«Die kirchliche Machtordnung muss angegangen werden»

Pfarrer Georg Schmucki hat sich übers Bistum St.Gallen hinaus als kritischer Theologe und politisch wie sozial engagierter Mensch einen Namen gemacht. Als Initiant des diözesanen Fachgremiums gegen sexuelle Übergriffe haben ihn die jüngsten Berichte über Missbräuche in der katholischen Kirche aufgewühlt. Ein Porträt.
Von  Roman Hertler
(Bilder: Sara Spirig)

Ende März 2002 geriet im Bistum St. Gallen einiges ins Rollen. Das Domkapitel, ein Beratungsgremium des Bischofs, traf sich. Zum Schluss der Sitzung kam der damalige Bischof Ivo Fürer hinzu und gab bekannt, am Palmsonntag werde von allen Kanzeln des Bistums verkündet, dass ihr Kollege Alois Fritschi, damals Pfarrer in Walenstadt, wegen sexueller Handlungen mit Kindern verhaftet worden sei.

Georg Schmucki, damals Pfarrer in Uzwil und Mitglied des Domkapitels, erinnert sich gut an jene Tage. Auf die Bekanntmachung der Verhaftung folgte am Montag eine Flut von Anfragen: Nicht nur Medien, auch Opfer und Mitwissende von sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld meldeten sich beim Bischof.

Der Bischof, überfordert von der Situation, telefonierte Schmucki und bat ihn um Unterstützung bei der Beantwortung der Anfragen. Dieser willigte ein, merkte in Gesprächen mit den Opfern aber bald, dass das Thema für einen allein zu gross war. Also zog er externe Fachleute bei und bildete eine Arbeitsgruppe: Sie bestand aus Edith Brunner, evangelisch, Juristin und ehemalige Präsidentin der Opferhilfe St. Gallen-Appenzell, Theologin Yvonne Steiner und Margrit Giger, ehemalige Sozialarbeiterin in Rorschach. Bischof Ivo Fürer begrüsste die externe Unterstützung und überführte die Arbeitsgruppe in das offizielle bischöfliche Fachgremium gegen sexuelle Übergriffe – die erste funktionierende Organisation dieser Art in der Schweiz.

Die Arbeit des Fachgremiums geriet jüngst wieder in den medialen Fokus: Im September dieses Jahres hat die Uni Zürich ihre landesweite Pilotstudie zur «Geschichte des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» veröffentlicht. Über 1000 Fälle dokumentierte das Forschungsprojekt, das von der Schweizerischen Bischofskonferenz in Auftrag gegeben wurde.

Missbrauch in der Kirche: Wo steht die Aufarbeitung im katholischen St.Gallen?

Studienautor:innen Lucas Federer, Monika Dommann und Marietta Meier präsentieren ihren Bericht.

Erfreuliche Universtität: 21. November, 20 Uhr

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Ein öffentlich herumgereichtes Fallbeispiel ist jenes des Priesters E.M., «Pfarrer Tätscheli», wie er von Heimkindern genannt wurde. Nachdem Pfarrer Fritschis Verhaftung bekannt geworden war, hatten Mitarbeiterinnen des Kinderheimes Speer in Uznach bezüglich der Übergriffe von E.M. das St.Galler Fachgremium kontaktiert. Dieses meldete den Fall dem Bischof, der als einzige Sofortmassnahme über E.M. ein Besuchsverbot für das Kinderheim Speer verhängte. Das Fachgremium hatte unter anderem eine Therapierung des Beschuldigten verlangt. Später forderte auch ein entsprechendes Fachgremium der Bischofskonferenz weitere Massnahmen. Doch Bischof Fürer hat nichts unternommen, zumindest ist nichts dergleichen dokumentiert.

Für Georg Schmucki und das Fachgremium war der Fall E.M. einer der ersten. Das damalige Gremium will den Fall heute nochmals anschauen. Es hat um Einsichtnahme in die Protokolle ersucht und will analysieren, ob es angesichts des damaligen Wissenstands genug unternommen hat.

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Saiten: Herr Schmucki, wann haben Sie vom Bericht der Uni Zürich erfahren und was hat er bei Ihnen ausgelöst?

