die öffentliche Hand vergäben ihre Aufträge an den billigsten Anbieter – und nicht an jenen, der ökologisch überzeugender, aber dafür etwas teurer sei. Und noch eine desillusionierende Erfahrung: Vor rund zehn Jahren haben die Druckereien die Möglichkeit geschaffen, Druckaufträge mit oder ohne CO2-Kompensation zu wählen. Der Mehrpreis für Kompensationen: 2.80 auf 1000 Franken. Trotz des geringen Aufschlags hätten die Kunden weniger als ein halbes Prozent der Druckaufträge CO2-neutral bestellt.

Vom Ausschuss und den Ansprüchen

Kunden hätten also durchaus Hebel in der Hand, und zwar «hier vor der Tür», sagt Niedermann. Ein weiteres Stichwort ist der Verbrauch. Bei jedem Druckauftrag fällt Ausschuss an, einerseits durch die Restpapiere auf Bögen oder Rollen, andrerseits Makulatur, bis die Qualität stimmt. Läuft das neue Saiten-Magazin durch die Druckmaschine, werden zahlreiche Einrichtebogen aussortiert, bis die Dichte der Farbe stimmt, kein Millimeter verschoben ist und allfällige sonstige Mängel behoben sind.

In Zahlen (von 2018): Von den 16,253 Tonnen Gesamt-Papierverbrauch sind 3,847 Tonnen Ausschuss. Bei den Leserinnen und Lesern landen noch 12,406 Tonnen. Auch der Fertigschnitt, damit ein sauberes Produkt vorliegt, produziert Schnipselabfall, ebenso recyclingfähiges Papier.

Kunden sind anspruchsvoll, Drucker auch. «Wir scheiden alles aus, was nicht erste Qualität ist», sagt Niedermann und fragt sich zugleich, ob es nicht einen dritten Weg gäbe: gemeinsam mit Kunden eine Möglichkeit zu finden, auch die «zweite Wahl» noch nutzen zu können, zum Beispiel für internen oder weniger exponierten Verbrauch. Insgesamt gehen rund 50 Lastwagen im Jahr mit Ausschussware wieder weg von der Letzistrasse – Papier zwar, das recycelt wird, das aber trotzdem symptomatisch ist für die Höchstansprüche, die wir zu stellen uns angewöhnt haben, auf welchem Gebiet auch immer.

Da hakt auch Papierunternehmer Bernhard ein: Man müsste die CO2-Bilanz von Papier gegenrechnen gegen, zum Beispiel, den Energieaufwand für eine Google-Suchanfrage. Die Zahl kann man googeln: Die 3,5 Milliarden Suchanfragen, die die Firma laut dem Onlineportal «Quartz» täglich verarbeitet, produzieren zusammen 700 Tonnen CO2. Dagegen nimmt sich die Bilanz des Papiers geradezu bescheiden aus. Eine Tonne Papier verursacht einen CO2-Verbrauch von 450 Kilogramm, etwa gleich viel wie der jährliche Fleischkonsum von Herr und Frau Durchschnittsschweizer.

Und Recycling-Papier? Seine CO2-Bilanz ist gegenüber dem Primärpapier je nach Quelle besser bis ähnlich. Der geringere Rohstoff-, Wasser- und Energieverbrauch spricht für das Recyclingpapier. Bis jetzt ist, zumindest für Saiten, das Papier jedoch noch nicht gefunden, das punkto Verarbeitungsqualität, Druckqualität, Gewicht und Opazität unseren Ansprüchen (und wohl auch jenen der Leserinnen und Leser) genügen würde.

Ob es längerfristig eine Lösung gibt, wird im Moment abgeklärt. Drucker Gallus Niedermann nennt allerdings die Haken: Recycling hat seine Grenzen, maximal nach fünfmaliger Wiederverwertung sind die Zellstofffasern zu kurz für ein sauber druckfähiges Papier und müssen ausgeschieden werden. Und: Recycling verursacht je nach Produktions- und Wiederverwendungsort lange Transportwege mit der entsprechenden CO2-Belastung, zumal die Wirtschaft vieles exportiert, um es dann teils wieder zu importieren.

Also Schluss mit Print?

Das hätte tatsächlich, nur auf die CO2-Bilanz bezogen, erfreuliche Konsequenzen. Wir und – vermutlich – auch unsere Leserinnen und Leser sähen allerdings schwarz. Und Gallus Niedermann wehrt sich für «seinen» Roh- und Lebensstoff: Papier hat Qualitäten (haptische, optische, gestalterische) und eine unvergleichliche Materialwertigkeit, die kein Bildschirm aufwiegt. Es ist wiederverwertbar, und der Rohstoff wächst nach. Bildschirme dagegen enden als Elektroschrott.

Und dann wird Niedermann grundsätzlich: «Viele Angestellte sind vom Alltag am Bildschirm überreizt. Und der gesundheitliche Aspekt des ‹blauen Lichtes› gibt auch zu denken, Stichwort Augenüberlastung oder ‹Office Eye Syndrom›. Unsere Welt beschleunigt sich immer mehr, auch dank der Digitalisierung. Wir müssen wieder langsamer werden. Und zu diesem Prozess gehört Papier dazu.»

Dieser Beitrag erschien im Dezemberheft von Saiten.