Die Gesamtscheisse und das Theater der Ernsthaftigkeit

Nichts Politisches zu erkennen in Menanders Komödien. (Bild: Relief, ca. 100 v. Chr., Wikimedia)

Ernste Zeiten erfordern einen Begriff vom Problem der Ernsthaftigkeit. Ein philosophisch-politisches Delirium und ein Plädoyer für das antifaschistische Leben.

Der ei­ne ein So­zi­al­de­mo­krat, dem man be­den­ken­los Woh­nungs­schlüs­sel und Bank­kon­to an­ver­trau­en wür­de, der an­de­re ein rechts­extre­mer Ge­werk­schafts­has­ser (welch Klas­si­ker in der Ge­schich­te der Au­to­mo­bil­in­dus­trie), der tag­täg­lich An­schau­ungs­ma­te­ri­al pro­du­ziert, war­um man Rei­che bes­ser be­steu­ern soll­te. Was Hal­tung, An­stand und po­li­ti­sche In­te­gri­tät be­trifft, un­ter­schei­den sich die bei­den der­art krass von­ein­an­der, dass ich mich für den Ver­gleich vor­ab in al­ler Form ent­schul­di­gen muss.

Sa­gen wir mal so: Der fal­sche von ih­nen ist der Be­kann­te­re, der fal­sche von ih­nen mit mehr Macht aus­ge­stat­tet, der fal­sche hat das Klein­geld und die Frei­zeit, die Welt­po­li­tik auf den Kopf zu stel­len und uns in ekel­haf­te Träu­me zu ver­fol­gen. Aber es gibt ei­nes – und nur ei­nes – das Céd­ric Wer­muth und Elon Musk ge­mein­sam ha­ben: Sie mach­ten ein­ma­lig Schlag­zei­len mit ei­ner Tü­te, ei­ner Kiff­zi­ga­ret­te, ei­nem Öf­chen, wie man es auch im­mer nen­nen will. Bei­de als mut­mass­li­che Nicht­quar­zer über­rasch­ten mit dem Zug an ei­nem Joint in ei­ner Si­tua­ti­on, in der man nicht zwin­gend ei­nen durch­zieht. Ei­ne sanf­te Ab­wei­chung von der Norm, al­le Au­gen drauf, ein fei­ner Stunt. Be­hal­ten wir die­se klei­nen Ha­sch­re­bel­lio­nen, so un­wich­tig sie sind, im Hin­ter­kopf.

Zwei­er­lei von der Bür­ger­ba­cke

Auf der Welt­büh­ne, die man be­reits in lus­ti­ge­ren Zei­ten lie­be­voll «die Ge­samt­scheis­se» nann­te, wird der­zeit ein an­de­res Gen­re ge­spielt. Do­mi­niert wird die Sze­ne­rie von Prot­ago­nis­ten, de­ren Mi­mik der­art ein­ge­fah­ren ist, dass Zu­schau­en­den der Atem stockt. Auf der ei­nen Sei­te in tie­fer Ernst­haf­tig­keit die bür­ger­li­che Rest­ver­nunft, de­ren Ei­gen­schaf­ten in dem Auf­zug klar wer­den, als sie buch­stäb­li­chen Stolz dar­über zeigt, der fa­schis­ti­schen Rech­ten fried­lich die Macht zu über­ge­ben. Be­grün­det wird dies mit ei­ner mo­ra­li­schen Wet­te: So of­fen­ba­re sich, dass die an­de­ren zu ei­ner sol­chen Grös­se nicht in der La­ge wä­ren. 