Georg Schmucki: Ich war gerade auf einer Wanderung in der Innerschweiz, als mich ein alter Freund anrief, ob ich diesen «Scheiss» gelesen hätte. Er unterrichtete mich über die Studie. Ich erinnerte mich sofort an den Fall E.M. Aber nicht mehr an die Details, das ist immerhin 20 Jahre her und mein Gedächtnis wird auch nicht besser. Für mich war das Thema nach der Übergabe meiner Funktion im Fachgremium an meinen Nachfolger eigentlich abgeschlossen. Doch die Medienberichte haben vieles wieder aufgewühlt. Ich fühle mit den Opfern, bin wütend über die Täter. Und frage mich auch: Haben wir als Fachgremium alles richtig gemacht? Ich hatte einige schlaflose Nächte. Und natürlich einige Gespräche. Ich bin froh, wenn ich das Thema wieder abhaken kann.

Aber dieser Moment ist noch nicht gekommen.

GS: Nein. Gemeinsam mit den ehemaligen Kolleginnen vom Fachgremium haben wir um Einsicht in unsere Protokolle von damals ersucht. Wir wollen nicht das Vorgehen des damaligen Bischofs Ivo analysieren, sondern einzig, ob unser Gremium angesichts des damaligen Wissensstands richtig gehandelt hat oder ob es zum Beispiel hartnäckiger weiterführende Massnahmen hätte fordern sollen. Das Fachgremium hatte damals und hat noch heute nur beratenden Charakter. Entscheiden muss immer der Bischof. Hätten wir E.M. zur Anzeige bringen müssen? Warum haben wir nicht aktiver nach weiteren Opfern gesucht? Und reicht die Beratungsfunktion des Fachgremiums? Solche Fragen wollen wir jetzt angehen.

In diesem Fall wird dem heutigen Bischof Markus Büchel – wie seinem Vorgänger Ivo Fürer – Untätigkeit vorgeworfen. Büchel gab an einer Medienkonferenz an, er kenne E.M. nicht. Später krebste die Kommunikationsstelle des Bistums zurück, man wisse zwar, um wen es sich handle, dürfe aber keine weiteren Angaben zur Person machen. Der Ruf nach Demission wurde laut. Muss Bischof Markus zurücktreten?

GS: Ich war zuerst richtig sauer, als der Bischof behauptete, er kenne den Namen des Beschuldigten nicht. Markus Büchel war 2002 bereits Bischofsvikar. Ich meine, er müsste vom Fall gewusst haben. Aber letztlich ist das nur eine Vermutung. Ich will ihm nichts unterstellen. Bischof Markus jetzt als Lügner zu bezeichnen, finde ich daneben. Unprofessionelle Kommunikation, ja, eine Notlüge, möglicherweise. Etwas, das passiert, wenn man stark unter Druck gerät, etwas, mit dem Markus Büchel noch nie gut umgehen konnte. Dass die Frage nach E.M. an der Medienkonferenz kommt, war absehbar. Darauf hätte er vorbereitet sein müssen.

Also soll Büchel nicht zurücktreten?

GS: Nein, definitiv nicht. Bei aller Kritik und allen Meinungsverschiedenheiten, die ich mit Markus Büchel auch habe, finde ich nicht, dass er zurücktreten muss. Es ist jetzt einfach, auf der Kirche herumzuhacken. Gerade kürzlich stand in der Zeitung etwas von einem übergriffigen «katholischen Lehrer». Was seine Konfession mit den Übergriffen zu tun haben soll, ist mir schleierhaft. Das pauschale Rumhacken auf der Kirche ist scheinheilig. Was passiert denn, wenn in der Privatwirtschaft eine Sekretärin einen Übergriff durch ihren Vorgesetzten meldet? Im schlimmsten Fall wird sie – und nicht er – entlassen. Aber Obacht: Damit will ich auf keinen Fall irgendwelche Taten von Kirchenmännern bagatellisieren oder rechtfertigen. Kriminell bleibt kriminell. Dafür habe ich zu viele Geschichten erzählt bekommen, als dass ich nicht anerkennen müsste, dass die Kirchenstrukturen übergriffiges Verhalten begünstigen.

Wie meinen Sie das?

GS: Die katholische Kirche ist ein streng hierarchisch gegliedertes System, eine absolute Monarchie, deren Spitze obendrauf als unfehlbar gilt. In diesem Nimbus stehen auch die Bischöfe und auf der unteren Stufe die Priester. Ich habe an sich nichts dagegen, dass die Kirche über ein eigenes Rechtssystem verfügt, aber eine globale Organisation dieses Ausmasses müsste demokratischer organisiert sein. Es bräuchte auch hier eine Gewaltenteilung.

