, 11. April 2024
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«Die Meinungen für oder gegen den Wolf interessieren mich nicht»

Ein essayistischer Dokumentarfilm der beiden Ostschweizer Regisseure Beat Oswald und Samuel Weniger ergründet anhand der Suche nach dem Wolf im Tamina-Tal das komplexe Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Interview mit Beat Oswald von Geri Krebs

Samuel Weniger (links) und Beat Oswald beim Dreh von Tamina. (Bild: pd)

Von Freitag, 12., bis Sonntag, 21. April, geht in Nyon das Dokumentarfilmfestival Visions du Réel über die Bühne. Auch die Ostschweiz ist mit der Weltpremiere des Films Tamina – Will There Ever Be What Used To Be prominent vertreten. Der essayistische Dokumentarfilm ergründet anhand der Suche nach dem Wolf im Tamina-Tal das komplexe Verhältnis zwischen Mensch und Natur.

 

Saiten: Sie waren für Ihren Film zwischen 2019 und 2022 unzählige Male in der Gegend von Vättis. Wie war Ihr Verhältnis zur Bevölkerung in dieser doch ziemlich abgelegenen Bergregion?

Beat Oswald: Wir, das heisst Samuel Weniger und ich, sind den Leuten im Taminatal stets auf Augenhöhe begegnet, es gab da nichts Distanziertes. Was übrigens bereits bei unserem vorherigen Dokumentarfilm Golden Age so war, der 2019 ja seine Weltpremiere ebenfalls im Wettbewerb von Visions du Réel hatte. Und bei jenem Film über ein Luxusaltersheim in Miami wäre es ja ein Leichtes gewesen, diese Leute in ein schlechtes Licht zu rücken, sie in die Pfanne zu hauen. Doch das ist nicht meine Art, Dokumentarfilme zu machen. Ich war mir auch beim Dreh im Taminatal stets bewusst: Ich komme aus dem Unterland, ich bin hier oben Gast und es steht mir nicht zu, mir irgendein Urteil anzumassen über sie und wie sie leben.

Aber wurden Sie von ihnen nicht als etwas schräge Vögel angeschaut?

Klar, aber auf eine neugierige und wertschätzende Art. Es gab auch ab und zu ein Erstaunen darüber, dass wir immer noch – oder schon wieder – da waren. Gelegentlich schwang noch etwas Mitleid darüber mit, dass wir immer noch keine Begegnung mit einem Wolf hatten filmen können. Aber klar, ich bin mir durchaus bewusst, dass ich dem linken Bildungsbürgertum entstamme und mich auch oft in dieser Bubble bewege. Aber zum Glück fühle ich mich in der Gesellschaft eines Bauarbeiters oder eines Försters im Taminatal genauso wohl, wie in einem Künstlercafé in Zürich.

Neben Ihrem Namen stehen unter «Regie» auch noch die von Samuel Weniger und von Lena Hatebur. Wie war die Rollenverteilung?

Ich bin wohl mangels einer besseren Bezeichnung der Hauptproduzent und Hauptregisseur dieses Werkes. Die grundlegende Perspektive, die der Film einnimmt, kommt von mir und ich war in allen Phasen der Produktion federführend. Ich machte zusammen mit Christof Stillhard (Co-Produzent) die ganzen Eingaben bei den Filmförderstellen, schrieb die Dossiers und so weiter. Aber ich komme nicht vom Film – ganz im Gegensatz zu Samuel und Lena.

Wie ist das zu verstehen?

Ich bin Ethnologe, ich habe keine filmische Ausbildung. Mir liegen Texte, die schriftliche Formulierung von wissenschaftlichen oder philosophischen Gedanken näher als Bilder. Und für letztere war Samuel zuständig, er hat stets die Kamera gemacht. Das war bereits bei Golden Age so. Und Lena, die ausgebildete Cutterin ist, hat die Montage des über 200 Stunden gefilmten Materials bewältigt. Das war etwas, was man eigentlich gar nicht schaffen kann, aber sie hat es geschafft. Auch sie war bereits bei Golden Age mit dabei, aber da sie dieses Mal den Weg durch diese anspruchsvolle Schnittphase massgebend bestimmt hat, war es folgerichtig, sie als Co-Regisseurin zu nennen. Samuel und Lena sind die beiden kreativsten und talentiertesten Menschen, die ich kenne und beide kennen sich im Medium Film viel besser aus als ich. Ich selber würde mich eher als verkopften Wissenschaftler bezeichnen, während sie über eine unglaubliche Intuition und ein Gefühl für Film verfügen, das mir fehlt. So war Samuel als stets assoziativ denkender Bauchmensch während des Drehs für mich der ideale Sparringpartner. Da die ganzen Texte im Off von mir stammen und ich darin auch viel von mir persönlich preisgebe, bestand die Gefahr, dass es letztlich ein Film über und für mich werden könnte.

