, 6. Januar 2023
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«Die Kurd:innen werden im Stich gelassen»

Fidan* und Azad* vom kurdischen Kulturverein in St.Gallen über Erdoğans langen Arm, die Situation in Kurdistan und im Iran und die Lehren, die die ganze Welt aus Rojava ziehen könnte – wenn sie sich denn dafür interessieren würde.

Newroz: Zum kurdischen Neujahrsfest tragen Männer Fackeln zum Berg hinauf. Akre, Irak 2019. (Bild: Murat Yazar). Mehr zu seiner Fotoserie «Shadows of Kurdistan» im Januarheft von Saiten.

Saiten: Ihr wollt in diesem Interview anonym bleiben. Warum?

Fidan: Die PKK ist in der ganzen EU als Terrorvereinigung eingestuft. Zudem überwacht der türkische Staat die kurdische Bevölkerung auch im Ausland aktiv. Die Geheimdienste wissen, wer wo aktiv ist und wer wo was macht. Wir wollen es nicht riskieren, dass ein Artikel auf uns oder unsere Familien in der Heimat zurückfällt.

Die Schweiz führt die PKK nicht als Terrororganisation. Muss man als Mitglied oder Sympathisant:in der Partei auch hier Repression fürchten?

Azad: Der Wind in Europa hat sich gedreht. Jahrelang war zum Beispiel Schweden eines der Länder, das den Kurd:innen Schutz geboten hat. Doch plötzlich werden da Leute in die Türkei ausgeliefert. Oder in Deutschland: Kürzlich wurde ein Mann angeklagt, der eine Gedenkdemo für das Massaker an den Jesid:innen in Shengal organisiert hatte.

F: Ebenso eine Kurdin, die für die iranischen Frauen demonstriert hat.

A: …und das alles hat primär gar nichts mit der PKK zu tun, sondern mit ihrer kurdischen Identität. Man will der Türkei entgegenkommen aufgrund eigener politischer Interessen.

Wie werden denn die Kurd:innen in Europa wahrgenommen, was ist euer Eindruck? Werden sie mit der PKK gleichgesetzt?

F: Vorweg: Die PKK ist nicht mehr das, was sie früher war. Sie ist eine breit abgestützte Volksbewegung geworden, die in den letzten Jahren immer wieder neue Wege gefunden hat, ihre Werte und Forderungen zu vermitteln. Sicher gibt es in Europa viele, die der PKK nahestehen, vor allem unter den politisch organisierten Kurd:innen, zu denen auch wir gehören. Andererseits gibt es auch viele, die schon lange hier leben oder erst kürzlich nach Europa gekommen sind und mit unserer Ideologie überhaupt nichts am Hut haben. Das macht es auch untereinander manchmal nicht einfach.

A: Ich glaube nicht, dass wir grundsätzlich falsch wahrgenommen werden. Das hat sicher auch mit unserem Auftreten zu tun: Wenn wir zum Beispiel eine grosse Demo in Zürich oder Basel organisieren, ist es Pflicht, dass die Frauen zuvorderst laufen. Die zweite Reihe gehört der Jugend, die Alten kommen erst am Schluss. Das widerspiegelt unsere Ideologie: Wir glauben, dass die Frauen und die Jugend die Gesellschaft am meisten prägen bzw. sie am Leben erhalten. Die Leute sind sich, so hoffe ich jedenfalls, bewusst, dass wir nicht hier sind, um den Frieden in Europa zu gefährden oder unsere gewalttätigen Kämpfe hier auszutragen. Aber wir wollen politisch klar Stellung beziehen – und meiner Meinung nach ist die PKK momentan die einzige verlässliche Partei, die sich für Frieden in Kurdistan und eine Demokratisierung der Türkei einsetzt.

F: Mehr noch, sie steht auch für die Freiheit der Frauen, für ökologische Prinzipien und für Basisdemokratie. Mit dem demokratischen Konföderalismus bietet sie zudem für viele weltweite Probleme eine echte Lösung.