Inwiefern begünstigen diese Strukturen sexuelle Übergriffe?

GS: Die Einbettung in dieses streng hierarchische System kann in Kombination mit Beziehungsunfähigkeit und einem gestörten Verhältnis zur eigenen Sexualität zu einem Schlupfloch werden, in der sich leichter Ventile in Form sexueller Übergriffe finden lassen als anderswo. Noch einmal: Jeder einzelne Übergriff auf ein Kind ist einer zu viel, und wenn er von einem Kirchenmann begangen wird, gleich doppelt.

Sie fordern nun «harte und radikale» Massnahmen seitens der Kirche. Was meinen Sie damit?

GS: Diese «heilige Machtordnung» in der katholischen Kirche muss endlich angegangen werden. Und dass das Priesteramt auch für Frauen offen sein sollte, ist für mich eine Banalität. Darüber müssen wir gar nicht diskutieren. Es wäre aber falsch, die Frauen nun einfach zu Priesterinnen zu weihen. Das ist eine Falle. Viel eher müssten wir zuerst über das Weihesakrament an sich nachdenken, und zwar radikal. Und bei der Sexualmoral muss die Kirche definitiv über die Bücher.

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1964 zügelt Georg Schmucki nach Fribourg, um Theologie und Philosophie zu studieren. Oft zieht es ihn abends in die Altstadt hinunter zu den Farben tragenden Verbindungen. Sein Vulgo ist «Möggli», mit alttoggenburgischem Doppel-G. Am Stammtisch wird über vieles diskutiert, nur nicht über die altbackene Theologie, die damals in den Vorlesungen geboten wird. Das zweite vatikanische Konzil ist noch nicht abgeschlossen, doch die vorbereitende Literatur dazu ist längst in Umlauf. Die Lektüre der kritischen Theologen wie Karl Rahner, Edward Schillebeeckx, Johann Baptist Metz und natürlich Hans Küng sei sein eigentliches Studium gewesen, sagt Schmucki.

Nachdem er den Abschluss gemacht, in St.Georgen den diözesanen Weihekurs absolviert und im März 1969 in der St.Galler Kathedrale die Priesterweihe empfangen hat, zieht er mit zwei ebenfalls frisch geweihten Freunden nach München. Dort erreicht ihn nach einiger Zeit ein Anruf der Mutter, warum er sie nicht informiert habe, dass er Kaplan in Goldach werde. Für ihn ist das auch eine Neuigkeit, aber er tritt die Stelle an.

So ist Goldach Schmuckis erste «eigene» Pfarrei. Dort kommt er in Kontakt mit jungen kritischen Geistern, die ihn bitten, Referenzen zur Militärdienstverweigerung aus Gewissensgründen auszustellen. Was der einstige Unteroffizier gerne tut. Ein Erlebnis im letzten WK hat den jungen Wachtmeister Schmucki, einen begeisterten Funker, für das Thema sensibilisiert: In einem Manöver auf dem Ricken steht er seinem «Feind» gegenüber, erkennbar am weissen Band um den Helm, und kommt ins Grübeln. Man beschiesst sich gegenseitig, zwar nur mit blinder Munition, aber in Echt müsste jetzt einer von beiden sterben. Und dabei seien sie beide bloss Herbefohlene. Schmucki wird nie wieder eine Schusswaffe anrühren. Umstimmungsversuche und Schiessdispens als Lockangebot seitens der Vorgesetzten laufen ins Leere. Schmucki wird vor der Diakonatsweihe ausgemustert.

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Sie gelten als kritisch, unangepasst, als Mann deutlicher Worte, auch dem Fluchen nicht abgeneigt. Das «Tagblatt» nannte sie mal einen «Rebell».

GS: Über diese Bezeichnung habe ich mich sehr geärgert. Aber es war mein Fehler, ich hatte nur den Text – der übrigens sehr in Ordnung war – gegengelesen, nicht den Titel. Aber nun gut. Man hat mich schon vieles genannt: einen Linken, einen grünen Spinner, einen, der von Moskau gesteuert und finanziert wird. So klang das halt zu Zeiten des Kalten Krieges, wenn man nicht immer auf Linie der Bürgerlichen war. Ich und meine beiden Kollegen, mit denen ich gleichzeitig zum Priester geweiht wurde und noch heute eng befreundet bin, fielen damals mit unserer kritischen theologischen Haltung halt schon etwas aus dem Rahmen. Wie wir später einmal erfuhren, glaubte aber jeder der drei Pfarrer, denen wir zugeteilt waren, er hätte noch den Bravsten von uns bekommen. So schlimm konnten wir also nicht sein.

