Gleich vorab: Dieser Text kann keine journalistische Objektivität garantieren, weil ich in einem cineastischen Paralleluniversum unter dem Synonym Josef Bertold Hund als Manager der Band CAPSLOCK SUPERSTAR gearbeitet habe*. Aber das Multiversum macht es möglich: Hier und jetzt darf ich über deren Album CAPSLOCK SUPERSTAR ZWEI als Beobachter der vierten Ordnung schreiben.
Deshalb (ganz pflichtbewusst) die knallharte Analyse: CAPSLOCK SUPERSTAR (die Band) lebt einerseits von Mia Nägelis alias DJ Netlogs Fähigkeit, sich wie eine Besessene in absurdeste Genres hineinzudenken, mit ihnen zu verwachsen und tief drin in den DNA-Strängen herumzuwerkeln, Mutationen zu fördern und in ausufernden Stilblüten auszustellen. Auf dem fünf Jahre alten Debüt-Album Megamix wurde so bereits das System Eurodance dekonstruiert, fünf Jahre später scheint es zuvorderst ein Stimmungskonglomerat zu sein, das konsequent versamplet wird: Coming-of-Age, Emo, Pop. Deep House. Erste und letzte Liebe. Alles dazwischen.
Oder, Zitat Mia: «so was zwischen berlin calling und so youtube-playlists mit langsam fahrender drone-footage von inseln und dazu laufen deep house remixes von 2000er hits.»
Und hier, eigentlich zu spät, das Andererseits: Jessica Jurassicas radikal reduziert ausufernde Texte, ihr Humor, ihr Mut und ihr Gespür für das genau richtige Salz in den genau richtigen Wunden bilden die zweite Säule in diesem Pop-Gebäude, das vom Erdgeschoss bis auf die Dachterasse nach Diskurs, Disko und Incel-Angstschweiss schmeckt. Irgendjemand musste ja das Deep in Deep House packen!
Zwischen Dimes Square und Migros-Restaurant
Das Album wird von einer herausragenden Schleife gebunden: Der Opener Highschool Musical und das finale Stück Toxic/Detox schlagen tiefe Wurzeln unter der Haut der Hörer:innen und ins Innerste des Albums. Dort finden sich dann musikalische und textliche Rückgriffe auf das bandeigene Frühwerk: «Europalalala»!
«Es schloft sich so guet / Im Zentrum vu de Welt / Schnee i de Alpe / Käs i de Lunge / Nazis und Faschos im Parlament». Drumherum offenbart sich das zentrale Thema der Platte: Der internationale Heilungsprozess zwischen Dimes Square und Migros-Restaurant in ultra kurzweiligen, aber dennoch tiefschürfenden Ohrwürmern wie Railjet Superstar oder Valerie Solanas on a Healing Journey.
Jessica Jurassicas Timing hat ihr ja schon so manch viralen Moment (und/oder Shitstorm) eingebracht und da nimmt es nicht Wunder, dass auch das erste Lebenszeichen nach intergalaktischer Pause, ein Reel zur Single Helvetia – inklusive Playstation 1 looking und twerking Globi und fucking fantastischen Feature-Part von ENL (Es nervt langsam) – direkt hunderttausendfach geklickt wurde. Topkommentar: «Gnueg Internet für huet!»
Bis die Bitterstoffe nach oben blubbern
Und yes, auf den ersten Blick erscheint das alles als ein fluffiger Meme-Trip in die Zwischenwelten des Internets, die Beats gebaut aus Augenzwinkern, die Texte verwoben mit dicken Strängen aus Ironie und Anekdoten. Doch hier offenbart sich die falsche Fährte: CAPSLOCK SUPERSTAR sind nicht ironisch, sie sind einfach sauwitzig. Und sie sind schon gar keine Parodie, im Gegenteil, dieses Projekt nimmt sich ernst, das ist allesentscheidend, denn Mia und JJ erscheinen als das zum Scherbenhaufen gebrochene Spiegelkabinett, das den Mikrokosmos Schweiz erbarmungslos aufkocht, bis die versammelten toxischen Bitterstoffe langsam nach oben blubbern.
Die beiden Protagonistinnen investierten ihre Energie und Arbeitszeit in den vergangenen Jahren vor allem in Aufklärung und Traumaarbeit. Sie mischten Täter, Täterschützer:innen und Systeme auf, immer bereit, alles zu riskieren (nicht zuletzt die eigene mentale Gesundheit) – das macht sie für mich zu wirklichen Vorbildern. Angst den Abusern!
Und deshalb ist CAPSLOCK SUPERSTAR ZWEI explizit politisch, ein Akt der popkulturellen Selbstermächtigung und damit Punk und Kunst im ureigentlichen Sinne, fernab aller peinlichpatriarchalen Männermachomechanismen. Die Lieblingsband deiner Lieblingsband deiner Lieblingsband ist ready, auch diese Dimension zu retten!
*Jeremias Heppeler bildet gemeinsam mit Mia Nägeli und Jessica Jurassica das Kollektiv Dieter Meiers Rinderfarm. Gemeinsam setzte das Trio 2022 den Science-Fiction-Spielfilm CAPSLOCK SUPERSTAR samplen den Urknall um, in welchem die Band CAPSLOCK SUPERSTAR das Universum vor dem Bösewicht DARK SATIE retten muss.