A: Ich glaube, das ist der Grund, warum gewisse Staaten die PKK bis heute als Terrororganisation wahrnehmen. Es hat mit einer Angst zu tun: Die PKK bietet eine echte Alternative zum kapitalistischen System – für alle linken Bewegungen weltweit. Und sie hat es geschafft, ein Volk, das seine Identität lange verleugnet hat, dazu zu bringen, trotz grösster Repressionen zu seinem Kurdisch-Sein zu stehen.

Mit der Alternative ist das Projekt Rojava gemeint?

A: Genau. Die Welt muss endlich das Augenmerk auf Rojava legen. Wenn Rojava nicht überlebt, wird die revolutionäre Bewegung auf der ganzen Welt um 100 Jahre zurückgeworfen. Rojava ist im Moment die einzige Alternative zum bestehenden System, wo Gleichstellung, Nachhaltigkeit und Basisdemokratie aktiv vorgelebt werden – wohlgemerkt in einer Kriegssituation. Es gibt Embargos, Wirtschaftssanktionen, Hunger, kaum Unterstützung von anderen Staaten. Trotzdem überlebt Rojava – noch. Aber es steht auf der Kippe.

Es scheint schwer dieser Tage, die Leute auf die Strasse zu bringen, geschweige denn, die verschiedenen linken Bewegungen für eine Sache zusammenzutrommeln.

F: Ich kann verstehen, dass andere linke Gruppen nicht bei jeder unserer Demos dabei sind, umgekehrt ist es ja auch nicht immer so. Wir haben eine aktive Kriegssituation. Teilweise gibt es drei Demos pro Woche. Wir Kurd:innen sind da relativ abgehärtet, aber es wird selbst unseren Leuten manchmal zu viel.

A: Ja, die Kurd:innen in Europa sind teilweise auch ein bisschen reaktionär. Manche sind seit über 40 Jahren in diesem Kampf. Wer weiss, wie viele Verwandte sie verloren, wie viel Folter sie erlebt haben. Da geht man nicht mehr an jede Demo. Ein Beispiel: 2018 gab es eine schweizweite Afrin-Demo in Basel, 20’000 Leute sind gekommen. Wenn wir heute eine solche Demo machen, erwarten wir bei weitem nicht mehr so viele.

Dabei wären internationale Demos und Aktionen genau jetzt angezeigt: Kurdistan wird von allen Seiten angegriffen. Was wisst ihr über die aktuelle Situation zum Beispiel in den Bergen? Habt ihr Kontakt zu Leuten vor Ort?

F: Es ist schwer, an direkte Infos zu kommen. Telefone oder Computer sind völlig unnütz geworden. Das meiste erfahren wir nur über kurdische Medien, internationale Medien berichten kaum über die Angriffe.

A: Die Gebiete werden von Satelliten überwacht, jedes Funksignal wird wahrgenommen und der Ort direkt bombardiert. Ausserdem sind am Boden Wildkameras verteilt, die jede Bewegung aufzeichnen.

F: Es gibt Videos von Kriegstunnels in den Bergen, wo die Türkei mit Bomben ausgestattete Hunde hineinschickt. Es gibt Beweise, dass die Türkei chemische Waffen einsetzt. Es gibt etliche Menschenrechtsverletzungen. Über all das könnte man auch in den europäischen Medien berichten, aber es juckt einfach niemanden. Das ist zum Verzweifeln.

Chemische Waffen und die Systematik der Kriegsführung in Kurdistan – Gespräch mit Beppe Savary-Borioli und Nilüfer Koç:

12. Januar, 19:30 Uhr, Grabenhalle St.Gallen

grabenhalle.ch

A: Immer kommt gleich der Vorwurf, die Berichterstattung der kurdischen Medien sei nicht objektiv. Dabei sagen wir doch seit Monaten: Schickt endlich eine internationale Delegation in diese Gebiete, damit sie die Vorfälle objektiv untersuchen kann. Warum dürfen bei der OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) in Den Haag nur Staaten und nicht auch Völker, die keinen eigenen Staat haben, solche Untersuchungen fordern? Soll das diese Demokratie sein, von der man im Westen immer redet?