Die erns­ten Zü­ge wer­den nach­voll­zieh­bar, wenn man die Blick­rich­tung än­dert. Denn auf der an­de­ren Sei­te – und es ist schwer, für län­ge­re Zeit kon­zen­triert hin­zu­schau­en – se­hen wir ei­ne ir­ri­tie­ren­de Ent­rü­ckung, wie man sie sonst nur von fort­ge­schrit­te­ner Mas­tur­ba­ti­on und ei­ni­gen Frei­kir­chen kennt. An­ge­streng­tes Grin­sen und je­ner ver­damm­te Dau­men, der im­mer nach oben weist, ver­ra­ten, dass kei­nes­wegs ei­ne Ak­ti­vis­tin dem Re­pu­bli­ka­ner ihr LSD in den Tee misch­te, son­dern die Ent­rü­ckung um je­den Preis ge­wollt, ge­sucht und er­zwun­gen wird. 

Das Stück zeigt ei­ne öde Män­ner­welt, grin­sen­de Söh­ne und un­lus­ti­ge Vä­ter wie Bur­schen­schaft und Re­gie­rung, ein tra­di­tio­nel­les Fa­mi­li­en­un­ter­neh­men, ei­nen cir­cu­lus vi­tio­sus, gött­li­che Wie­der­kunft. Die Knilche for­dern männ­li­che En­er­gie, wol­len den Al­ten ans Le­der, um sel­ber die Al­ten zu wer­den. Der Bur­schen­füh­rer als Äl­tes­ter auf der Büh­ne ver­kör­pert die­sen Um­stand in ei­ner Per­son. «Gre­at again» be­deu­tet to­ta­le Er­neue­rung oh­ne ei­ne neue Idee. Die Ge­schich­te kennt dies un­ter dem selt­sa­men Be­griff der «kon­ser­va­ti­ven Re­vo­lu­ti­on»: Weil die­se Kon­ser­va­ti­ven nicht se­lig schun­keln, son­dern in ih­rer Furcht vor Ver­än­de­rung ei­ne prä­ven­ti­ve Kon­ter­re­vo­lu­ti­on ins Werk set­zen, die tat­säch­lich al­les än­dert.

Nun hat es die pro­pa­gier­te Männ­lich­keit so an sich, dass ih­re Me­ta­phy­sik durch­schaut wird. Je­de:r weiss, dass nichts da­hin­ter ist. Sel­ten aber war das deut­li­cher als in die­ser In­sze­nie­rung. Wird durch die­se Dar­stel­ler noch die gräss­lichs­te Des­po­tie ver­wirk­licht, und Chan­cen da­für sind ge­ge­ben, so wür­de doch nie ir­gend­wer auf die Idee kom­men, sie des­we­gen für et­was an­de­res als die gröss­ten Idio­ten des Pau­sen­hofs zu hal­ten, der ih­re re­le­van­te Be­zugs­grös­se bleibt.

Nur sind das al­les an­de­re als gu­te Nach­rich­ten. Die schie­re Un­mög­lich­keit, die­se Ak­teu­re ernst zu neh­men, wirkt po­li­tisch zu ih­ren Guns­ten. Nicht nur er­laubt die­ser Um­stand, ge­nau das zu tun, was sie of­fen in Aus­sicht stel­len, dar­über hin­aus hin­ter­lässt er das Ge­gen­über mit ei­ner Ernst­haf­tig­keit, die dar­in be­steht, dies nicht glau­ben zu kön­nen. 

Das Thea­ter der Ernst­haf­tig­keit hat in der Fol­ge ein drei­fa­ches Pro­blem: die ernst­haf­te Se­rio­si­tät, die Ernst­haf­tig­keit des Un­se­riö­sen und das na­he­zu un­mög­li­che Mu­sik­ge­hör zwi­schen ei­nem staats­tra­gen­den Selbst­ver­ständ­nis und dem Um­stand, dass die­je­ni­gen oh­ne ein sol­ches nun ernst­haft den Staat ma­chen. 