Das ist Tamina ja definitiv nicht. Wie würden Sie selber den fertigen Film charakterisieren?

Er will intellektuell und künstlerisch herausfordernd und dennoch unterhaltsam sein – und er soll trotz seiner ungewöhnlichen Erzählart niemanden ausschliessen. Ich wollte mit dem Film alle einladen und auf dieser Reise auch immer wieder überraschen und aus Komfortzonen herausführen. Mir scheint es, dass uns das gelungen ist. Was in einem grossen Mass auch der Verdienst von Lena ist – und was wiederum mit ein Grund dafür ist, sie als Co-Regisseurin zu nennen.

Haben die Leute aus Vättis und Umgebung, die im Film erscheinen, ihn bereits sehen können?

Ja, wir hatten letzten Sonntag eine geschlossene Vorführung im Kino Sargans. Wenn Sie nach den Reaktionen fragen, so würde ich die als zwischen begeistert und überfordert bezeichnen. Einige hatten wohl eher so etwas erwartet wie SRF bi dä Lüüt.

Was auffällt: Es erscheint in den ganzen 105 Filmminuten nie jemand, der sich vehement gegen die Präsenz des Wolfes ausspricht.

Nun, also es gibt beispielsweise die Szene mit dem Jäger, der sich darüber beklagt, dass man kaum mehr Hirsche sieht, seit der Wolf in der Gegend heimisch geworden ist. Er sagt klar: Der Wolf gehört nicht hierher. Wir wollten keinen Beitrag zur Diskussion «Pro-Kontra-Wolf» realisieren. Den ganzen medialen Diskurs und den politischen Schlagabtausch für oder gegen den Wolf, das ist mir zu schwarz-weiss und das ist etwas, das wir alle schon zu oft gehört haben. Ob der Wolf nun ein Böser ist oder ein Retter der reinen Natur ist, das ist mir zu kurz gedacht. Überspitzt gesagt: Die Meinungen für oder gegen den Wolf interessieren mich letztlich gar nicht. Mein Ziel mit Tamina könnte ich vielleicht so formulieren: Ich möchte, dass nach diesem Film alle eine weniger starke Meinung haben. Der Film soll anregen, über sich selbst als Teil der Menschheit nachzudenken, anstatt mit dem Finger auf andere zu zeigen.

Deshalb ist der Wolf in eurem Film eher ein Symbol für Veränderung?

Genau, das zentrale Thema dieses Filmes ist Veränderung. Zum Beispiel in Bezug auf die Tatsache, dass wir Unterländer ja gerne dazu neigen, den Berglern ihre meist konservative Grundhaltung vorzuhalten und ihnen vorzuwerfen, dass sie nicht adäquat mit den Veränderungen umgehen, die etwa der Wolf mit sich bringt. Dabei übersehen wir, dass wir uns auch sehr schwertun, Veränderungen zu akzeptieren. Wir Unterländer sind es zum Beispiel, die immer noch am meisten herumreisen, die am meisten konsumieren und die auch – wie wir Filmemacher – für ihre Selbstverwirklichung unendlich viele Ressourcen verbrauchen. Ich glaube, in Vättis hat kein einziger Mensch einen grösseren CO2-Fussabdruck als ich und die Menschen aus meinem Umfeld.

Tamina – Will There Ever Be What Used To Be läuft am Festival Visions du Réel in Nyon am Samstag, 13. April, 18 Uhr, Kino Capitole Leone und am Donnerstag, 18. April, 13:30 Uhr, Usine à Gaz 2, Nyon. Ab September läuft er in den Schweizer Kinos.

visionsdureel.ch

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