Dennoch haben Sie sich immer stark gemacht für Ihre Positionen.

GS: Ja, natürlich, auch politisch. Zum Beispiel 1984 engagierte ich mich im Abstimmungskampf zur Einführung des Zivildiensts. Die Initiative wurde dann erst im zweiten Anlauf angenommen. Dieses Engagement haben einige in Rorschach, wo ich von 1979 bis 2001 Pfarrer war, nicht gutgeheissen. Aber allen kann man es nie recht machen. Und viele, die damals nichts mehr mit mir zu tun haben wollten, redeten später doch wieder mit mir. Auch haben wir uns schon anfangs der 80er-Jahre infolge des Berichts des Club of Rome für einen schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen eingesetzt. Darauf bin ich heute auch etwas stolz. Andererseits macht es mich traurig: Hätte man damals schon auf die Signale reagiert, müssten wir heute nicht diese Klimakatastrophe miterleben. Aber der Mensch ist halt ein Verdrängungskünstler. Das sieht man auch heute, wenn im Wahlkampf Migrationsthemen vorgeschoben werden, damit man ja nicht über die eigentlichen Probleme reden muss. Aber lassen wir das …

Wie wird man eigentlich so kritisch, auch gegenüber jener Institution, der Sie sich beruflich verschrieben haben?

GS: Gute Frage. Vermutlich hat das im Studium angefangen. Ich bin eigentlich nicht in einem besonders kritischen Umfeld aufgewachsen. Mein Vater war Lehrer an der «Flade», meine Mutter stammte aus einer Bauernfamilie. Als wir damals nach St.Gallen ins Neudorf zogen, wurden wir schnell fester Bestandteil der Pfarrei. Meine Eltern waren engagiert. Zuhause wurde vor den Mahlzeiten gebetet. Ich empfand das aber nie als engen oder frömmlerischen Familienkatholizismus. Die Geschichten, die sich um den Kirchturm herum abspielten, waren für mich mindestens so prägend, wie das, was in der Kirche lief.

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Georg Schmucki kommt 1942 in Schänis zur Welt. Der Vater ist Sek-Lehrer und hat die Mutter, die auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, im Kirchenchor kennengelernt. 1944 ziehen Schmuckis nach Kirchberg. Die Mutter wird mit «Frau Lehrer» angesprochen, was völliger Unsinn sei, findet Georg Schmucki. Seine Mutter habe überhaupt nichts Lehrerhaftes an sich gehabt. Nach zehn Jahren, die Familie ist mittlerweile siebenköpfig, ziehen sie nach St. Gallen. Der Vater erhofft sich dort bessere Ausbildungschancen für den Nachwuchs und nimmt die Berufung an die «Flade» daher gerne an. Im Neudorf wird gerade eine Jungwachtschar gegründet. Georg Schmucki ist begeistert. Er erinnert sich an Cremeschnittenschlachten im Pfarreiheimkeller und viel anderen Schabernack. Oft fährt er mit Freunden samstags nach der Jungwacht mit dem Velo in den Alpstein. Der Lütispitz im Toggenburg wird ihr Hausberg, das Tramhüsli im Neudorf ihr Treffpunkt. Im «Guggeien» gehts zum Handörgelitanz, im «Altguggeien» wird gejasst.

Wenn er nicht im Jungwachtlager ist, hilft Schmucki in den Ferien in Mühlrüti im Toggenburg im landwirtschaftlichen Betrieb von Verwandten mütterlicherseits mit. Freiwillig und mit Freude, wie er betont. Stundenlanges Rinderhüten. Auch für Holzarbeiten und das Ausbringen von Gülle kann man ihn gebrauchen. Zweimal bietet er seine Dienste auch einem Cousin der Mutter auf einer Glarner Alp an. Eine raue Welt sei das gewesen, eine reine Männerwelt, aber gut. Alpromantik höchstens, wenn der Senn das Büchel-Alphorn hervorholt oder den Alpsegen ruft.

Anders ist ihm die Familie in Mühlrüti in Erinnerung. Dort hat man abends in der Stube vor dem Herrgottswinkel lange Gebete gesprochen, der Onkel, der um vier Uhr früh wieder raus musste, sei dabei oft eingenickt auf dem Ofenbänkli. Unter anderem solche Erinnerungen begründen die Nestwärme, die Schmucki im Katholizismus bis heute verspürt.