Die türkische Offensive dauert schon seit Monaten an. Wie ist die Stimmung bei euch im Kulturverein?

F: Emotional trifft es die Leute natürlich sehr. Viele haben Familie und Freund:innen, die in den Kriegsgebieten leben und kämpfen, sei es in den Bergen oder in Rojava. Die Stimmung ist wütend, aber auch ängstlich und gedrückt. Niemand weiss, wann die Türkei einmarschiert. Ist es heute? Ist es morgen? Irgendwann wird es passieren. Auf den ersten Blick sieht man es den Leuten vielleicht nicht an, aber immer, wenn wieder eine Meldung kommt, zucken sie innerlich zusammen. Oder sie gehen eben am andern Tag auf die Strasse und demonstrieren. Das ist leider fast das Einzige, was wir von hier aus machen können.

A: Ja, aber diese Kontinuität der politischen Mobilisierung braucht es. Das ist auch der PKK zu verdanken. Sakine Cansız, die Mitbegründerin der PKK, die am 9. Januar 2013, also vor zehn Jahren, in Paris erschossen wurde, hat einmal gesagt: «Eine Revolution braucht Kontinuität.» Für mich heisst das: Wir dürfen nicht locker lassen, wir dürfen nicht aufhören, auf die Strasse zu gehen, wir dürfen nicht aufhören, uns zu organisieren, wir dürfen uns nicht zufriedengeben. Hierin unterscheiden wir uns vielleicht von anderen Linken in Europa und der Schweiz, die ihr politisches Engagement weniger als Verpflichtung sehen.

Warum macht Erdoğan ausgerechnet jetzt solchen Druck auf die kurdischen Gebiete?

A: Nächstes Jahr sind Wahlen, ausserdem feiert die Türkei ihr 100-jähriges Bestehen. Gleichzeitig schwindet Erdoğans Macht. Ich vermute, er will die «Erfolge» im Kampf gegen die PKK dem türkischen Volk unter die Nase reiben, um die Beliebtheit wieder zu steigern. Wobei ich glaube, dass das schwer wird. Die Leute leiden unter der Inflation, viele Junge sehen keine Perspektive mehr in diesem Land, nur noch die Alten wählen Erdoğan.

F: Wahlen gewinnt man in der Türkei seit jeher – wenn nicht durch Manipulation – mit den Themen Nationalismus, Islamismus und Kurdenfeindlichkeit.

Warum hält sich diese Kurdenfeindlichkeit bis heute?

F: Die Kinder in der Türkei werden immer noch durch und durch patriotisch indoktriniert. Ganz nach Staatsgründer Atatürks Motto: «Eine Nation, eine Sprache, eine Kultur.» Ausserdem wird seit über 40 Jahren in den Medien das Bild der angeblich terroristischen PKK reproduziert, die ihre eigenen Kinder tötet und so weiter. Und irgendwann gibt es dann Kurd:innen, die gar nicht mehr wissen, dass sie Kurd:innen sind. Selbst meine Verwandten bezeichnen sich zum Teil als Türken und nicht als Kurd:innen.

A: Trotzdem reden sie Kurdisch zuhause. (lacht)

F: Die unsägliche Assimilationspolitik in der Türkei ist wirklich ein grosses Problem, dieser Traum vom gross-osmanischen Reich. Man verbrennt oder vertreibt die Menschen in den kurdischen Dörfern, so dass sie in die Städte flüchten müssen. Und dort finden sie nur einen Job, wenn sie quasi «vertürken». So fängt das an.

Und Atatürks Doktrin ist so tief eingesickert, dass selbst Türk:innen, die seit Jahren im integrationsbemühten Europa leben, kurdenfeindlich bleiben?

