«Die FHS muss sich endlich mit strenggläubigen Studierenden auseinandersetzen»
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«So etwas geht gar nicht. Homosexualität ist krank», sagt ein junger Mann, der in einer Vorlesung des Studienfachs Soziale Arbeit an der Fachhochschule St.Gallen (FHS) sitzt, gut hörbar in den vollen Saal. In der Reihe vor ihm sitzt die 23-jährige Marianne*. Als sie sich umdreht und den Studenten fragt, warum er so etwas behaupte, antwortet dieser: «Homosexualität ist nicht von Gott gewollt.» Anlass für seine Kritik ist, dass der Dozierende gerade über die geplante Erweiterung der Antirassismus-Strafnorm spricht: Wer Homosexuelle öffentlich verunglimpft, soll dafür strafrechtlich belangt werden. Das hat der Nationalrat im März beschlossen.
Zu solchen und ähnlichen Vorfällen kommt es an der FHS immer wieder, wie mehrere Studierende der Sozialen Arbeit gegenüber Saiten erzählen: In Gruppenarbeiten wird zu Themen wie Scheidungsrecht oder Sexualaufklärung im Schulunterricht gesagt: «Das braucht es nicht.» Scheidungen seien von Gott nicht vorgesehen, Und Aufklärung würde die Kinder nur unnötig sexualisieren. «Der Student, der das gesagt hat, hat dann noch gesagt, er wolle später in der Schulsozialarbeit tätig sein», sagt Marianne.
Marco*, der mit Marianne im vierten Semester, studiert, ist selber homosexuell und steht öffentlich auch dazu. «Als ich einmal bei einer Gruppenarbeit den Raum verliess, haben einige strenggläubigen Studierende über mich gelästert, weil ich schwul bin. Andere Studierende haben mir das danach berichtet.» Er habe sich diskriminiert und beleidigt, aber auch machtlos gefühlt.
Heikle Doppelrolle
Marco* und Marianne haben sich mit fünf anderen Studierenden aus ihrem Jahrgang zusammengetan und sich mit den Vorfällen und ihren Bedenken bei einem Dozierenden gemeldet. Sie seien der Meinung, dass die FHS das Thema strenggläubige Studierende in der Sozialen Arbeit aufarbeiten müsse. «Als ich zu studieren begann, war ich schon sehr erstaunt, wie viele in unserem Jahrgang Mitglieder in verschiedenen Freikirchen sind», sagt Marco. Marianne schätzt den Anteil strenggläubiger Studierender in ihrem Jahrgang, der etwa 100 Personen zählt, auf 15 bis 20 Prozent. «Trotzdem hört man von offizieller Seite nie etwas zum Thema: Es gibt keine Diskussion darüber, keine offizielle Haltung.»
Natürlich könne jeder für sich glauben was er wolle, sagen beide. «Wer allerdings so streng religiös eingestellt ist, dass er etwa glaubt, Gott sei gegen Scheidungen, wird Mühe haben, das im Beruf auszublenden», sagt Marco. Das sei der Grund, warum die FHS genauer hinschauen müsse.
Diese heikle Doppelrolle – Gläubiger und Sozialarbeiter – hat auch «SozialAktuell», die Fachzeitschrift des Berufsverbandes avenir social, mehrfach thematisiert. «Die Anforderung, Mission oder Evangelisation strikt von der Arbeit zu trennen, wird in vielen Fällen nicht erfüllt», heisst es in einem Artikel vom Mai 2012. Diese Kritik bezieht sich allerdings auf Institutionen wie Privatschulen, Heime oder Drogenhilfestellen, die von Freikirchen betrieben werden.
Der Arbeitsauftrag sei durch eine strengreligiöse Einstellung aber auch grundsätzlich in Frage gestellt, heisst es in der Fachzeitschrift:«Sozialer Arbeit nachzukommen mit der Einstellung, dass Gott die Lösung für prinzipiell jedes Problem ist, ist zumindest fragwürdig. (…) Anstatt adäquate Hilfeleistungen anzubieten, wird versucht, die persönliche Einstellung weiterzugeben: nämlich dass Hilfe ohne den richtigen Glauben nicht möglich ist.»
Wer will, schlängelt sich durch
Auch auf der Traktandenliste der Studierendenorganisation Soziale Arbeit (SOSA) steht das Thema schon länger: «Alle an der FHS wissen, dass es in der Sozialen Arbeit eine nicht zu übersehende Anzahl strenggläubige Studierender aus Freikirchen gibt. Aber es wird im Unterricht einfach nicht darüber geredet», sagt Roman Rutz, SOSA-Vorstandsmitglied. Die SOSA habe das Thema in den letzten zwei Jahren schon mehrfach gegenüber dem Vorstand des Fachbereiches Soziale Arbeit angesprochen, passiert sei bisher aber nichts. «Wir wünschen uns ein Haltungspapier sowie eine Anlaufstelle, bei der Vorfälle mit strengreligiösen Studierenden gemeldet und Probleme deponiert werden können.»