Kern die­ser Ver­ken­nung ist die Ver­stän­di­gung dar­über, was der Staat sei. Ein gän­gi­ges Mus­ter der bür­ger­li­chen Rest­ver­nunft be­steht dar­in, das rech­te Pro­jekt als ei­nes der Zer­set­zung zu ver­ste­hen, wäh­rend die Rech­ten ih­rer­seits vor­ge­ben, ein sol­ches zu sein, da­bei aber das Ge­gen­teil tun. Den Staat auf­lö­sen wol­len al­le, die ihn nicht bei sich wäh­nen. Än­dert sich et­was am Wäh­nen, er­üb­rigt sich der Wunsch bald. Die gros­se Fra­ge ist, was je­weils un­ter «Staat» ver­stan­den wird: 50 Jah­re neo­li­be­ra­ler Rhe­to­rik wa­ren dies­be­züg­lich ei­ne ein­zi­ge und om­ni­po­ten­te An­alpha­be­ti­sie­rungs­kam­pa­gne. 

Gran­de fi­na­le

Selbst­ver­ständ­lich gilt es hier­in, die de­mo­kra­ti­sche Fra­ge zu stel­len. Und sie in die­ser Hin­sicht prä­zi­se zu stel­len, heisst, sie als «Bul­len­fra­ge» zu stel­len: der Be­stra­fungs­staat als Ne­ga­tiv­fo­lie zur Aus­lo­tung, wie es um ein all­fäl­li­ges Recht auf Wi­der­stand stün­de. Wür­de nur nach De­mo­kra­tie ge­fragt, hät­te die Rest­ver­nunft die­se ve­he­ment ver­tei­digt und die Rech­te mehr oder we­ni­ger aus­drück­lich ein­ge­stan­den, wie scheiss­egal ihr die Fra­ge ist. Selbst das Ge­sül­ze von «Vol­kes Wil­le» ent­hüllt sich beim kleins­ten Stress­test als war­me Luft ei­ner be­stimm­ten Kör­per­öff­nung. 

Wird hin­ge­gen di­rekt ge­fragt, wie es um «dei­nen Freund und Hel­fer» steht, reibt man sich die Au­gen: Da herrscht ein hei­li­ges Ein­ver­neh­men auf der Thea­ter­büh­ne – ein­mal in ernst­haf­ter Mie­ne und ein­mal mit ent­rück­ter Gri­mas­se. Was als künst­lich dra­ma­ti­sier­tes Er­bau­ungs­stück zwi­schen Gut und Bö­se, Ver­nunft und Wahn­sinn, As­ke­se und Mas­tur­ba­ti­on sei­nen Lauf nahm, kann nicht mehr zu En­de ge­spielt wer­den. Der Plot ist ge­stor­ben. 

An den Ku­lis­sen­rän­dern und un­ter dem Büh­nen­bo­den macht sich ei­ne ge­wis­se Un­ru­he be­merk­bar. Nicht dass sie zu­vor nicht da ge­we­sen wä­re, aber das Spek­ta­kel für die Au­gen über­la­ger­te das kon­ti­nu­ier­li­che Pul­sie­ren auf den Oh­ren. Was wie ein Stück für zwei Rol­len wir­ken muss­te, ist tat­säch­lich be­völ­kert von ei­ner dis­so­nan­ten Men­ge, die von den Prot­ago­nist:in­nen nicht im ge­rings­ten re­prä­sen­tiert wird – ein Thea­ter im Thea­ter, die Oh­ren sie­gen über die Au­gen, ein dre­cki­ges, ble­cher­nes Fi­na­le zu Klän­gen der In­ter­na­tio­na­le

Die bür­ger­li­che Ernst­haf­tig­keit und ihr wich­sen­der Zwil­ling, die rech­te Ent­rü­ckung, ver­schwin­den in der her­vor­krie­chen­den Men­ge. Auch die Au­gen se­hen nun, was zu­vor dem Mu­sik­ge­hör vor­be­hal­ten war. Die­ses Stück wird nicht nur auf der Büh­ne ge­spielt. Hin­ter den Ku­lis­sen ist nichts, was nicht dem Dia­log der Prot­ago­nist:in­nen ent­nom­men wer­den könn­te, aber an den Rän­dern, im Un­ter­grund, da spielt die amor­phe Mu­sik der Vie­len. 