F: Leider viel zu oft, ja! Ich war kürzlich an einer Demo in Wien. Innerhalb von einer Stunde haben uns acht Leute mit dem Bozkurtlar (dem Handzeichen der «Grauen Wölfe», der türkischen Rechtsextremisten, Anm. d. Red.) angegriffen. Das waren Einzelpersonen, keine organisierte Gruppe. Unsere Leute sind sowieso schon emotional aufgrund der Kriegssituation, da kann es dann schnell zu Diskussionen oder auch zu einem Handgemenge kommen – und dann ist in den Medien wieder von «Ausschreitungen bei einer Kurdendemo» die Rede.

A: In der Schweiz sind die «Grauen Wölfe» zum Glück weniger organisiert als in Deutschland oder in Österreich. Im Thurgau und in Olten gibt es, soviel wir wissen, einige Gruppen, grundsätzlich sind sie jedoch in der Unterzahl. Aber sind wir mal ehrlich: Das sind einfach nur dumme Nazis. Was mich mehr besorgt, ist die Kurdenfeindlichkeit im türkischen Parlament. Vor einigen Jahren wurde eine HDP-Politikerin gewählt, die bei der Vereidigung statt «Ich will dem türkischen Volk dienen» gesagt hat: «Ich will den Völkern in der Türkei dienen». Der Eid wurde nicht akzeptiert. Schon 1991 hat Leyla Zana ihrem Eid «Es lebe die türkisch-kurdische Brüderschaft» hinzugefügt und dafür 20 Jahre Gefängnis kassiert. Heute ist sie wieder in der Politik – ein echtes Vorbild.

Momentan wird in der Öffentlichkeit vor allem über die Ukraine geredet. Wie schafft ihr es, auch ausserhalb der kurdischen Bubble Aufmerksamkeit für die Sache zu generieren?

F: Ich kann es nachvollziehen, dass jetzt die Ukraine im Vordergrund steht. Dieser Krieg ist einfach näher, wenn auch nicht unbedingt geografisch. Und diesbezüglich müssen wir uns auch selber kritisieren: Wir waren ebenso jahrelang vor allem mit uns selber beschäftigt.

A: Trotzdem hätte ich mir den Aufschrei, den es für die Ukraine gegeben hat, auch für Kurdistan gewünscht. Und für Iran, Palästina oder Äthiopien. Es gibt so viele Konflikte auf dieser Welt. Aufmerksamkeit kann man auf zwei Arten erregen: bewilligt oder unbewilligt. Wichtig ist, dass die Leute stehen bleiben. Als die Giftgasangriffe anfingen, haben wir zum Beispiel begonnen, mit Gasmasken und weissen Overalls zu demonstrieren. Das hat schon einige zum Nachdenken gebracht.

Aber ob das reicht, um die Leute dazu zu bewegen, politisch aktiv zu werden?

A: Ja, das ist die relevantere Frage. Langfristig muss es darum unser Ziel sein, aus der linken Bubble auszubrechen. Mit breiten Bündnissen und Bildungsarbeit. Wir müssen die symbolischen Widerstandsaktionen von Kleingruppen runterschrauben und den Fokus mehr auf langfristige, nachhaltige Alternativen legen.

Wie meinst du das?

A: Fidan und ich waren früher zusammen aktiv bei der Jugend des kurdischen Kulturvereins. Wir haben tagelang Transparente und Plakate gemalt und uns auch mit anderen Jugendlichen aus Deutschland und Österreich getroffen. Teilweise herrschte ein richtiger Konkurrenzkampf, wer mehr kleistert – spasseshalber natürlich. Das soll jetzt nicht demotivierend klingen, aber auf lange Sicht hat das wenig verändert. Habe ich meinem Volk mit diesen Plakataktionen zu einer besseren Stellung verholfen? Nein. Habe ich den Guerillas damit geholfen? Nein.

Aber ihr habt vielleicht andere Jugendliche mitpolitisiert und inspiriert.

