Die Liebe fährt dritte Klasse

Das Theater St.Gallen spricht und singt zum Spielzeitauftakt russisch. Was die Liebeswirren aus der Zarenzeit mit heute zu tun haben, kann man sich zumindest fragen.
Von  Peter Surber

Sie wollen den Rausch, sie wollen «brennen» fürs Leben und die Liebe – und enden im Trübsinn oder im Selbstmord, gescheitert an sich, an den Männern, an den Moralmauern ihrer Zeit: die Tatjanas, Olgas, Annas der russischen Literatur. Auf den Bühnen sind sie unsterblich – so auch in St.Gallen.

Beweis Nummer zwei gibt es am Samstag: Dann hat Eugen Onegin Premiere, die Oper von Pjotr Ilitsch Tschaikowski nach dem Versepos von Puschkin. Tatjana verliebt sich in Onegin, dieser fühlt sich aber ihrer Liebe nicht gewachsen und erschiesst im Duell seinen Freund Lenski. Jahre später trifft Onegin die halbwegs glücklos verheiratete Tatjana wieder. Die rigide Feudalgesellschaft lässt ein Happy-End aber nicht zu, die Oper endet in Tristesse, immerhin nicht tödlich (ausser für das Duellopfer).

Beweis Nummer eins hatte am Mittwoch in der Lokremise Premiere: Anna Karenina nach dem Roman von Lev Tolstoi. Anna ist unglücklich verheiratet und verliebt sich in Wronski – die rigiden Moralregeln lassen aber auch hier wenig Spielraum für die beiden, Anna gerät in einen Strudel von Schuldgefühlen, von Eifersucht und Wahnvorstellungen. Der Roman endet blutig, Anna stürzt sich vor den Zug.

Anna Karenina

Finde den Mann: Kitty (Wendy Michelle Güntensperger, vorn) und Anna (Boglarka Horvath)

Seelische Ringkämpfe

So schlagzeilen-simpel geht es in der Lokremise allerdings nicht zu und her. Tolstois weltliterarisches Sittengemälde zeichnet differenziertere Ehe- und Liebesentwürfe. Auf diese und damit auf die zentralen drei Paare hat der deutsche Theaterregisseur Armin Petras den 1000-Seiten-Roman zusammengedampft; seine populär gewordene Fassung ist jetzt in der Lokremise zu sehen, während das Kinok nebenan Anna-Karenina-Filme zeigt.

Auf der riesigen Jugendstil-Bahnhofuhr ist es fünf vor acht. Die Kulisse bilden alte Bahnwagen, sie fahren im Kreis mit dem Publikum als Passagiere und den Schauspielern in hölzernen Drittklassabteilen. Auf den Wagen steht kyrillisch der berühmte Liebes-Leid-Brief, den Karenin seiner untreuen Anna schreibt. Das Muster auf dem Boden macht taumelig, passend zu den seelischen Rutschpartien und Stolpersteinen. Aus dem geschlossenen Ring (Bühne Matthias Winkler, Kostüme Noelie Verdier) gibt es kein Entrinnen. Wir sitzen alle mit im Zug nach Nirgendwo.

Doch trotz aller physischen Nähe zum Publikum und trotz rabiater Verdichtung (ihr fallen auch Tolstois ausschweifende Auseinandersetzungen mit der Bauernfrage, mit religiösen und politischen Debatten zum Opfer) geht einem die Tragik der Anna und ihr Tod nicht wirklich nah. Was der Roman farbenreich umspielt, wird in der Bühnenfassung zum Dialog-Skelett mit gelegentlich zu viel Schaut-her-wie-gross-ich-fühle-Pathos – das zum Glück immer wieder raffiniert gebrochen wird, wenn die Rede von erster zu dritter Person umschlägt. Oder wenn Stefan zur Klampfe greift und singt – leider englisch statt russisch.

Anna Karenina

Ehekampf: Anna und Karenin (Marcus Schäfer), hinten sein Nebenbuhler Wronski (Julian Looman).

Momente starker Körper-Sprache

Zu selten setzt Regisseur Ulrich Wiggers auf die Kraft der Körper-Sprache. Wunderbar, aber ein Einfall ohne Nachfolger: Mit blossem Fussstampfen kündigt sich der Zug an, mit dem Anna in Moskau ankommt – die Spannung löst sie dann mit einem platten Auftritt. Erschütternd die Choreographie der schlackernden Arme im Liebes-Ringkampf von Anna und Karenin. Und berührend die lange, wortlose Szene, wenn Karenin und Wronski ihrer Anna zu zweit eine neue Frisur aufstecken: ein Verwandlungsakt, wie ihn nur Live-Theater hinkriegt.

Solche zeichenhaften Momente hätte man mehr riskieren können – die St.Galler Truppe hat das Zeug dazu, allen voran Oliver Losehand, der als Zweifler Lewin die russischste aller Figuren verkörpert und humoristische Glanzlichter setzt zusammen mit der von ihm angehimmelten Kitty (Wendy Michelle Güntensperger). Um Boglarka Horvath als Anna drehen sich weiter im ausweglosen Ehe-Kreis: Silvia Rhode und Tim Kalhammer-Loew als Dascha und Stefan, sowie Marcus Schäfer (Karenin) und der schöne Wronski: Julian Looman als Gast im Ensemble.

Fast schon ausserhalb des Rings steht eine Birke: eine der Lokremisensäulen hat sich mit ein paar Pinselstrichen in sie verwandelt. Wenn drinnen im Ring der Herzschmerz gelegentlich überhand nimmt, hilft ein Blick hinüber zum kargen Bäumchen.

Bilder: Tine Edel

Weitere Vorstellungen: theatersg.ch