Die Freiheit, die sie meinen

Jedes Jahr veröffentlicht die neo-liberal-bürgerliche Denkfabrik Avenir Suisse den sogenannten «Freiheitsindex». Dabei handelt es sich laut dem Think Tank, dessen Stiftungsrat vom früheren CEO von Swiss Re präsidiert wird, um das Messen der «freiheitlichen Prägung von Gesetzen und Institutionen in den Schweizer Kantonen». Ideologisch orientiert man sich dabei am «Index of Economic Freedom» der US-amerikanischen Heritage Foundation, welche sich wie folgt positioniert: «From the streets of America to the halls of Congress, the radical left and the rising tide of socialism pose a dire threat to America’s future.»
Laut New York Times war bei der Auswahl von hochrangigen Regierungsmitarbeitern für Präsident Trump die Heritage Foundation die einflussreichste Organisation. Bei der konservativen Denkfabrik aus der Hauptstadt Washington darf dann auch mal einer wie Grover Norquist schreiben, von dem das «Bonmot» stammt, man müsse den Staat so klein machen, dass man ihn in einer Badewanne ertränken kann.
Zynische Kriterien
Konsequenterweise ist denn auch beim Kantonsvergleich von Avenir Suisse eines der verwendeten Kriterien die sogenannte Staatsquote. Also: je weniger Staat, desto freier die Menschen! Oder um es mit dem Slogan zu sagen, mit dem die FDP 1979 in den Wahlkampf stieg und von dem sie sich bis heute nicht verabschiedet hat: «Mehr Freiheit, weniger Staat».
Angesichts der ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie klingen solche Gedanken irgendwie nur noch zwischen zynisch und paläolithisch. Wer hätte denn in diesen Wochen auf der ganzen Welt all die milliardenschweren Rettungspakete schnüren sollen, die den Menschen hoffentlich noch eine minimale Freiheit von ökonomischen Zwängen garantieren können? Walmart? Shell? Amazon? Nestlé? Glencore? JPMorgan? Huawei? UBS? Roche? Facebook?
Für die Zukunft, für 2021 oder spätestens 2022, wünscht man Avenir Suisse, dass sie ihren Freiheitsindex streicht oder überarbeitet. Wie wäre es neu mit Kriterien wie «Freiheit von Not», «Freiheit von Furcht» (beide von US-Präsident Roosevelt), »Freiheit des Zugangs zu Medikamenten», «Freiheit von Folgen der Erderwärmung» (beide aus aktuellem Anlass)?
Die gute Nachricht ist die, dass ausser dem Liechtensteiner Vaterland die Presse hierzulande den «Freiheitsindex 2020» praktisch ignoriert hat. Zu frivol und peinlich schien es wohl den meisten Journalistinnen und Redaktoren angesichts der grössten Krise unseres staatlichen und ökonomischen Systems mindestens seit dem Zweiten Weltkrieg, mit dem Freiheitsbegriff der neoliberalen Think-Tank-Denker über die Kriterien «freie Schulwahl», «Hunderassenverbot», «Gastgewerbegebühren», «Home-Schooling» und «Beschäftigte im öffentlichen Sektor» zu schreiben. Und beim «Vaterland» war der Anlass eigentlich auch nur der, dass das Fürstentum zum ersten Mal die Ehre hatte, im Index mituntersucht zu werden.
Das «Regi» findet es toll
Die schlechte Nachricht ist die, dass es doch ein Medium gab, welches den «Freiheitsindex» zu bester Sendezeit weit und breit verbreitete. Dem Regionaljournal Ostschweiz schien es bemerkens- und berichtenswert, dass Ausserrhoden 2020 an zweiter Stelle der Rangliste liegt und dass dem Kanton St.Gallen von allen Kantonen der grösste Sprung nach vorne gelungen sei. Von allen Kantonen! Der grösste Sprung! Nach vorn!
Ungeniert und unverschämt und ohne einen Hauch von Kritik oder Problematisierung erwähnte das «Regi» zudem, dass ein Kriterium des «Freiheitsindexes» die Ladenöffnungszeiten seien. Dass im Kapitalismus die Freiheit, Güter herzustellen und von deren Verkauf zu profitieren, mit der Freiheit der Arbeitenden kollidiert, sich in der Freizeit zu regenerieren und ein Sozial- und Familienleben ausserhalb des «Reichs der Notwendigkeit» (Marx) zu führen – das zu erkennen, ist wohl im Moment von den Radiomachenden im Silberturm zu viel verlangt.
Darum der Neujahrswunsch für 2021: Dass man vom Regionaljournal künftig deutlich Anderes mitgeteilt bekommt, als dass im Kanton X die Amtsstelle Y oder der Verband Z in einer Mitteilung mitgeteilt habe, dass A gegenüber B zugenommen habe. «Wie es in einer Mitteilung heisst.»