Die Moderne im Kleinen (I): Der Linsebühl-Bau
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Er liegt zwischen Lämmlisbrunnen- und Linsebühlstrasse, die «Lange Stiege» führt an ihm entlang, ein verlebter Eindruck geht von ihm aus. Tatsächlich hat er eine umtriebige Geschichte hinter sich, der grösste St.Galler Bau der 1930er Jahre. Linsebühl-Bau oder Säntis-Komplex wird er genannt, initiiert hat ihn der Architekt Moritz Hauser im Jahr 1930.
Drei Jahre später stand er da, als kleine Stadt in der Stadt. Und der Bruch mit Jugendstil-St.Gallen hätte grösser nicht sein können: kubische Formen, eine weiss verputzte Fassade ohne jegliche Ornamente, ein Flachdach, Dachterrassen, über Eck verlaufende Fenster, Leuchtschriftzüge. Die stilistische Merkmale des Neuen Bauens, der Linsebühl-Bau erfüllte sie alle. Mit acht Etagen und 23 Metern Höhe an der Lämmlisbrunnenstrasse präsentierte sich das erste Hochhaus von St.Gallen. Der Linsebühl-Bau vereinte 34 Wohnungen, ein Restaurant, eine doppelte Kegelbahn, Läden, ein Café mit Bar[1] – und «das modernste Lichtspieltheater auf dem Platze»[2].
Vier Gründe führten zur Errichtung dieses Gebäudekomplexes mitten in der Stickerei-Krise: Erstens wurde mangelhafte Bausubstanz ersetzt und das Linsebühl saniert – ein frühes Beispiel einer Gentrifizierung, die Bewohnerinnen und Bewohner davor und danach waren nicht dieselben. Zweitens erfuhr die Linsebühlstrasse eine dringend notwendige Verbreiterung – die Fahrbahn war kaum 5 Meter breit, durch die zunehmende Automobilisierung stieg die Zahl der Unfälle. Drittens verhalf der Neubau dem Baugewerbe in der Krise zu Arbeit. Viertens kam der Linsebühl-Bau dem Bedürfnis nach Kleinwohnungen mit zwei und drei Zimmern (inkl. Bad und Küche, ohne Feuerstelle, mit Zentralheizung und Warmwasser) nach.[3]
Wer für Arbeitsbeschaffung ist, stimmt: Ja!
1929 kaufte die Stadt die Liegenschaft Säntis an der Linsebühlstrasse mit der Idee, sie abzutragen und die Strasse zu verbreitern. Doch es geschah einige Monate nichts. Also ergriff Hauser die Initiative und wurde mit einem Neubauprojekt für das ganze Vorstadt-Gebiet und einer Renditeberechnung bei der Stadt vorstellig.[4] In seinen Augen war die finanzielle Unterstützung durch die Stadt unabdingbar. Der Stadtrat prüfte und bejahte, allerdings brauchte es die Zustimmung der Gemeinde.[5]
Im März 1931 kam das Projekt zur Abstimmung über eine Subvention von 270’000 Franken. Die Arbeiterzeitung «Volksstimme» unterstützte das Vorhaben mit zahlreichen Pro-Artikeln: Im Rückblick auf eine Versammlung der Arbeitslosen im Volkshaus steht, dass an die Abstimmung erinnert wurde: «Sind nicht unsere Arbeitslosen an der Ausführung dieses Projektes direkt interessiert? Wohl gibt es keine guten Wohnungen für sie – aber Arbeit.»[6] Der Artikel wurde unmittelbar neben der halbseitigen Abstimmungsempfehlung abgedruckt.
Die Abstimmung war hart umkämpft, es kursierten Flugblätter gegen das Vorhaben und moralische Bedenken (Kino!) wurden geäussert. Es kam zur Annahme – durch einen Schulterschluss zwischen liberalem Unternehmertum (27 St.Galler Firmen haben zusammen die Liegenschaften erworben und neu überbaut) und sozialdemokratischer Presse.
Vom Werkstatt- zum Grossstadtquartier
Der Linsebühl-Bau konfrontierte das von Handwerksbetrieben geprägte Quartier mit einer völlig anderen Stadtvorstellung. Die moderne Grossstadt war Orientierungspunkt: Zum einen mit Leuchtreklamen (SÄNTIS, BAR sowie beim Kinovordach), grossen Schaufenstern, der neuartigen Dimension. Zum anderen mit dem Freizeit-Angebot: Restaurant, Kino, Café mit Bar. All diese Angebote unter einem Dach sowie die zentrale Heizung und Warmwasseraufbereitung waren etwas völlig Neues für St.Gallen. Le Corbusiers Idee der «Wohnmaschine» mag als Referenz hinzugezogen werden, allerdings sind die Funktionen im Linsebühl-Bau in separaten Häusern untergebracht.
Konkav und konvex verlaufen die Fassaden des Linsebühl-Baus, es entsprach dem städtebaulichen Zeitgeist: Der Verkehr hatte Priorität, mit Kurven statt Ecken begünstigte man seinen Fluss. Dies veränderte die Strassennetze und die angrenzenden Bauten übernahmen den Schwung in ihre äussere Gestalt. Ein prominentes Schweizer Beispiel ist das Zett-Haus am Zürcher Stauffacher, eine ähnliche Stadt in der Stadt, allerdings mit Büros und Swimmingpool auf dem Dach.[7]
Im Sommer oder Herbst 2020 wird im Linsebühl-Bau die ursprünglich für Mai geplante Ausstellung «Die Moderne im Kleinen» stattfinden, eine Zeitreise zu den Anfängen moderner Architektur in St.Gallen.
Nina Keel ist Kunsthistorikerin und Kuratorin in St.Gallen.
Die dynamische Wahrnehmung aus dem Auto hatte zunehmend Auswirkungen auf die städtische Architektur: Verschiedene Protagonisten der Moderne verwiesen darauf, dass kleinteilige Details bei höherer Geschwindigkeit keine Beachtung fänden. Der besseren Lesbarkeit wegen forderten sie einfachere Formen, glatte Fassaden, horizontale Fensterbänder sowie einen Massstabssprung[8] – alles Dinge, die der Linsebühl-Bau, der zentrale St.Galler Bau der 1930er Jahre, einlöst.
[1] Schweizerische Bauzeitung 103/104 (1934), Heft 6: Linsebühl-Bau in St.Gallen: eine Wohnhäuser-Gruppe mit Kino, Restaurant und Läden
[2] Moritz Hauser: Das Linsebühl-Bauprojekt vor der Vollendung, in: Die Ostschweiz, 16. November 1932, Abendblatt.
[3] Kurt Bendel (?): Linsebühlbaublock, in: St.Galler Schreibmappe 1932
[4] Ernst Graf: St.Gallische Baufragen, in: St.Galler Schreibmappe 1931
[5] Stadtratsbeschluss zur Subventionsleistung an die Neuüberbauung des Gebietes beim «Säntis», 3. Oktober 1930
[6] Volksstimme, 11. März 1931, Unsere Arbeitslosen und die Winterhilfe.
[7] Stanislaus von Moos, in: Das Neue Bauen in der Ostschweiz, S.I. 1989
Daniel Kurz: Die Disziplinierung der Stadt. Moderner Städtebau in Zürich 1900-1940, Zürich 2008
[8] Martino Stierli: Las Vegas im Rückspiegel – Die Stadt in Theorie, Fotografie und Film, Zürich 2010