Die inklusive Bibliothek

St.Gallen soll eine «Public library» erhalten. Allerdings frühestens 2028. Laut Katrin Meier, Leiterin des kantonalen Amtes für Kultur, wird die Bibliothek hybrid, vernetzt, wandelbar und niederschwellig.
Von  Peter Surber
Das Union, künftiger Standort der Haupstadt-Bibliothek.

Man hätte Lust, das Haus gleich mitzuplanen – zum Beispiel das Erdgeschoss. Hier ist die Empfangshalle mit neuen Publikationen, Zeitschriften, neuen Medien geplant, weiter Arbeitsplätze und ein Ausstellungsraum.

Im ersten Stock soll die Kinder- und Jugendabteilung folgen, eine Krabbelecke, Räume zum Werken, für Kurse und Schulungen, möglicherweise auch zum Proben (schliesslich gibt es auch eine Notenabteilung in der Sammlung) und wiederum Lese- und Arbeitsplätze. Noch einen Stock höher folgen die wissenschaftlichen Abteilungen und weitere Arbeitsplätze, zuoberst ein grosser Veranstaltungssaal.

So die Wünsche der Kantons- und Stadtbibliothek. Raumverteilung und -gestaltung blieben selbstverständlich den Architekturbüros überlassen, sagt Katrin Meier, die Leiterin des kantonalen Amts für Kultur. Die Bibliotheken haben Grundlagen für den Architekturwettbewerb erarbeitet, der im Winterhalbjahr 2019/2020 ausgeschrieben wird.

Und der virtuelle Rundgang fängt in Tat und Wahrheit schon weiter unten an, in den Untergeschossen, wo Magazine und Kulturgüterschutzraum für die historischen Bestände geplant sind. Unten werden die Bücher aufbewahrt, die nicht auf Anhieb griffbereit sein müssen, über alle Geschosse darüber breitet sich dann eine durchgehende Freihand-Ausstellung aus.

Die Spinne namens «Public Library»

Anlieferung und Erschliessung sind noch zu entwickeln. Grundsätzlich entschieden ist hingegen, dass das heute bestehende Hauptgebäude namens Union erhalten bleiben soll – der rechtwinklige kleinere Annexbau kann hingegen bleiben oder ersetzt werden. Auf dem heute freien Blumenmarkt wird ein Neubau zu stehen kommen. Ein Bibliothekscafé mit Innen- und Aussenraum gehört selbstverständlich dazu.

Das 1950/51 entstandene Union beim St.Galler Marktplatz, ein Bau der Architekten – Vater und Sohn – Ernst Hänny, soll neuer Standort der «Public Library» werden. Gegenwärtig wird der Architekturwettbewerb vorbereitet; Kanton, Stadt und Helvetia Versicherung (die Besitzerin des Gebäudes) haben entschieden, dass der Hauptbau erhalten bleiben und um einen Neubau ergänzt werden soll. Die Wettbewerbsergebnisse liegen voraussichtlich bis Mitte 2021 vor. Mit einem Baubeginn wird nach den Parlaments- und Volksabstimmungen in Kanton und Stadt 2025 gerechnet. Der Bezug der neuen Bibliothek ist 2028 geplant. Sie soll das heutige Provisorium in der Hauptpost ersetzen.

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Die Stadt erhält eine neue Mitte – und dies ziemlich genau auf halbem Weg zwischen dem künftigen Campus der Universität am Platztor und der Fachhochschule beim Bahnhof, ebenso der Kantonsschule. Die Spinne namens «Public library» hockt also im Zentrum des Netzes anderer Bildungsbauten, die ihrerseits je über eine Bibliothek verfügen.

Für Katrin Meier ist diese Vernetzung ein starkes Argument für den gewählten Standort. Noch stärker aber wiege, dass der Standort für das Publikum optimal sei. Denn die künftige Bibliothek soll Teil des Stadtlebens sein. Das Union sei dafür der ideale Ort, «das wird wunderbar», sagt Katrin Meier.