Ist das nun ver­we­gen, zu rea­li­täts­fern, er­bau­lich gar? Völ­lig un­er­heb­lich. Thea­ter – und sei es die Ge­samt­scheis­se – wird da­durch de­fi­niert, dass le­ben­di­ge Ar­beit dar­in be­ob­ach­tet wer­den kann, ih­re Wir­kung zu tun. Ver­schie­de­ne Stü­cke und Ak­teur:in­nen, ver­schie­de­ne Wir­kun­gen. War­um nicht in die Sze­ne schlur­fen? War­um nicht tan­zen?

Der psy­cho­lo­gi­sche Ma­schi­nen­raum

Der sur­rea­lis­ti­sche Phi­lo­soph Ge­or­ges Ba­tail­le un­ter­nahm 1933 den Ver­such, den Fa­schis­mus zu be­schrei­ben. Der Text ist al­so un­wis­send be­züg­lich des kom­men­den Gräu­els, er ist nicht pro­phe­tisch und will es auch gar nicht sein. Was er hin­ge­gen be­reit­hal­ten kann, ist Ba­tail­les Mo­ment­auf­nah­me: ein ana­ly­ti­scher Blick in den psy­cho­lo­gi­schen Ma­schi­nen­raum der fa­schis­ti­schen Dy­na­mik. 

Die­ser un­ge­wöhn­li­che Kom­mu­nist un­ter­sucht die «psy­cho­lo­gi­sche Struk­tur des Fa­schis­mus», so der Ti­tel. Ei­ne dop­pel­te Über­set­zung ver­steckt, wor­um es ihm geht: Struk­tur ist Fran­zö­sisch für die marx­sche «Ba­sis» und die meint be­kannt­lich die Öko­no­mie. Ver­wandt mit fe­mi­nis­ti­schen An­sät­zen der Ge­gen­wart, er­wei­tert Ba­tail­le aber den Rah­men des­sen, was un­ter Öko­no­mie zu ver­ste­hen ist, er­heb­lich: Ver­aus­ga­bung und Pro­duk­ti­vi­tät ste­hen in kei­nem zwin­gen­den Ver­hält­nis mehr. Ent­kop­pelt von der Mehr­wert­pro­duk­ti­on kriegt man den Blick frei auf ein brei­te­res Bild des So­zia­len, des­sen Über­schüs­se und Ab­grün­de, auf die dar­in ef­fek­tiv ge­leis­te­te Ar­beit. Die­se Aspek­te wer­den von öko­no­mi­schen Sta­tis­ti­ken nur man­gel­haft wie­der­ge­ben, wenn über­haupt.

Zwei ge­sell­schaft­li­che Ele­men­te ste­hen sich in Ba­tail­les Fa­schis­mus­theo­rie schein­bar ge­gen­über: das Ho­mo­ge­ne und das He­te­ro­ge­ne. Das ho­mo­ge­ne Ele­ment kann man sich als ka­pi­ta­lis­ti­sche Ein­för­mig­keit vor­stel­len: Die Geld­form al­lei­ne er­laubt, völ­lig un­ter­schied­li­che Pro­duk­te, von de­nen man­che ele­men­ta­re Be­dürf­nis­se be­frie­di­gen und an­de­re auf mit­un­ter blöd­sin­nigs­te Wün­sche schlies­sen las­sen, ein­heit­lich zu be­wer­ten, un­se­re Ar­beits­zeit zu ver­mes­sen und da­bei die Men­schen selbst zu Pro­duk­ten zu ma­chen.