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Haben Sie nie daran gedacht, aus der katholischen Kirche auszutreten?

GS: Das werde ich oft gefragt. Und ich habe darauf immer die gleiche Antwort: Die Kirchengeschichte ist eine 2000-jährige Geschichte von Sündern und Heiligen, von ungeheuren Skandalen und Liebestaten. Bei aller Kritik an ihren Machtstrukturen und am Festhalten an gewissen erzkonservativen Positionen ist es eben doch die katholische Kirche, die mir das Evangelium überliefert hat. Und zudem ist mir eine Kirche, in der auch Fehlbare Platz haben, viel lieber, als wenn man zu den Bekehrten und Reinen gehören muss. Darum sind all die Fundamentalisten so unglaubwürdig, egal welcher Konfession oder Religion sie angehören. Jesus sass mit den Zöllnern und Dirnen am Tisch, nicht bloss mit den frommen Pharisäern.

Gab es nie die Momente des Zweifels?

GS: Doch, natürlich. Oft sogar. Gerade auch zu jener Zeit, als ich viele Gespräche mit Opfern sexueller Übergriffe und Tätern aus dem Kirchenumfeld führte, begann ich mich zu fragen, inwiefern die Institution Kirche solche Täter produziert. Aber ich habe mich dann entschieden, mir durch all das Negative, das in der Kirche auch vorhanden ist, nicht die Freude am Glauben und am Leben nehmen zu lassen.

Was bekräftigt Sie in Ihrem Glauben?

GS: Einerseits die Lektüre der Heiligen Schrift und Jesus selber als Vorbild. Andererseits bin ich 25 Jahre lang mit einer Freundin regelmässig in die Berge gegangen. Stundenlanges Wandern und Bergsteigen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Das waren sehr schöne, auch spirituelle Momente. Vor allem Skitouren waren für mich nicht nur athletisch-alpinistische, sondern auch spirituelle Erlebnisse. Das Vorwärtsgehen durch die Stille des Winters, das endlose Weiss, auch durch Schneestürme. Schritt um Schritt. Solche Momente hatte ich womöglich schon als Bub beim Hüten der Kühe.

Wollten Sie nie ins Kloster eintreten?

GS: Ich ging gerne ins Kollegium Engelberg, wo ich die Matura machte, auch wenn ich nicht in allen Fächern glänzte, am wenigsten in Latein und Griechisch. Die Patres hätten mich schon im Kloster gesehen. Ich wäre wohl sofort zum gutbürgerlichen Klosterbruder geworden, was mir aber nicht entsprach. Ich wollte mit Menschen arbeiten, und zwar von der Geburt bis zum Tod. Ich interessierte mich zwar für die Regel des heiligen Benedikt, aber ebenso für die theologischen und philosophischen Fragen der Menschwerdung. Anton Rotzetter, ein Kapuziner, mit dem ich lange zusammengearbeitet habe, hat mir später auch die Spiritualität von Franz von Assisi nähergebracht, den Schöpfungsgesang, den Sonnengesang. Überhaupt auch die Armutsbewegung in der Kirchengeschichte. Nachhaltig beeindruckt mich auch die Geschichte von Katharina von Siena, einer sehr kritischen Frau im Mittelalter, gerade auch dem Papst gegenüber. Und über die buddhistische Suchbewegung, die in den 1970ern Europa erreichte und für die ich mich sehr interessierte, bin ich schliesslich auch bei Niklaus von Flüe, Bruder Klaus, gelandet. Ich habe gemerkt, dass es eine solche Suche nach dem göttlichen Geheimnis auch im Katholizismus gibt. Man muss dafür nicht weit reisen. Gott kann man auch nah bei sich begegnen, wie es Bruder Klaus erlebt hat, ganz zuunterst in der Schlucht auf seinem eigenen Boden. Bis heute wandere ich wenn möglich einmal im Jahr in den Ranft hinunter. Manchmal allein, manchmal in Gruppen.

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1971 holt Pfarrer Paul Strassmann den 29-jährigen Priester von Goldach nach St.Fiden. Sie führen viele, auch heftige, aber freundschaftliche Debatten. Gemeinsam mit den evangelischen Pfarrern vom Grossacker entsteht die Idee der ökumenischen Gemeinde Halden. Für Schmucki ist es eine der lehrreichsten Zeiten: viel Jugendarbeit, viel Arbeit mit Randständigen sowie Alkohol- und Drogenabhängigen. Seine Wohnung steht den Jugendlichen jederzeit offen. Sie enttäuschen ihn manchmal, beklauen ihn, er versetzt einem schon mal einen Tritt in den Hintern. Man versöhnt sich meist.

