Die Kultur will eine Uni
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Kritisch-skeptisch, abwartend-neutral, neugierig-gespannt? Bei der Anwärmrunde in der Lok stellt sich eine grosse Mehrheit auf die neugierige, eine markante Minderheit auf die skeptische Seite. Zwei Zufallsstimmen, von Moderator Stefan Tittmann eingeholt: Sie sei «gespannt, was sich erreichen lässt, wenn alle zusammenspannen», sagt eine Teilnehmerin. Einer anderen blieb von früheren partizipativen Prozessen die Enttäuschung, dass die vielen guten und vor allem die «wahnsinnigen» Ideen dann doch nicht umgesetzt werden.
Was ein neues Kulturkonzept nützen soll, bringt Stadtpräsident Thomas Scheitlin einleitend auf den simplen Punkt: Es soll die Glut am Glühen halten. Vom geltenden Konzept von 2009 (übrigens ein umfassendes und umsichtiges Papier des damaligen Teams von Madeleine Herzog, weiterhin lesenswert) sei manches umgesetzt worden, darunter die Drei-Häuser-Strategie der Museen und die Erhöhung des Kredits für Projektförderung.
In anderen Punkten sei es jedoch durch neue gesellschaftliche Trends überholt. Als Beispiele nennt Barbara Affolter, Co-Leiterin der Kulturförderung, neue Initiativen, spartenübergreifende oder soziokulturelle Projekte, für welche keine Förderinstrumente vorhanden seien. Neue Fragen wirft auch die Digitalisierung auf. Ausserdem seien im alten Konzept Massnahmen allzu unverbindlich formuliert.
Alles Konkretere aber soll der partizipative Prozess ergeben, den die Kulturförderung zusammen mit der Fachhochschule durchführt. Man wolle die Kulturszene selber «in die Pflicht nehmen», sagt Co-Leiterin Kristin Schmidt.
Das lässt sich diese offensichtlich nicht zweimal sagen: Über 400 Kunstschaffende, Vermittlerinnen und Vermittler, Leute aus Institutionen und aus der Verwaltung waren eingeladen, über 150 kamen und diskutierten in circa Zwölferrunden über Stärken und Schwächen, Befürchtungen und Hoffnungen rund um das städtische Kulturleben.
Männerchor, Tanzcompagnie, Künstlerin, Stadtparlamentarier, Museumsteam, Filmemacher, Jazzmusikerin, Sprayer und viele andere sind da, erfreulich sparten- und altersdurchmischt und, soweit man das mitten im Gewühl mitbekommen hat, rundherum konstruktiv bei der Sache.
Grosse Abwesende gibt es allerdings auch: Konzert und Theater St.Gallen, als finanzstärkster «Leuchtturm» immer mal wieder auch kritisch genannt, ist noch in der Sommerpause. Und Konrad Hummlers Bach-Stiftung produzierte kurzerhand eine Terminkollision, mit der Uraufführung von Rudolf Lutz’ Lutherkantate am gleichen Abend in der Laurenzenkirche. Letztere, als privat finanzierte Stiftung, muss ein städtisches Kulturkonzept offenbar nicht kümmern – ersteres, das Theater fehlt an dem Abend spürbar.
Das Ergebnis der Diskussionen im Kreis, erwartungsgemäss: ein wilder Haufen von Erwartungen, auf hunderten von Post-its festgehalten, Grundsätzliches neben Details, Wünsche an die Behörden neben Hoffnungen und Sorgen, für die eine städtische Kulturförderstelle nur beschränkt zuständig ist.
Nachstehend die auffälligsten Stichworte.
Gelobt: die Vielfalt
Das ist die immer wieder genannte Stärke Nummer eins in St.Gallens Kulturbetrieb. Er ist intensiv und farbig, Grosses hat Platz neben erfreulich vielen Nischen, die Kulturförderung wird gelobt dafür, dass sie sich auch für die «Kleinen» einsetzt. Manchmal kommt man sich vor lauter Vielfalt sogar in die Quere, drum:
Gesucht: Neues Publikum
Viele Veranstaltungen, die um die Aufmerksamkeit eines begrenzten Publikums buhlen: Das soll sich ändern. Niederschwellige Angebote werden gefordert, und die grosse Vermisstmeldung heisst: Kultur mit Migrationshintergrund. Ein Vorschlag lautet: hinaus zu den Leuten, türkische Lesungen im Lachenquartier, Kooperationen mit den Vereinen.
Vermisst: eine Hochschule der Künste
Das fehlende Publikum hat noch einen anderen viel genannten Grund: die nicht vorhandenen Ausbildungsstätten für künstlerische Berufe. Der Brain Drain wird beklagt, der Verlust der Jazzschule, das Fehlen einer Kunsthochschule, eines Konservatoriums, einer Philosophischen Fakultät. Es ist, am Ende des Forums, die stärkste Vermisstmeldung und die vehementeste Zukunftshoffnung: eine Hochschule der Künste, eine Fachhochschule für Gestaltung, ein wie auch immer geartetes kulturelles Bildungs-Zentrum.