Georges Bataille um 1943. (Bild: Wikimedia)

An­ti­fa­schis­tisch le­ben

He­te­ro­ge­ni­tät be­deu­tet im Kon­trast da­zu ziem­lich viel. He­te­ro­gen ist das Le­bens selbst, das zwangs­läu­fig mit der Ho­mo­ge­ni­tät in ei­nen Kon­flikt ge­ra­ten muss, und sei es nur im Be­reich des­sen, was Freud das Un­be­wuss­te nennt. He­te­ro­gen ist der Ab­fall, die Poe­sie, die Ero­tik und das Lum­pen­pro­le­ta­ri­at (im an­ar­chis­ti­schen Ver­ständ­nis), La­den­dieb:in­nen und ver­rück­te Auf­stän­di­sche, kurz­um al­les, was nicht as­si­mi­lier­bar ist. Aber auch die Ge­walt ist he­te­ro­gen – und dar­in liegt der fa­schis­ti­sche Hund be­gra­ben: So uni­form das Völ­ki­sche auch ge­spon­nen ist, so sehr man sich den Füh­rer­staat als ei­ne Ho­mo­ge­ni­tät-bis-zur-Ver­nich­tung vor­stel­len muss, so ver­mag der Fa­schis­mus doch als he­te­ro­gen zu er­schei­nen auf­grund der ihn be­stim­men­den Ei­gen­schaft der Ge­walt. 

Nun mag sich der Re­flex ein­stel­len, rück­wärts in die Ar­me der un­ge­fähr­li­che­ren Ho­mo­ge­ni­tät zu flie­hen. Ei­ne dum­me Re­ak­ti­on, schliess­lich kommt da die Gül­le her­ge­flos­sen. Auch wä­re es ein Feh­ler ge­we­sen, die Pro­ble­ma­tik an der Ge­walt fest­zu­na­geln, da die­se bald schon für die Ré­sis­tance von nen­nens­wer­tem Nut­zen war. Und wenn man heu­te in die Ver­ei­nig­ten Staa­ten schielt, ist die musk­sche Geld­för­mig­keit das weit­aus grös­se­re Pro­blem als sein ver­krampf­tes Zie­hen an ei­nem Sym­bol he­te­ro­ge­nen Scheins. 

Es geht al­so um die fa­schis­ti­sche Ge­walt, die ih­re ei­gent­li­che Ho­mo­ge­ni­tät mit ei­nem krie­ge­ri­schen «Aben­teu­er» über­tüncht. Da­bei wird auch von bür­ger­li­cher Sei­te viel ge­lo­gen. Der Öko­nom und Phi­lo­soph Al­fred Sohn-Rethel, der die­ses Ver­hält­nis un­ter­such­te, schloss bild­haft: «Das Fa­schis­ten­tuch ist schwarz von der Tin­te, in der die Bour­geoi­sie sitzt.» Die­se Schar­nier­funk­ti­on kann ge­gen­wär­tig in un­ter­schied­li­chen Va­ri­an­ten be­ob­ach­tet wer­den. So ein Span­nungs- und Ab­hän­gig­keits­ver­hält­nis ist von­nö­ten, da­mit «kon­ser­va­ti­ve Re­vo­lu­ti­on» als ko­gni­ti­ve Un­mög­lich­keit in Er­schei­nung tre­ten kann: He­te­ro­ge­ni­tät zwecks Ho­mo­ge­ni­tät. 

Ba­tail­le spe­ku­lier­te auf glo­ba­le Sub­ver­sio­nen, die sich den im­pe­ra­ti­ven For­men er­weh­ren. Heu­te wis­sen wir, dass er da­mit mehr zu un­se­rer Zeit spricht, als es sei­ner hel­fen konn­te. Dem fa­schis­ti­schen Ver­nich­tungs­wunsch, dem Be­fehl zur De­struk­ti­on, ist nach Ba­tail­les An­satz be­reits in der kleins­ten Form mit he­te­ro­ge­ner Ver­wei­ge­rung zu be­geg­nen, mit ei­ner für die­se Ma­schi­ne nicht pro­duk­ti­ven Ver­aus­ga­bung, die wir an­ders über­set­zen dür­fen: Es geht dar­um, auf das be­frei­te Le­ben hin an­ti­fa­schis­tisch zu le­ben.