In St.Fiden begegnet Schmucki auch immer wieder dem Reporter und Schriftsteller Niklaus Meienberg, der im Quartier aufgewachsen ist und hin und wieder die Messe besucht. Eine spannende Figur sei das gewesen, auch furchteinflössend, erinnert sich Schmucki an den zwei Jahre älteren Meienberg. Er leiht dem umtriebigen Journalisten sein Auto, einen französischen Simca 1000, damit dieser die Tochter von Bundesrat Kurt Furgler ausfahren kann.

Auch Schmucki hat gute Freundinnen. Und bleibt aus Überzeugung ledig. Sein seelsorgerischer Alltag, wie er ihn lebte, Tag und Nacht mit Menschen in allen möglichen Lebenssituationen zusammen, wäre in einer festen Beziehung unmöglich gewesen. Das Zölibat als Berufsvoraussetzung für katholische Priester lehnt er aber ab.

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Man hört man dieser Tage oft den Vorwurf, das Zölibat sei schuld, dass es in der katholischen Kirche so viele sexuelle Übergriffe gibt. Was sagen Sie dazu?

GS: Sexuelle Übergriffe passieren viel häufiger im nicht-kirchlichen und vor allem im engsten familiären Umfeld. Aber ja: Die kirchlichen Machtstrukturen können, kombiniert mit einem eng ausgelegten Zölibatsgebot und einer verdrängten oder gestörten Sexualität, Übergriffigkeit begünstigen. Die katholische Kirche hat bei der Sexualmoral eine enorme Schlagseite. Wie lange wurde Geschlechtsverkehr als etwas Unreines verteufelt, zum Teil bis heute. Das müsste dringendst aufgearbeitet werden. Die strenge Auslegung des Zölibats ist ja auch eine relativ junge Erfindung. Bis ins Mittelalter war die Priesterehe der Normalfall, das Zölibat verbot bloss die Wiederverheiratung verwitweter Pfarrer. Das Eheverbot für Priester hatte ökonomische und erbrechtliche Gründe.

Bischof Markus Büchel hat 2015 als Reaktion auf homophobe Äusserungen des Churer Bischofs Vitus Huonder gesagt, die Sexualität in all ihren Formen sei ein Geschenk Gottes, solange sie auf Gegenseitigkeit und Respekt beruhe.

GS: Hierbei gebe ich ihm absolut recht. Sexualität ist etwas Wunderbares.

Wenn die Frage erlaubt ist: Wie handhaben Sie es mit dem Zölibat?

GS: Sie dürfen schon fragen. Ich habe in meinem Leben immer wieder schöne Freundschaften mit Frauen gepflegt und tue es noch heute. Und natürlich habe auch ich mich schon verliebt, und natürlich kommt man sich in so einer Phase vielleicht auch einmal zu nahe. Aber man muss sich dann auch sofort fragen, ob das für beide auf Dauer so stimmen kann. Wichtig war mir immer Ehrlichkeit und Transparenz in der Frage, wie viel Nähe möglich ist und wie man den urmenschlichen Trieb auch anderweitig – zum Beispiel durch Selbstbefriedigung – kompensieren kann. Seit einiger Zeit treffe ich mich wieder regelmässig mit einer Freundin, die ich vor 60 Jahren kennengelernt habe. Wir verbringen viel Zeit miteinander, im Sommer mehr im Tessin bei ihr, im Winter eher bei mir in St. Gallen.

Eine Heirat kam für Sie nie infrage?

GS: Nein, aus genannten Gründen nicht. Aber im Alter stellt sich die Zölibatsfrage für mich nochmals anders. Welchen Sinn hat denn das Ledigbleiben mit meinen 81 Jahren noch? Ich fühle mich wohl in meinem Umfeld, pflege viele schöne Beziehungen und helfe da und dort auch weiterhin als Pfarrer aus. Und ich hatte in den Pfarreien, in denen ich arbeitete, auch immer eng befreundete Familien, bei denen ich wie ein Onkel ein- und ausging. Dort spielte ich auch familiäre Rollen. Ich bin durchaus ein väterlicher Typ. Eine Drittklässlerin fragte mich einmal im Religionsunterricht am Schluss des Schuljahrs, ob ich nicht ihr Grossvater werden möchte. Ich wollte immer ledig bleiben. Das Leben, wie ich es führte, hat mich erfüllt. Ich wurde von Verheirateten teilweise auch beneidet um mein Ledigsein, genauso wie ich manchmal die Verheirateten beneidete.