F: Sicher haben wir das. Und wenn man jung ist, will man ja auch ein bisschen Action. Es war eine gute Zeit. (lacht) Aber langfristig hat es wenig gebracht, da hat Azad schon recht. Dennoch war es unsere Form der politischen Bildung hier in der Schweiz. Die Jugendlichen in Kurdistan werden ja ganz anders politisiert – ganz zu schweigen von den Erwachsenen, die die türkischen Gefängnisse ganz gerne mal als «beste politische Bildungsinstitutionen» beschreiben.

A: Trotzdem, Kleistern allein bringt es einfach nicht. Ich will nicht später sagen müssen, dass 95 Prozent meiner politischen Arbeit für symbolische Aktionen draufgegangen sind.

F: Du bist einfach zu ungeduldig. Überleg dir einmal: Rojava ist jetzt zehn Jahre alt. Stell dir vor, es wäre ein Kind. Es ist noch nicht erwachsen, sondern noch ganz am Anfang seiner Entwicklung.

A: Eben! Und ich wünsche mir, dass es noch viele weitere solcher Kinder auf dieser Erde gibt. Nachhaltigkeit heisst für mich auch, diese Projekte in die Welt hinauszutragen, viele weitere Rojavas aufzubauen und Alternativen vorzuleben.

Was fordert ihr von der Politik?

A: Konkrete Massnahmen: Wirtschaftliche Sanktionen gegen die Türkei, ein Stopp der Waffenexporte – in alle Kriegsgebiete. Die Politik in der Schweiz und der EU muss endlich öffentlich Stellung beziehen. Mich nervt es brutal, dass Rojava auch von der europäischen Politik so oft kleingeredet wird, dabei kann dieses Projekt die Welt verändern. Es hat nur schon das Leben der Menschen vor Ort enorm verändert.

F: Vor allem das der Frauen.

A: Oder das der Christ:innen. Diese Gruppen konnten vorher in dieser Region nicht in Freiheit leben, jetzt können sie es. Solange die Kurd:innen gegen den IS gekämpft haben, waren sie überall willkommen. Sie haben so viele Opfer gebracht! Und jetzt werden sie wieder von allen im Stich gelassen. Vielleicht bin ich naiv. Ich hoffe noch immer, dass Rojava und Kurdistan als Ganzes früher oder später von anderen Staaten unterstützt werden, weil die Türkei mittlerweile total öffentlich und so dreckig wie noch nie Krieg gegen die Kurd:innen führt – in allen vier Teilen.

F: Das wird wohl nicht so schnell passieren. Dafür sind die wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen des Westens viel zu gross.

Welche Rolle spielen die Kurd:innen bei den Protesten im Iran?

F: Das iranische Volk hat zu lange unter der islamischen Regierung gelitten. Der Tod der Kurdin Jina Amini hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich glaube, die Inspiration zu diesem Aufbegehren kam durchaus auch von der kurdischen Befreiungsbewegung. Die Aktivist:innen im Iran haben sich einiges abgeschaut von unserer revolutionären Praxis, auch wenn das vielleicht vielen nicht bewusst ist. Das beginnt schon beim Slogan der Proteste: «Jin, Jiyan, Azadî» – Frau, Leben, Freiheit. Er stammt ursprünglich von der PKK.

A: Der Iran hat nicht umsonst als Erstes kurdische Stellungen bombardiert nach den Protesten. Und ich frage alle anderen Männer und Staaten: Wer seid ihr, dass ihr es wagt, einer Frau zu sagen, wie sie sich kleiden oder ihre Haare bedecken soll?

Manche sprechen von einer Revolution im Iran – ist es das?

F: Soweit würde ich noch nicht gehen. Es ist aber sicher ein guter Anfang, den ich sehr befürworte und respektiere. Wichtig ist, wie es jetzt weitergeht. Im Moment sehe ich noch keine klare Richtung.