Die be­frie­de­te Front der Ernst­haf­tig­keit

Ka­pi­ta­lis­mus- und Fa­schis­mus­ana­ly­se sind un­ver­zicht­bar zum Ver­ständ­nis der Struk­tu­ren, ver­ra­ten aber nicht, wer wir selbst in die­ser Ge­schich­te sind. Man weiss, auf wel­cher Sei­te man steht, und ist doch kei­nen Schritt wei­ter. Das ei­ge­ne Pro­jekt kann nicht al­lei­ne da­von ab­hän­gig ge­macht wer­den, wel­che Blü­ten die Lie­bes­hei­rat von Fa­schis­mus und Ka­pi­tal noch treibt. 

Zu ei­ner Ori­en­tie­rung ge­eig­ne­ter ist der Be­griff der Ernst­haf­tig­keit aus der fe­mi­nis­ti­schen Phä­no­me­no­lo­gie Si­mo­ne de Be­au­voirs. Ernst­haf­tig­keit baut sich ge­gen­über eman­zi­pa­to­ri­schen Be­we­gun­gen wie ei­ne un­über­wind­ba­re Wand auf. Das Pro­blem liegt auf der Hand: Statt sie zu um­ge­hen, wird die Wand auf­grund des im­mensen Schat­ten­wurfs für das ei­gent­li­che Ziel ge­hal­ten. Zur Wand zu wer­den, schafft folg­lich ei­ne Il­lu­si­on von Be­we­gung. Das be­inhal­te­te 1947 ei­ne Sta­li­nis­mus­kri­tik: Die Mär­chen­stun­de vom Über­mor­gen be­to­nier­te die Ge­gen­wart, auf dass sie sich nie­mals ver­än­de­re. 

Die­ser «Frie­den der Ernst­haf­tig­keit» be­steht al­so dar­in, sich auf die Wand-Struk­tur hin zu ent­wer­fen, wo­bei nicht der Ent­wurf das Pro­blem ist, son­dern die Ge­gen­wart der Wand. We­der geht es dar­um, die Leich­tig­keit des Seins in der Ab­we­sen­heit ei­ner Zu­kunft her­auf­zu­be­schwö­ren (ei­ne Hyp­no­se), noch dar­um, die Ernst­haf­tig­keit, von der man sich eman­zi­pie­ren muss, sel­ber an­zu­neh­men (Re­si­gna­ti­on). Die Lö­sung liegt jen­seits der Ernst­haf­tig­keit in der Per­spek­ti­ve, dass Ver­än­de­rung ei­ne Ge­gen­wart ha­ben muss. Dass de­ren Zeit jetzt ist.

Län­ger konn­te man sich nun ein­rich­ten in der be­frie­de­ten Front­stel­lung, wor­in Lü­ge ge­gen Wahr­heit, Fak­ten­check ge­gen die un­fass­ba­re Gro­tes­ke ste­hen, weil die Zie­le un­se­rer ir­ri­tier­ten Ernst­haf­tig­keit dar­in leicht zu be­kom­men sind. Live­ti­cker und Talk­shows sind Aus­ge­bur­ten die­ses Geis­tes, wo­hin­ge­gen jour­na­lis­ti­sche Re­fle­xi­on be­reits das Min­dest­mass an Mensch­lich­keit ent­hält: den Witz und das Ver­mö­gen, die Struk­tur der Wand um­zu­den­ken. 

Simone de Beauvoir 1955 in Peking. (Bild: Wikimedia)

Ver­su­chen wir al­so die Ernst­haf­tig­keit der «Trum­po­mus­ko­via» zu er­ken­nen. Weir­des­te Prä­si­den­ten­dar­stel­ler und Lü­gen­ba­ro­ne zwei­fel­los, aber ei­ner­seits hat man sie nie­mals wirk­lich la­chen ge­se­hen und an­de­rer­seits ist Wahr­heit eben nicht an Ernst­haf­tig­keit ge­bun­den. Im Ge­gen­teil er­laubt ge­ra­de de­ren Ge­schäfts­grund­la­ge – die Schar­la­ta­ne­rie – nicht, die Ernst­haf­tig­keit auch nur für ei­nen Mo­ment aus­zu­set­zen. Wie sonst woll­te man die Neu­erfin­dung des Ra­des in Form ei­nes Vier­ecks ver­kau­fen? 

