Die Kamera als Brückenbauerin
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Der Wald. Eine Insel, wo alle sein können, wie sie sind. Auch die 19-jährige Helena ist gerne unter Bäumen. Bei ihr wurde nach der Geburt eine tuberkulöse Sklerose diagnostiziert, eine seltene Krankheit mit schwerer Epilepsie. Bis zu 16 Anfälle pro Tag hatte Helena, dazu kommen hyperaktive, aggressive, zwanghafte Momente.
Diese Diagnose sei in gewisser Weise auch erleichternd gewesen, sagt ihre Mutter, Veronika Kisling. Endlich hatte sie eine Erklärung für das Verhalten ihrer Tochter. Sie musste sich daran gewöhnen, dass ihre Erwartungen und Gewohnheiten über den Haufen geworfen wurden mit Helenas Geburt, musste einen Umgang damit finden. «Es schmerzt extrem, wenn du dein Kind nicht erreichen kannst», sagt sie. Um einen Zugang zu ihr zu finden, fing sie schon früh an, das gemeinsame Leben zu filmen – die Kamera als Brückenbauerin.
Das ist auch die Kamera in Edgar Hagens neuem Dok-Film Wer sind wir?, geführt von Aurelio Buchwalder. Allerdings fungiert sie weniger als Brücke von Individuum zu Individuum, sondern als metaphorische Autobahn für die Mehrheitsgesellschaft, die uns mitten ins Leben von Helena, Jonas (11) und Felix (9) und ihren Angehörigen holt.
Die Brüder Jonas und Felix Lankenau haben eine Hirnfehlbildung namens pontozerebelläre Hypoplasie Typ 2 (PCH2) und sind rund um die Uhr auf Betreuung angewiesen. Mittlerweile hat die Familie mithilfe der Krankenkasse 13 Angestellte für die Betreuung, die Eltern leben flexible Arbeitsmodelle. Da fragt man sich unweigerlich: Was machen Familien mit weniger Ressourcen in einer solchen Situation?
Der andere Alltag
Hagen hat die beiden Familien über längere Zeit begleitet. Er zeigt, wie Helena hadert mit der Kommunikation und daran fast verzweifelt, wie sie sich vor den Reizen ihrer Umgebung zu schützen versucht, wie Jonas mit der Sonde ernährt werden muss, wie er geifert, sich krampfend im Rollstuhl hält, über einen «Talker» kommuniziert oder mit Schienen in der Aufrechten gehalten wird.
Er zeigt auch, wie Helenas Mutter Veronika völlig überfordert ist, die Geduld zu verlieren droht, wie Jonas’ Eltern, Axel und Stefanie Lankenau, mit der ersten Diagnose umgegangen sind, dann mit der zweiten, wie sie trauern, weil sie «Stück für Stück einen Teil des Kindes verlieren» – und schliesslich ihre Sicht aufs Leben völlig umkrempeln.
Gespräch mit dem Regisseur Edgar Hagen, Veronika Kisling, Stadträtin Sonja Lüthi und Hansueli Salzmann, Geschäftsführer Procap St.Gallen-Appenzell: 11. Februar, 18 Uhr, Kinok St.Gallen
Als Zuschauerin braucht man einige Zeit, um aus der Betroffenheit herauszufinden, sich nicht im Mitleid zu verlieren. Zum Glück zeigt der Film auch, wie effektiv man sich aus der totalen Überforderung herausholen kann, wenn man sich solidarisch zusammen tut und die richtigen Leute um sich hat, wie sich Zukunfts- und Glücksvorstellungen wandeln können und in einem umfassenden Transfomationsprozess münden, der schliesslich zu einer neuen Lebensqualität führt.
Dank Jonas, Felix und Helena lernen wir, wie integrativ gelbe Fussnägel sein können, wie wichtig Piktogramme sind – und vor allem: dass unser «gesunder» Blick auf die Welt alles andere als abschliessend ist.
Die Kinder so nehmen, wie sie sind
Was das alles für uns als Gesellschaft bedeutet, wird auch thematisiert, aber vergleichsweise leise und vor allem von Jonas’ Vater Axel. Die Schweiz hat die UNO-Behindertenrechtskonvention 2014 ratifiziert und sich somit verpflichtet, für die Teilhabe und Gleichstellung von Menschen mit Behinderung zu sorgen. Was das konkret heisst, darüber ist man sich noch nicht einig. Es gibt zwar integrative Schulkonzepte, jedoch werden Kinder mit schweren Behinderungen immer noch gerne abgewiesen.
Auch Familie Lankenau hatte gehofft, ihre Söhne in der Grundschule vor Ort unterbringen zu können. Deren Antwort: Die Rechte der anderen Kinder auf Persönlichkeitsentwicklung und Wohlbefinden wären durch Jonas in nicht zumutbarer Weise eingeschränkt.
Mittlerweile besucht Jonas die inklusive Torwiesenschule in Stuttgart. Dort versucht man, Kinder nicht an «die Norm» anzupassen, sondern sie so zu nehmen, wie sie sind. Eine seiner Schulkameradinnen sagt im Film, dass Englisch schwerer sei als die Sprache, die Jonas spricht. Sie habe Stück für Stück gelernt, ihn zu verstehen, mit Zeit und Vertrauen. Ein anderes Gspänli sagt: «Jonas kann nicht so viel, aber er kann auch was! Jeder ist ein Mensch. Jonas kann zum Beispiel nicht lügen.» Diese Szenen sind herzerwärmend und machen Mut.
Gespräch mit dem Regisseur Edgar Hagen: 20. Februar, 20 Uhr, Cinema Luna Frauenfeld
«Alles so nehmen, wie es ist: Das ist vielleicht unsere subversivste Kraft», heisst es einmal im Film. Es muss daraus hinauslaufen, wenn wir als Gesellschaft allen Autonomie ermöglichen und einen Umgang finden wollen mit dem «Anderen». Denn Familien wie jene von Jonas und Helena können nichts anfangen mit unserem Mitleid und Bedauern.
Es braucht Verständnis, eine Zersetzung des Begriffs «normal» und die Übereinkunft, dass es für alle einen Rahmen gibt, sich zu entfalten, und sei er noch so klein. Das muss nicht nur in die Köpfe, sondern auch in die Gesetze. Auch wenn am Ende vor allem eines bleibt: Bewunderung.