Die Kantonshauptstadt tickt politisch anders

Das Ausmass des Rechtsrutsches bei den Kantonsratswahlen mit sieben zusätzlichen SVP-Sitzen war überraschend. Die Rechtsausleger starten damit gestärkt in die Erneuerungswahlen fürs St.Galler Stadtparlament. In der Kantonshauptstadt stellt allerdings eine andere Partei die SVP in den Schatten: Die SP baute ihre Position als stärkste Stadtpartei weiter aus.
Von  Reto Voneschen
Das St.Galler Stadtparlament an der erstren Sitzung 2024. (Bild: Urs Bucher)

Im Kanton St.Gallen folgen die Wahltermine für National- und Ständerat sowie für die Kantons- und die Gemeindebehörden in dichter Folge innert einem Jahr. Das Prozedere ist als «St.Galler Wahlmarathon» berühmt und berüchtigt. Gefordert sind die Parteien, die sich in kurzer Zeit dreimal hintereinander auf die Suche nach Kandidierenden machen und Wahlkämpfe führen müssen. Nach den nationalen Wahlen vom 22. Oktober 2023 und den kantonalen Wahlen vom 3. März finden in der Stadt St.Gallen die Erneuerungswahlen für Stadtparlament und Stadtrat am 22. September statt.

Trends für die lokalen Parlamentswahlen sind aus den Wahlresultaten für National- und Kantonsrat ableitbar. Bei der Interpretation der Zahlen ist allerdings zu beachten, dass die Gesetzmässigkeiten und die Verhältnisse bei den einzelnen Wahlgängen unterschiedlich sind. So wird am 22. September eine so stark mobilisierende eidgenössische Sachabstimmung wie die 13. AHV-Rente fehlen. Von dieser Vorlage hat bei den Wahlen im Kanton St.Gallen die SVP stark profitiert. Sie zog viele ihrer Wähler:innen an die Urne. Dabei waren die Meinungen zwar geteilt, aber viele haben offenbar gleichzeitig den Wahlzettel «ihrer» Partei abgegeben.

Die Blöcke bleiben wohl gleich gross

Grosse Verschiebungen zeichnen sich im St.Galler Stadtparlament nicht ab. Ausgeschlossen scheint ein Rechtsruck wie im Kantonsrat, wo am 3. März vier linksgrüne Sitze zur SVP wanderten. Im Stadtparlament ist Stabilität angesagt: Eine rein rechnerische Prognose geht von vier, eine realistischere unter Einbezug lokaler Aspekte von zwei Sitzverschiebungen aus. Demnach würden FDP und Grüne verlieren, SVP und SP gewinnen. Die Blöcke (Linksgrüne 27 Sitze, Bürgerliche 28) blieben gleich gross, die Grünliberalen (8 Sitze) blieben bei Links-Rechts-Entscheiden in der Amtszeit 2025 bis 2028 «das Zünglein an der Waage».

Natürlich sind Prognosen ein knappes halbes Jahr vor einem Wahltermin mit Vorsicht zu geniessen. So kann politisch in dieser Zeit noch viel geschehen und die Grundstimmung sich verändern. Zudem ist bei Proporzwahlen immer schwierig vorherzusagen, wer bei Restmandaten Glück und wer Pech hat. Relativ wenige Stimmen und damit Zufälligkeiten können den Ausschlag geben, wohin ein solcher Sitz letztlich geht. Anderseits ist die Zahl an Restmandaten klein; sie allein reichen daher in der Regel für grosse Verschiebungen nicht aus.

Kantonsratswahlen: SVP wächst um sieben Sitze

Sieger:innen und Verlierer:innen bei den St.Galler Kantonsratswahlen vom 3. März sind rasch genannt: Grosse Siegerin ist die SVP mit neu 42 statt 35 Sitzen. Klare Verlierer:innen sind die FDP (minus 3 auf 19 Sitze) und die Grünen (minus 3 auf 6 Sitze). Verloren hat auch die SP (minus 1 Sitz auf 18 Mandate). Stabil blieben die Mitte (27 Sitze) und die EVP (2 Sitze). Die Grünliberalen haben gegenüber den Wahlen 2020 sogar zugelegt (plus 1 Sitz auf 6 Mandate); dies allerdings nicht dank grosser Stimmengewinne, sondern weil ein Parteiloser auf einer ihrer Listen seit den Wahlen 2020 der GLP beigetreten ist.

Insgesamt hat sich mit dem Wahlwochenende im St.Galler Kantonsrat auch das Kräfteverhältnis zwischen Bürgerlichen und Linksgrünen um vier Sitze nach rechts verschoben. An der Politik des Rats wird das nicht viel ändern: Sie war schon vor den Wahlen pointiert rechtsbürgerlich. In der Februarsession kurz vor den Wahlen hat der Rat dies einmal mehr demonstriert: Er erhöhte den Steuerabzug für Pendlerinnen und Pendler von 4000 gleich auf 8000 Franken. Die bürgerlich dominierte Regierung hatte eine massvollere Erhöhung auf 6000 Franken vorgeschlagen.