In die­ser Hin­sicht gibt es nichts Ernst­haf­te­res als So­cial Me­dia: selbst­ver­ständ­lich sind das kei­ne so­zia­len Me­di­en. Schlim­mer aber ist, dass sie un­ter der Be­haup­tung, ge­sell­schaft­li­che Me­di­en zu sein, top-down ge­steu­ert Bei­fall ge­ne­rie­ren zur Po­li­tik der Pa­trons. Lus­tig wie ei­ne Lach­kon­ser­ve im Volks­emp­fän­ger. Die Ge­sell­schafts­form ge­sell­schaft­li­cher Me­di­en müss­te in­zwi­schen im Zen­trum der Auf­merk­sam­keit ste­hen. 

Nun hat die­se kor­rup­te Olig­ar­chen­ban­de sta­pel­wei­se Plä­ne – ernst­haf­te Plä­ne – de­ren Um­set­zung in der Ge­gen­wart put­sch­ähn­li­che Zü­ge an­nimmt. Der dis­rup­ti­ve An­schein kann nicht dar­über hin­weg­täu­schen, was üb­rig­blei­ben wird, wenn der Staat er­folg­reich aus­ein­an­der­ge­nom­men wur­de: ein Staat, aber full of shit. 

Ge­fragt ist ein neu­er Mo­dus im Um­gang mit den ge­gen­wär­ti­gen fa­schis­ti­schen Phä­no­me­nen. Sie ent­spre­chen ei­nem Fa­na­tis­mus der Ernst­haf­tig­keit, der an­dau­ernd sug­ge­riert, an­de­re sei­en hu­mor­los. Selbst aber wer­den (re­el­le!) Sprach­ver­bo­te, In­qui­si­ti­on und Mas­sen­de­por­ta­tio­nen ge­plant – und sei­en wir auch auf die fort­wäh­ren­de Er­pres­sung ge­fasst: Für wei­te­re Krie­ge braucht die­ses Pul­ver­fass nur klei­ne Fun­ken.

Stick to the pro­to­col?

Wie be­geg­net man die­sem ver­gif­te­ten Spiel? Nicht zwin­gend rhe­to­risch und be­stimmt nicht po­pu­lis­tisch. Es ist über­le­bens­not­wen­dig, dem Reich der Ernst­haf­tig­keit, dem se­riö­sen An­schein, si­tua­tiv zu ent­kom­men. Nach Re­geln zu spie­len ist sinn­voll, so­lan­ge man sich er­hof­fen kann, da­durch an­de­re ein­zu­bin­den, das­sel­be zu tun. Sind es aber die Falsch­spie­ler, die die neu­en Re­geln de­fi­nie­ren, wird es aus­ge­spro­chen zweck­los, sich an die­ser In­sti­tu­ti­on zu ori­en­tie­ren.

Dies ent­spricht auch der be­au­voir­schen Poin­te: Ord­net man sich ab­so­lu­ten Zwe­cken un­ter, ver­liert man die Frei­heit in der Ge­gen­wart. Un­ter fa­schis­ti­schen Vor­zei­chen – sei es nur die dif­fu­se Kon­junk­tur von Bau­tei­len sol­chen Ge­dan­ken­guts (die zu­sam­men­ge­setzt ei­ne Art To­des­stern bil­den) – er­üb­ri­gen sich wei­te­re Er­läu­te­run­gen. Es gilt, nicht mehr dem Pro­to­koll zu fol­gen. Es rächt sich, un­ter Vor­zei­chen der Frei­heit sich nicht frei be­wegt zu ha­ben. Ba­tail­le und Be­au­voir sind von­nö­ten, da­mit man nicht in ei­ner Welt en­det, wie sie Be­ckett meis­ter­haft be­schrieb: Nichts geht mehr wirk­lich. Mo­rast bis zum Hals. Worst­ward ho! Po­li­ti­sche De­pres­si­on.