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1979 willigt Georg Schmucki nach dreiwöchiger Bedenkzeit ein, von St.Fiden nach Rorschach zu ziehen und dort die Pfarreileitung zu übernehmen. Aus eigenen Stücken und nicht nur aus Gehorsam gegenüber dem Bischof, wie er betont. 22 Jahre bleibt er dort, bis er 2001 seine letzte offizielle Pfarrerstelle in Uzwil antritt. Als er 1994 erstmals nach Guatemala reist, um Spanisch zu lernen, und in befreiungstheologischer Tradition beim Aufbau einer landwirtschaftlichen Schule für die vom Bürgerkrieg gebeutelte indigene Landbevölkerung hilft, knüpft er Freundschaften, die bis heute anhalten. Die nächste Guatemala-Gruppenreise organisiert und plant der 81-Jährige für nächsten Sommer.

Es ist immer die Arbeit mit den Menschen, die ihn antreibt. An Heiligabend 1981 lädt er, ohne dass sie voneinander wissen, einen Aktivisten, einen Journalisten und einen Polizisten zu sich nach Hause an den Stubentisch. Alle drei waren in ihrer Weise an den Zürcher Opernhauskrawallen beteiligt. Basisnähe in der Gemeindearbeit ist Schmucki besonders wichtig. Die kirchliche Hierarchie und die päpstliche Monarchie sind für ihn mit Blick auf das Evangelium nicht zentral. Er engagiert sich zwar in der Diözese, ist den Bischöfen als Mitglied des Domkapitels immer nahe, hält aber auch kritisch Distanz, wenn es ihm geboten scheint.

2014 organisiert er die Kirchendemonstration unter dem Titel «Es reicht!». Rund 3000 Personen ziehen an einem Märzsonntag vom St.Galler Bahnhofplatz zum Klosterplatz. Sie sind wütend über die ultrakonservative Kirchenpolitik des Churer Bischofs Vitus Huonder. Bischof Markus Büchel, damals Präsident der Bischofskonferenz, hält sich zwar zurück und bezieht nicht klar Stellung gegen seinen Churer Kollegen. Aber er tritt immerhin vor die versammelte Menge und nimmt den Brief der Demonstrierenden entgegen, in dem eine neue Leitung des Bistums Chur gefordert wird, die für eine barmherzige und weltzugewandte katholische Kirche stehen soll. Von Bischof Markus wird erwartet, den Papst in Rom darauf aufmerksam zu machen, dass es im Bistum Chur rumort. Bischof Markus sagt bei der Briefübergabe auf dem Klosterplatz: «Pontifex bedeutet Brücken bauen und nicht Brücken niederreissen.»

Bereits in den 80er-Jahren betätigt sich Georg Schmucki als Gefängnisseelsorger. Angefragt hat ihn der damalige Bischof Otmar Mäder, der um Schmuckis Engagement im St.Fidener Milieu weiss und auf seine Erfahrungen bauen kann. So fährt Schmucki über 20 Jahre lang einmal die Woche ins Saxerriet, führt Gespräche, hält Messen. Einmal sitzt Bischof Ivo, der aus Interesse eine Gefängnismesse miterleben will, inmitten der Insassen und übersetzt Schmuckis Predigt ins Französische. Vor diesem gefängnisseelsorgerischen und sozial engagierten Hintergrund scheint es folgerichtig, dass Bischof Ivo 2002 Georg Schmucki um Hilfe bittet, als ihm die Verhaftung des Walenstädter Pfarrers Fritschi um die Ohren fliegt. Von 2002 bis 2018 ist Schmucki eine von zwei Ansprechpersonen des St.Galler Fachgremiums gegen sexuelle Übergriffe.

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Haben sich nach der Bekanntgabe der Verhaftung von Alois Fritschi viele Opfer bei Ihnen und dem Fachgremium gemeldet?