A: Das sehe ich ähnlich. Für eine Revolution braucht es eine alternative Ideologie. Was kommt danach? Wie geht es weiter? In der PKK haben wir das: Wenn der Faschismus besiegt ist, kommt der demokratische Konföderalismus.

Das ist doch eine etwas überhebliche Sicht: davon auszugehen, dass die Iraner:innen keinen Gegenentwurf haben bzw. nicht fähig sind, diesen zu entwickeln.

F: So negativ war es nicht gemeint. Eine Revolution kann man ja ohnehin nicht planen. Es wäre einfach schade, wenn die ganze Energie verpufft, weil man keine politischen Ideale hat. Aber im Moment kann noch alles passieren.

A: Wenn sich Menschen gegen die Herrschaft stellen, sich gegen die Unterdrückung wehren und dafür ihr Leben opfern – selbst wenn sie sich dann für den Kapitalismus nach westlichem Vorbild aussprechen –, wäre es für mich ein wahrer Widerstand.

Wie können wir uns von hier aus solidarisieren, mit Kurdistan, Rojava, aber auch mit den Menschen im Iran?

A: Eine schwierige Frage. Konkret etwas beitragen kann man natürlich mit Geld, über den kurdischen Roten Halbmond zum Beispiel. Ich sage es noch einmal: Um wirklich etwas zu bewegen, müssen wir beginnen, mehrere Rojavas aufzubauen und unsere Kämpfe weltweit zu verbinden. Nur so können wir das Überleben sichern, Rojava darf nicht alleine bleiben. Dafür braucht es Bildungsarbeit und breite basisdemokratisch organisierte Bündnisse. Die kurdische Freiheitsbewegung macht es uns vor. Sie bringt in verschiedenen Ländern, zum Teil sogar gleichzeitig, die gleichen Inhalte und Akzente in die Gesellschaft ein.

F: Wir müssen die Situationen in Kurdistan, Iran und allen anderen Kriegsgebieten genau verfolgen und mit den Menschen in Kontakt bleiben. Vor allem ist es wichtig, dass wir schweizweite Reaktionen zeigen und, wie Azad gesagt hat, die Gruppen vor Ort finanziell unterstützen. Linke Aktivist:innen können auf Signal, Telegram oder Social Media diversen Gruppen folgen, so bleiben sie auf dem aktuellen Stand. Auch kann man sich in diesen Gruppen aktiv einbringen. In St.Gallen gibt es beispielsweise die Solidaritätsgruppe Syrien-Kurdistan, in Deutschland wurde vor einigen Jahren «Women Defend Rojava» gegründet. Und: Wenn wir Demos und Veranstaltungen machen, müssen wir darauf achten, dass wir auch Menschen erreichen, die wir bisher nicht erreicht haben. Es ist ein langer Prozess, und die Resultate unseres Widerstandes sind manchmal auch erst in einigen Jahren sichtbar. Umso wichtiger ist es, jetzt auf der Strasse zu sein. Zum Schluss möchte ich allen Widerstandsbewegungen und vor allem allen kämpfenden Frauen viel Erfolg wünschen. Wie in Kurdistan und im Iran werden wir bald auf der ganzen Welt hören: Jin, Jiyan, Azadî!

Fidan* und Azad* (Namen geändert), beide 1995 geboren, leben in St.Gallen und engagieren sich seit ihrer Jugend im kurdischen Kulturverein. Dieser existiert seit rund 20 Jahren und organisiert verschiedene Demonstrationen, Kulturwochen, Vorträge, Festivals und Filmabende in St.Gallen. Auch mobilisiert er die Leute für schweiz- oder europaweite Demos. Ausserdem helfen die Mitglieder den Menschen in den Asylheimen, indem sie beispielsweise Kleider sammeln oder bei Terminen als Übersetzer:innen fungieren. Des Öfteren werden auch Veranstaltungen beispielsweise zum Schweizer Bildungssystem und dem Gesundheitswesen organisiert.

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