Im Zwei­fels­fall die Ab­wei­chung zu wäh­len, kann auf der an­de­ren Sei­te viel mit Glaub­wür­dig­keit zu tun ha­ben. Man darf, aber muss sich dar­un­ter nichts Wil­des vor­stel­len. Fein­hei­ten kön­nen ei­ne gros­se Be­deu­tung ha­ben: Man den­ke an den sit­zen­blei­ben­den Ber­nie San­ders. Auch als sich der da­ma­li­ge Ju­so-Chef vor 20 Jah­ren ei­nen an­steck­te, wur­de er von sei­ner Ge­ne­ra­ti­on rich­tig ver­stan­den, da die Po­li­tik in ih­rer «Vor­bild­funk­ti­on» an­sons­ten eher da­mit be­schäf­tigt war, das Kraut öf­fent­lich mit He­ro­in zu ver­glei­chen. (Musk hin­ge­gen kann rau­chen, was er will: Auf die Gen­der­re­bel­lio­nen der jun­gen Ge­ne­ra­ti­on re­agiert er schlim­mer als ein 60er-Jah­re-Spies­ser auf die «ent­ar­te­te» Rock­mu­sik, die Joints und Lang­haar­fri­su­ren der da­mals noch jun­gen Boo­mer). Und Hei­di Rei­chin­nek hat mit ih­rer At­ti­tu­de zu­letzt viel da­zu bei­getra­gen, die ver­lo­ren ge­glaub­te deut­sche Lin­ke zu ret­ten. Oder träumt man dies bloss? Es ist un­er­heb­lich. Weil sie mit der «Ernst­haf­tig­keit» der «Mi­gra­ti­ons­de­bat­te» brach und de­ren Wahn­sinn vor­führ­te, er­reich­te sie in zwei Re­den, was dem wa­gen­knecht­schen Sta­lin-Vi­be nie ge­lang: Sie rief zum Auf­stand und Leu­te gin­gen hin.

Das sind Ebe­nen der Per­for­mance und Re­prä­sen­ta­ti­on. Was für die­se zählt, gilt aber im All­ge­mei­nen um­so mehr: Das Le­ben spielt in der Ge­gen­wart. Se­rio­si­tät wird zur To­des­fal­le, wenn das Pro­jekt, in das sie ein­ge­bun­den ist, sich zum Schlech­tes­ten wan­delt. Dann kann man sich dar­über wun­dern, dass sich über­haupt et­was ver­än­dert – doch ist eben das ge­ra­de gar nicht selt­sam. 

Das, wor­auf wir wie hyp­no­ti­sier­te Kat­zen star­ren, die­ses zu­tiefst has­sens­wer­te Aus­agie­ren der po­li­ti­schen Re­ak­ti­on, kommt aus de­ren An­la­ge, lie­ber zu spren­gen als mit­zu­er­le­ben, wie brü­chi­ge Ele­men­te im Ver­bund mit ste­ten Trop­fen tat­säch­lich un­auf­halt­sa­me Ver­än­de­run­gen her­bei­füh­ren. He­te­ro­gen er­schei­nen je­ne ein­ge­fro­re­nen und fa­na­ti­schen Vi­sa­gen nur, wenn man sich längst dem Frie­den der Ernst­haf­tig­keit er­ge­ben hat. Auch die­sen kann man un­ter heu­ti­gen Ver­hält­nis­sen an­ders über­set­zen: Es ist Un­ter­wer­fung, das Über-sich-er­ge­hen-Las­sen un­er­träg­li­cher Ge­gen­war­ten als Mit­tel zu ir­gend­ei­nem Zweck; la tran­quil­li­té du sé­rieux – ernst­haf­te Un­tä­tig­keit.