Die SOSA kritisiert aber auch grundsätzlich die «kaum vorhandene Diskussionskultur» an der Schule hinter dem Bahnhof: «Die FHS verspricht, dass man sich im Studium der Sozialen Arbeit mit der eigenen und fremden Positionen auseinandersetzt – was in der Realität aber kaum der Fall ist.» Wer wolle, könne sich «durchschlängeln», ohne je Farbe zu religiösen, politischen und moralischen Grundeinstellungen bekennen zu müssen, sagt Rutz. «In einem voll besetzten Vorlesungssaal mit 100 Leuten entstehen keine Diskussionen. So merken auch die Dozierenden nichts von allfälligen Studierenden mit extremen Einstellungen», sagt Rutz.
Früher mussten Studierende zudem eine Art Vorstellungsgespräch absolvieren, um zum Studium zugelassen zu werden. Auch um der wachsenden Anzahl Bewerber Herr zu werden, wurde dieses aber abgeschafft. Heute erklären Bewerber schriftlich, warum sie Sozialarbeiter werden möchten. Die SOSA kritisiert, dass das Auswahlverfahren so ungenauer geworden sei.
Seit Jahren ein Thema
Unter den Studierenden schwelte das Thema schon, als der FHS-Bereich Soziale Arbeit noch in Rorschach angesiedelt war. «In meinem Studiengang kam es zu mehreren Konflikten mit strenggläubigen Studierenden», sagt Thiemo Legatis, der seinen Bachelor 2013 abgeschlossen. Auch damals eckten Studierende mit offen geäusserter Homphobie an. «Ich kann mich zudem an eine Gruppenarbeit erinnern, in der ein Studierender über Behinderte sagte, die müsse man nicht fördern. Ihre Behinderung sei schliesslich von Gott gewollt, daran dürfe man nichts ändern wollen.» Legatis schätzt, dass in seinem Jahrgang 10 bis 15 Prozent strenggläubige Studierende eingeschrieben waren.
Auch in Rorschach tat sich damals eine Gruppe Studierender zusammen, die über solche Vorfälle irritiert war. Daraus entstand ein Open Space, ein Podium, an dem jeder das Wort ergreifen kann. «Das Interesse war riesig», erinnert sich Legatis. Am Open Space wurden denn auch von weiteren Vorfällen berichtet. Leider habe sich dort nur ein Freikirchler «geoutet» und mitdiskutiert. «Wir hatten auf eine Diskussion mit Leuten von beiden Seiten gehofft», sagt Legatis.
Das Positionspapier, das die SOSA fordert, war damals schon ein Thema: «Wir haben das von der Leitung verlangt, es ist aber nie etwas passiert, obwohl einzelne Dozenten auch Sympathien für unser Anliegen hatten», sagt Legatis. Er finde es heikel, dass die Schule das Problem so lange ignoriert habe. «Schliesslich werden an diesem Ort staatlich legitimierte Sozialarbeiter ausgebildet. Wenn einige davon einen Glauben haben, der gewisse Leute diskriminiert und Gott als Lösung für alle Probleme sieht, ist das bedenklich.»
Studienleitung wird aktiv
Trotz mehrerer Initiativen von Studierende ist das Thema bis im Frühjahr 2015 nicht bis zur Spitze des Fachbereichs durchgedrungen: Als Saiten Barbara Fontanellaz, Leiterin des Fachbereichs Soziale Arbeit, mit den oben geschilderten Vorfällen und der Kritik der SOSA konfrontiert sagt diese, sie müsse zuerst Abklärungen treffen. Verständlich ist dies insofern, als Fontanellaz ihre jetzige Stelle erst seit letzten Dezember bekleidet.
Zwei Wochen später, Mitte März, dann der Bescheid: Der Fachbereich, zusammen mit der Hochschulleitung der FHS St. Gallen, werde nun ein Grundlagenpapier erarbeiten. «Mehrere Dozierende haben mir bestätigt, dass ein solches Papier erwünscht ist», sagt Fontanellaz.
Alle Studierenden, die neu im Fachbereich Soziale Arbeit beginnen, sollen künftig auf diese Grundsatzerklärung aufmerksam gemacht werden. «Es wird darin um den Umgang mit Diversität im Allgemeinen gehen. Sei das nun in Bezug auf Religion, Alter, Geschlecht oder Herkunft», sagt Fontanellaz. «Darin soll zum Ausdruck kommen, dass Diskriminierungen und Herabwürdigungen jeglicher Art entschieden entgegenzutreten ist», sagt Fontanellaz.
Einen ähnlichen Schritt, wie jenen den Fontanellaz nun ankündigt, hat 2012 die Fachhochschule Nordwestschweiz gemacht: Dort war es zu aggressivem Auftreten strenggläubiger Studierender gekommen. Die Schulleitung erliess ein Grundlagenpapier zum Umgang mit Diversität in der Sozialen Arbeit, das an alle Studierenden und Professoren verschickt wurde. Unter anderem heisst es darin, die Soziale Arbeit habe eine besonders starke Verpflichtung, «die Mechanismen der Herabwürdigung, Stigmatisierung, Diskriminierung und des Ausschlusses von Menschen zu verhindern». Der Umgang mit Diversität – etwa der Herkunft, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung – müsse von «Akzeptanz und Bestärkung» geprägt sein.
*Name geändert