Treffpunkt aller Schichten

Der Raumbeschrieb macht schon klar: Hier soll es nicht nur um Bücher, sondern um die Menschen gehen. «Bibliotheken sind ausgezeichnete Gesellschaftsorte mit einer Integrationskraft wie kaum eine andere Institution», sagt Katrin Meier. Sie funktionierten als Treffpunkt aller Generationen und Schichten, für Leute mit wenig Bildungshintergrund bis zu akademisch Gebildeten. Die Computerarbeitsplätze etwa, die es bereits heute im Hauptpost-Provisorium gibt, würden oft von Leuten genutzt, die zuhause nicht mit PC ausgerüstet sind. «Bibliotheken sind Knotenpunkte, verbinden Generationen, Kulturen, Bevölkerungsgruppen und Individuen, verknüpfen Themen und Interessen, bieten sinnvolle Anregungen, sind Foren und fördern den Dialog»: So stand es schon 2012 im Bericht der Regierung zum damals neuen Bibliotheksgesetz.

Speziell ist, dass in St.Gallen Kantons- und Stadtbibliothek zusammengehen, während in vielen andern Städten die Kantons- mit den Universitätsbibliotheken liiert sind. Der historische Sonderfall verdankt sich nicht zuletzt der Existenz der Stiftsbibliothek, neben der sich die Vadiana als weltliche, ursprünglich ortsbürgerlich getragene Institution als Gegenwicht halten konnte. Zudem kam eine Fusion mit der HSG-Bibliothek, wie sie ums Jahr 2004 diskutiert wurde, nicht zustande.

Dank diesem seit 2015 bestehenden Bund von Kantons- und Stadtbibliothek werden künftig im Neubau also Kinder, Studierende, Bücherfreaks und Wissenschaftlerinnen unter einem Dach spielen, lesen, lernen und forschen. Hier sollen Schulklassen ein- und ausgehen, Lesezirkel für Fremdsprachige, öffentliche Vorlesungen, Schreibwerkstätten oder Diskussionsrunden sollen ihren Platz ebenso haben wie vielleicht auch ein Angebot für Schlaflose: Wie in anderen Städten erprobt, könnte eine «Schlafbibliothek» mit einer rund um die Uhr verfügbaren Auswahl an (spannendem) Lesestoff im Angebot sein. Einen 24-Stunden-Betrieb wird sich St.Gallen allerdings nicht leisten können, aber voraussichtlich längere Öffnungszeiten als heute. Und dies für eine Jahresgebühr von 30 Franken – fast geschenkt.

Eine Million Medien. Tendenz steigend

Dass die Bibliothek bereits jetzt, im Provisorium in der Hauptpost und der Kinder- und Jugendabteilung in St.Katharinen, an Anziehungskraft gewonnen hat, belegen die steigenden Ausleihzahlen. Im Jahr 2018 zählte die Bibliothek Hauptpost erstmals über 100’000 Besuche, nämlich 106’698 im Vergleich zu 97’425 im Jahr 2017. Insgesamt verzeichneten die Standorte Hauptpost und Katharinen rund 220’000 Besuche und gesamthaft über 800’000 Ausleihen physischer und digitaler Medien.

Und das ist im Kanton nur die Spitze des Eisbergs. Der Verbund des St.Galler Bibliotheksnetzes (SGBN) setzt sich aus 46 Bibliotheken zusammen, mit dabei sind unter anderem die Stifts- und die Textilbibliothek, die Kunstbibliothek Sitterwerk, die St.Galler Stadtbibliothek, Bibliotheken kantonaler Spitäler sowie Kantonsschulbibliotheken. Die Verbunddatenbank verzeichnet total über eine Million Medien. Die Leitung hat die Kantonsbibliothek; sie ist darüber hinaus, wie Katrin Meier hervorhebt, auch das Kompetenzzentrum für alle Gemeindebibliotheken.

Bleibt die Mutter aller Fragen: Ob es Bibliotheken als feste Häuser künftig überhaupt noch braucht? Die Planung für die künftige Union-Bibliothek liefert die Antwort ein Stück weit bereits mit – oder zumindest die politische Überzeugung: Je stärker die Digitalisierung voranschreite, umso unverzichtbarer würden Orte des gesellschaftlichen Austausches. Die Freihandregale sollen zwar flexibel montiert sein, das Gewicht zwischen analog und digital soll sich verschieben können, und auch der Eingangsbereich soll handorgel-artig funktionieren – je nach Bedürfnis und Ansturm sollen sich die Nutzungen verschieben und ergänzen können. Aber als «Treffpunkt für alle, die sich mit Texten und mit aktuellen gesellschaftlichen Themen beschäftigen», werde die Bibliothek überleben, ist Katrin Meier überzeugt.

Und im Moment stehen für das gedruckte und das elektronische Buch die Zeichen gut: Die Zahl der Ausleihen steigt weiter an. Das «Ende des Lesens» ist nicht in Sicht.

Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.