Umstritten: die Provinz
St.Gallen ist Provinz, die «Dörflichkeit» wird als Stärke benannt, aber auch als Problem. Dagegen gibt es Widerspruch: St.Gallen sei nicht provinziell, sondern urban. Soll das Kulturkonzept die «kulturelle Identität» der Stadt festlegen, stärken, profilieren? Kultur ist mehr als ein Standortmarketing-Faktor, schreibt eine der Gruppen aufs Post-it.
Erhofft: Mut zum Unkonventionellen
Keine Angst vor Experimenten, Förderung von Freiräumen statt von «Leuchttürmen», ein Kulturkonzept mit Mut zum Unfertigen, abseits der ausgetretenen Pfade: Diese Wünsche werden mehrfach geäussert, zusammen mit der Kritik an teils schwerfälligen Bewilligungspraktiken (zum Beispiel für Sprayer).
Vermisst: Rockhalle, Werkhaus, Ateliers…
St.Gallen hat vieles. Aber es fehlt eine Halle für Konzerte für über 500 Leute, und es fehlen Probelokale, sagen die Musiker. St.Gallen fehlt ein Werkhaus für die darstellenden Künste, sagen Tanz- und Theaterleute. St.Gallen bräuchte ein Literaturhaus. In St.Gallen fehlt es an zahlbaren Ateliers und an Ausstellungsmöglichkeiten für das regionale Kunstschaffen, sagen Künstlerinnen. Räume Räume Räume… insbesondere für die freie Szene: Den Refrain kennt die Kulturstadt St.Gallen schon lange.
Erträumt: ein literarischer Verlag
Etliche Verlage sind verschwunden in den letzten Jahren, sagen die Vertreterinnen und Vertreter der Literatursparte. Andere in der Region sind bedroht. Wunschprogramm wäre ein literarischer Verlag, deponiert die Gruppe zuhanden des künftigen Kulturkonzepts. Und bemängelt zudem die dürftige Kulturberichterstattung in den Tagesmedien.
Gefordert: Förder-Transparenz
Wer bekommt wofür wieviel Fördergeld? Wer trifft die Entscheidungen? Und ginge es auch mit weniger Bürokratie und weniger dicken Dossiers? Verschiedentlich wird mehr Transparenz angemahnt. Die Forderung findet sich pikanterweise bereits im Kulturkonzept 2009 im Kapitel «Strategie und Massnahmen».
Am Rand: die Kulturkommission
Die Zusammensetzung der Kulturkommission und ihre Position gegenüber dem Stadtrat werden im Plenum nur kurz angesprochen, mit der Forderung nach mehr Kompetenzen für die Kommission. Nach den hohen Wellen, welche die Debatte um den städtischen Kulturpreis und die Rücktritte mehrerer Kommissionsmitglieder geworfen hatten, scheint das Thema nicht mehr so brennend zu sein.
Kaum ein Thema: das Geld
Zahlbare Ateliers: Das ist ein vielgeäusserter Wunsch an die Kulturförderung. Weniger Beiträge an die grossen Institutionen, mehr für die «Kleinen»: Auch dies erhoffen sich einzelne. Darüber hinaus ist jedoch auffällig wenig von Geldmangel oder Geldforderungen die Rede. Sonst häufig Thema Nummer eins bei kulturpolitischen Diskussionen, ist an diesem Forum für einmal mehr der Geist als das Geld gefragt.
Gesucht: ein «agiles Konzept»
Dynamisch, veränderbar, reaktionsschnell soll das neue Kulturkonzept sein. Die Forumsteilnehmer wollen kein steifes Papier, sondern ein wandlungsfähiges Arbeitsinstrument. «Agil» soll es sein, möglicherweise sogar Manifest statt Konzept.
Jetzt wird geknetet
Die 1001 Post-its und Ideen werden jetzt von der Fachhochschule und der Kulturförderung gesichtet und geordnet. Dieser ersten Knetung folgt eine zweite, in die auch die Leitfaden-Interviews einbezogen werden. Diese Arbeit leistet eine Fachgruppe aus diversen Verwaltungsstellen, aber auch mit Jugendlichen und Bildungsvertretern. Anschliessend übernimmt die Steuergruppe des Stadtrats, und die vierte Knetung findet am 3. Dezember statt, wiederum als Forum der Kulturakteurinnen und -akteure. Im Frühling wird dann ein erster Entwurf der Öffentlichkeit vorgestellt, Ende 2019 soll das neue Kulturkonzept fertig sein.