GS: Ich bin immer vorsichtig mit dem Wort «viele». Direkt nach der Bekanntgabe titelte eine Zeitung: «Viele neue Opfer». Dabei waren es zu diesem Zeitpunkt zwei oder drei. Aber es kamen natürlich laufend mehr dazu. Das geschah wellenartig. Jedes Mal, wenn medial wieder verstärkt über Missbräuche im Kirchenumfeld berichtet wurde, kontaktierten uns weitere Opfer. Wie viele es in meiner 16-jährigen Tätigkeit für das Fachgremium waren, kann ich nicht mehr sagen. Es waren nicht Hunderte, aber sicher Dutzende.

Wie haben Sie die Gespräche mit den Opfern erlebt? Was waren ihre Anliegen?

GS: Rückblickend darf ich sagen: In den allermeisten Fällen waren das gute und für die Opfer wichtige Gespräche. Wir haben in der Regel ja nur ein erstes Gespräch geführt, triagiert und bei Bedarf an weitere Stellen weiterverwiesen, zum Beispiel an die Opferhilfe. Die Gespräche haben wir protokolliert und erst dann dem Bischof weitergereicht, wenn sie die Betroffenen gelesen, korrigiert oder ergänzt und unterschrieben haben. Wir erhielten von den Betroffenen oft die Rückmeldung, wie gut es ihnen tue, endlich einmal über ihre Geschichte sprechen zu können und von jemandem ernst genommen zu werden.

Was waren für Sie die schwierigsten Momente?

GS: Natürlich geht einem jede einzelne Geschichte nahe. Unfassbar, was die Menschen durchleben mussten. Schwierig wurde es, wenn Opfer das Bedürfnis äusserten, den Tätern einmal ins Gesicht zu sagen, welche Folgen das Erlebte für sie hatte. Solche Konfrontationen hat es gegeben, im Sitzungszimmer meiner damaligen Pfarrei in Uzwil. Wir haben die Betroffenen immer gewarnt, dass ein Treffen zusätzliche Wunden erzeugen könne, dann nämlich, wenn die Täter ihre Schandtaten abstreiten oder relativieren. Und in den allermeisten Fällen waren diese Treffen auch eine Enttäuschung. Aber wir konnten nicht mehr als warnen. Wenn jemand wirklich so ein Treffen verlangte, haben wir versucht, es zu ermöglichen.

Gab es Leute oder Kreise, die versuchten, die Arbeit des Fachgremiums zu verhindern?

GS: Nein. Wir handelten im Auftrag des Bischofs. Vereinzelt warf man mir vor, ich würde Pfarrerkollegen blossstellen. Das waren aber Ausnahmen. Wenn ich mutmassliche Täter kontaktierte, waren diese in der Regel sehr schnell zu einem Gespräch unter vier Augen bereit. Einige stritten ihre Taten ab, andere waren erleichtert, endlich auch einmal reden zu können. In den meisten Fällen ist es aber ohnehin so, dass die Täter längst verstorben sind. Viele Geschichten liegen Jahrzehnte zurück und sind damit juristisch verjährt. Und dennoch können plötzlich wieder alte Wunden aufreissen. Das wird mir auch aktuell berichtet, seit das Thema wieder mehr öffentliche Präsenz hat.

Erhielten die Opfer, die sich bei Ihnen meldeten, eine Entschädigung?

GS: Die Schweizerische Bischofskonferenz hat hierfür einen Fonds eingerichtet. Eine finanzielle Wiedergutmachung für das grosse verursachte Leid ist natürlich nicht möglich. Geld kann nichts ungeschehen machen. Aber zumindest ist es ein Zeichen der Anerkennung. Man kann beim Fonds einen Antrag für einen Betrag zwischen 5000 und 20’000 Franken einreichen. Auch unser Fachgremium hat in gewissen Fällen solche Anträge im Namen der Opfer gestellt. Soweit ich weiss, sind diese Gelder auch immer bezahlt worden.

Wie geht es jetzt im Fall E.M. weiter?

GS: Wir haben uns kürzlich im diözesanen Archiv die Protokolle zum Fall angeschaut. Wir werden diese für uns auswerten und unsere Erkenntnisse mit dem aktuellen Fachgremium teilen. Das wird im November sein. Wir werden dann auch besprechen, ob die Statuten des Fachgremiums aus heutiger Sicht noch stimmig sind oder ob ihm durch den Bischof mehr Kompetenzen eingeräumt werden sollen. Vielleicht sollte das Gremium mehr als nur eine beratende Funktion erhalten. Und dann bin ich froh, wenn ich das Thema der sexuellen Übergriffe in der Kirche endlich abschliessen kann für mich. Jetzt sollen die Jungen übernehmen.