In der Stadt St.Gallen bleibt die SP klar stärkste Partei

In der Mehrzahl der Gemeinden des Kantons St.Gallen ist nach dem 3. März die SVP stärkste Partei. Ausnahmen finden sich in zehn Gemeinden. In acht davon hat die Mitte die Oberhand: Bad Ragaz, Sargans, Mels, Gams, Lichtensteig, Degersheim, Oberuzwil und Jonschwil. In Rorschach belegte die FDP den ersten Platz. Und politisch anders als der Rest des Kantons tickt weiterhin seine Hauptstadt: Hier hat die SP ihre Position als stärkste Partei mit einem Stimmenanteil von 30,7 Prozent (plus 2,8 Prozent) wieder ausgebaut. Zusammen kommen SP, Grüne und Grünliberale auf 53 Prozent.

Allerdings hat die SVP am 3. März auch in der Stadt St.Gallen zugelegt, nämlich um 1,9 auf 15,3 Prozent. Sie verdrängt damit in der Rangliste der Stadtparteien erstmals die FDP vom zweiten Platz. Ebenfalls überrascht haben bei den Kantonsratswahlen in der Stadt die Grünliberalen, die entgegen den Erwartungen beim Stimmenanteil leicht zulegen konnten, nämlich um 0,3 auf 12,1 Prozent. Wie im Kanton sind die Wahlverlierer:innen in der Stadt St.Gallen ebenfalls die Grünen (-3,7 auf noch 9,9 Prozent) und die FDP (-2,1 auf noch 14,4 Prozent). Stabil blieb mit 3,2 Prozent (+0,1) die EVP.

Sitzgewinn(e) für SP und Juso

Eine rein rechnerische Prognose für die Stadtparlamentswahlen im Herbst hat Bruno Eberle erstellt. Er ist ehemaliger Stadtpolitiker des Landesrings der Unabhängigen (LdU) sowie langjähriger Beobachter der kantonalen und städtischen Politszene. Eberle hat berechnet, wie viele der 63 Stadtparlamentssitze jede Partei mit dem Stimmenanteil der Kantonsratswahlen errungen hätte. SP und Juso kämen auf 20 Mandate (plus 2), die SVP auf 10 (plus 2), FDP und Jungfreisinnige auf 9 (minus 2), die Mitte sowie die Grünliberalen/Jungen Grünliberalen wie bisher auf je 8, die Grünen/Jungen Grünen auf 6 (minus 2) und die EVP auf 2 (plus 1).

Für die Beurteilung der Form der Parteien kann so eine Rechnung erste Hinweise liefern. Allerdings spielen bei den Stadtparlamentswahlen weitere Aspekte eine Rolle. Links kandidiert etwa die Politische Frauengruppe (PFG) jeweils nicht für den Kantonsrat; sie tritt heute nur lokal an. Wähler:innen der PFG dürften bei nationalen und kantonalen Wahlen meist die Wahlliste der SP einlegen. Der PFG-Sitz im Stadtparlament ist unbestritten. Er wird vom SP/Juso-Resultat abgehen. Womit die SP noch für einen Sitzgewinn und damit 19 Sitze gut ist.

Auch SVP legt zu, FDP und Grüne verlieren

Dass die SVP auch in der Stadt St.Gallen im Aufwind ist, belegten bereits die National- und jetzt wieder die Kantonsratswahlen. Wie schon bei den Wahlterminen 2015/16 und 2019/20 dürfte die Partei aber nicht den ganzen Schwung in die Stadtparlamentswahlen mitnehmen können. Zum einen fehlt am 22. September dafür eine Sachabstimmung, die so stark mobilisiert wie die 13. AHV-Rente. Zum anderen hat es die SVP 2016 und 2020 nicht geschafft, mit einer vollen 63er-Liste zu den städtischen Parlamentswahlen anzutreten. Und das ist gegenüber den anderen grossen Parteien ein Nachteil. Mit etwas Glück dürfte die SVP im Stadtparlament daher nur um einen auf neun Sitze zulegen können.

Bei den Verlierer:innen der Kantonsratswahlen in Kanton und Stadt dürften die Ausschläge im Herbst ebenfalls nicht so gross werden wie am 3. März. Bei FDP und Jungfreisinnigen ist genau wie bei Grünen und Jungen Grünen je ein Sitz gefährdet. Der Freisinn käme damit im Stadtparlament neu auf zehn statt elf Sitze, die Grünen auf sieben statt acht. Bei der Mitte (acht Sitze) sowie der EVP und der PFG (je ein Sitz) dürften bei den Stadtparlamentswahlen im Herbst aller Wahrscheinlichkeit nach keine Veränderungen resultieren.