Die Moderne im Kleinen (II) – Eine Genossenschaft mischt den Rosenberg auf
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Es sind keine Musterbauten des Neuen Bauens, die zwei Mehrfamilienhäuser an der Winkelriedstrasse 17 und der Zwinglistrasse 27. Dafür steht ihnen das Walmdach im Weg, und Dachgärten fehlen ebenso wie Pilotis – Stützen im Erdgeschoss, die Le Corbusier-Bauten zum Schweben brachten – oder Bandfenster.
1933 erbaut, stellt das Ensemble dennoch ein Unikum für St.Gallen dar, ein doppeltes: Reinhart, Ninck und Landolt hiessen die Architekten, die dahinter steckten. Ihre Büros hatten sie in Winterthur und Zürich, Reinhart wurde in den 1940er Jahren Stadtbaumeister von Winterthur.
Auswärtig und genossenschaftlich
Reinhart, Ninck und Landolt waren eines der wenigen auswärtigen Büros, die in den 1930er Jahren in St.Gallen Bauten realisierten. Anders als während der florierenden Wirtschaftszeit um 1900, als es an Zweigfilialen wichtiger Schweizer Büros in St.Gallen nur so wimmelte (Pfleghard & Häfeli, Curjel & Moser, der Bauingenieur Robert Maillart[1]), bauten in den krisengeprägten 1930er Jahren hauptsächlich ansässige Architekten. Darunter waren Moritz Hauser (der Architekt des Linsebühl-Baus), Arthur Kopf oder Anton Aberle.
Das zweite Unikum, das mit dem Ensemble in Verbindung steht, ist die Bauherrschaft. Treibende Kraft war Hermann Hugentobler, ein Textilentwerfer. Doch nicht er als Einzelperson, sondern die von ihm initiierte Baugenossenschaft Rosenhalde errichtete die beiden Mehrfamilienhäuser. Mitten im Villenquartier und in einer Stadt, die im Wohnbau nicht für genossenschaftliche Sprünge bekannt ist, reizt dies zu einem genaueren Blick auf das Ensemble.
Licht und Luft
Doch erst einige formale Ergänzungen: Von der Winkelriedstrasse her schauend, fällt die Schlichtheit der Fassade auf, ein klarer Kontrast zur opulenten Villa rechterhand. Vierteilige Querfenster in den drei Wohngeschossen sowie noch grossflächigere Fenster, hinter denen sich die Wohnzimmer verbergen, sorgen für eine gute Besonnung von früh bis spät. Pro Etage gab es ursprünglich eine 4-Zimmer-Wohnung mit vollbrüstigem, auskragendem Balkon sowie eine 3-Zimmer-Wohnung mit Erker.
Die Vorstellungen der Moderne punkto Gesundheit integrierten die Architekten: Einbezug des Aussenraumes, Helligkeit im Innern und gut belüftete Bäder. Von der Zwinglistrasse her schauend, springt das Walmdach ins Auge und kleine Putzbalkone, sie ermöglichen den Austritt aus der Küche.
Der progressive Stadtbaumeister Paul Trüdinger – er war im Amt von 1933-1939 – bemängelte am ursprünglichen Baugesuch zwei Dinge: Zum einen sollten die beiden Mehrfamilienhäuser nicht direkt untereinander zu stehen kommen, sondern um 8 Meter veschoben. Damit profitiere das obere von einer freien Aussicht, und der Baumbestand an der Schlösslitreppe bleibe erhalten. Zum anderen schrieb er Flachdach oder flaches Satteldach vor, denn «[d]as Dach der beiden Wohngebäude sitzt unorganisch auf dem abgewinkelten Grundriss.»[2]
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Der Katasterplan Ensemble Winkelried-/Zwinglistrasse vom 11. Sept. 1933. (Bild: Baudokumentation St.Gallen)
Realisiert wurde schliesslich ein flaches Walmdach. Eine durchgehende Handhabe der Dachfrage gab es in den 1930er Jahren trotz fortschrittlichem Stadtbaumeister nicht. Es scheint situativ, unter Berücksichtigung der Umgebungsbauten und zugunsten eines möglichst einheitlichen Strassenbildes entschieden worden zu sein.
Der Villenbesitzer und die soziale Durchmischung
Ein paar Monate später erreichte Trüdinger folgender Brief eines Nachbarn: «Meine [letzte Woche] geäusserten Befürchtungen sind leider eingetroffen. Welcher Kontrast gegen früher! Anstelle der Frühlingspracht des Gartens präsentieren sich dem Auge die […] Küchenbalkons in ihrer ganzen Aufdringlichkeit und Armseligkeit. Diese finden als Wäscheaufhängeplatz und als Aufbewahrungsort für allerlei Gegenstände, die in der viel zu kleinen Küche keinen Raum haben, Verwendung und drücken der bisher bevorzugten Rosenberg-Gegend […] den Stempel eines gewöhnlichen Vorstadtquartiers auf.»[3]
Im Mai sollte sie im Linsebühl-Bau eröffnet werden: die Ausstellung «Die Moderne im Kleinen», eine Zeitreise zu den Anfängen moderner Architektur in St.Gallen. Wegen Corona musste der Termin verschoben werden – die Eröffnung ist jetzt für den 20. Juni geplant, Dauer der Ausstellung: bis 18. Juli.
Nina Keel ist Kunsthistorikerin und Kuratorin in St.Gallen.
Die Reklamation des Nachbarn war ein Rundumschlag. Nicht nur kritisierte er die zweckmässige Organisation von Küchen auf engem Raum, wie sie die Frankfurter Küche (1926) angestossen hatte, sondern stellte sich auch gegen kleinere Mietwohnungen für weniger Betuchte im Allgemeinen. Dass hinter den modernen Bauten eine Genossenschaft stand, war dem Villenbesitzer wohl ein zusätzlicher Dorn im Auge. So schrieb er weiter: «Überhaupt ist es gerade meine Liegenschaft, die durch den Bau dieser Mietskasernen die grösste Entwertung erfährt. Nicht nur Laien, sondern auch Leute vom Baufach teilen meine Ansicht und verurteilen diese Verschandelung des Strassenbildes.»[4]
Ein Rundumschlag – gegen moderne Architektur, gegen soziale Durchmischung am Rosenberg. Und nicht ganz korrekt: Der Begriff der Mietskaserne steht für die zur Zeit der Industrialisierung erstellten, mehrgeschossigen Mietshäuser in Arbeitervierteln. Dichtest gebaut und ständig überbelegt, ihre Innenhöfe sahen die Sonne so gut wie nie. Reinhart, Ninck und Landolt hingegen richteten ihr Ensemble wie Avantgarde-Architekten nach der Sonne aus, achteten auf gute Belüftung – und Trüdinger sorgte für eine grüne Umgebung.
[1] Peter Röllin: St.Gallen. Ort, Landschaft, Milieu, in: Stickerei-Zeit, Ausstellungskatalog Kunstmuseum St.Gallen 1989.
[2] Paul Trüdinger, in: Vernehmlassung zum Baugesuch, 28. Juni 1933 (Baudokumentation St.Gallen Dossier Winkelriedstrasse 17).
[3] Brief an Paul Trüdinger vom 7. Mai 1934 (Baudokumentation St.Gallen Dossier Zwinglistrasse 27).
[4] Ebd.