Die falsche Verteilung
Die wirtschaftliche Ungleichheit ist keine Folge der Gier, sondern die einer systematischen Politik. Wie die Umverteilung von unten nach oben funktioniert, gerade im Kanton St.Gallen, und was dagegen getan werden kann – ein Erklärstück.
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An bestimmten Tagen klingen die Wörter in der Politik wie in Watte verpackt. So an diesem Freitag vor Pfingsten, als Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf die Unternehmenssteuerreform III vorstellt. Kompetitiv heisst das Wattewort, welches der Reform zugrunde liegt. Zu einem attraktiven Wirtschaftsstandort gehöre eine kompetitive, auf den Wettbewerb ausgerichtete Steuerbelastung. Widmer-Schlumpf: «Es handelt sich bei der Reform nicht um eine Steuersenkungsvorlage.»Die Wattewortwahl funktioniert.Kaum Aufregung in den sozialen Medien am Abend. Keine deutlichen Kommentare in den Zeitungen am nächsten Tag. Dabei hat Widmer-Schlumpf gerade eine Umverteilung in Milliardenhöhe bekannt gegeben.
In den letzten Jahren haben Steuerprivilegien zahlreiche Rohstoffhandelsfirmen an den Zuger- und den Genfersee gelockt. Und eine, die Transoilgroup, nach St.Gallen, in eine herrschaftliche Villa im Schönbüelpark am westlichen Stadtrand. Ob Transoil überhaupt Steuern zahlt, ist nicht bekannt. Auf eine entsprechende Anfrage von SP-Fraktionschef Peter Hartmann versteckte sich die St.Galler Regierung kürzlich hinter dem Verweis aufs Steuergeheimnis. Die Europäische Union macht Druck, damit die Schweiz die Privilegien fallen lässt. Der Bundesrat und die Kantone geben nun nach, indem sie alle Unternehmen privilegieren, auf Kosten der Allgemeinheit: Die Kantone sollen die Gewinnsteuern senken, was zu Ausfällen von einer bis drei Milliarden Franken führen würde. Kompensiert werden sollen sie mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer. In Betracht gezogen wird auch, dass die natürlichen Personen weniger Abzüge bei den Steuern machen können, beispielsweise beim Mittagessen.
Der Steuerstreit wird gerne inszeniert, als spiele er sich zwischen der Europäischen Union und den Nationalstaaten ab. Vielmehr ist er einer zwischen dem Kapital und den Beschäftigten. Die Unternehmenssteuerreform steht beispielhaft für die zunehmende Ungleichheit, welche in die Wirtschaftskrise geführt hat und sie nun weiter verschärft. Wo entsteht die Ungleichheit konkret? Wie zeigt sich das im Kanton St.Gallen? Was können wir dagegen tun?
Wer was bekommt
Die Entstehung der Ungleichheit lässt sich beim Verhältnis von Kapital und Arbeit besichtigen, zwischen den hohen und tiefen Löhnen, bei den verfügbaren Einkommen und schliesslich bei den Vermögen. Was eine Firma produziert und verkauft, wird zwischen den Eigentümern und den Beschäftigten aufgeteilt: in Lohnverhandlungen, Gesamtarbeitsverträgen, nötigenfalls im Streik. In den letzten zwanzig Jahren hat sich das Verhältnis von Kapital und Arbeit in der Schweiz nicht wesentlich verändert. Gemäss den Zahlen des Bundesamtes für Statistik blieb der Anteil der Löhne am Bruttoinlandprodukt konstant. Klammert man allerdings das eine Prozent der Topverdiener aus, zeigt sich eine andere Entwicklung: Die Lohnquote verringerte sich dann im letzten Jahrzehnt von 59 Prozent auf 55 Prozent.
Die erste grosse Umverteilung nach oben passiert also bei den Löhnen: In der Schweiz gibt es heute 11’500 Personen, die mehr als eine Bundesrätin verdienen, sprich eine halbe Million Franken pro Jahr und mehr. Seit 1997 hat sich ihre Zahl vervierfacht, nach einem kurzen Einbruch zu Beginn der Wirtschaftskrise 2008 steigt sie wieder. Am anderen Ende der Lohnverteilung, bei den untersten zehn Prozent der Beschäftigten, sind die Löhne zwar auch leicht gestiegen: Rund 440’000 Lohnabhängige müssen aber weiterhin für einen Tieflohn von weniger als 4000 Franken pro Monat arbeiten, beispielsweise die Verkäuferinnen in Kleidergeschäften oder Tankstellenshops. Selbst eine Lehre reicht nicht für einen anständigen Lohn aus: Ein Drittel der Tieflohn-Arbeiter verfügt über eine abgeschlossene Berufslehre.
Dass die Löhne oben explodiert sind, ist auf die Boni zurückzuführen: Dadurch werden die Manager direkt am Gewinn einer Firma beteiligt und verhalten sich in der Logik der Shareholder. Dass die Löhne unten nicht eingebrochen sind, liegt an der aktiven Politik der Gewerkschaften für Mindestlöhne: In Gesamtarbeitsverträgen wie dem Gastgewerbe oder mit der Kampagne «Keine Löhne unter 3000 Franken». Auch die Angestellten mit einem mittleren Lohn, der in der Schweiz bei monatlich rund 6000 Franken liegt, sind in den letzten Jahren kaum vorwärtsgekommen: Sie verdienen im Vergleich zum Jahr 2000 bloss fünf Prozent mehr. Die Höhe des Lohnes beeinflussen neben dem Bildungsgrad zwei Faktoren stark: Das Geschlecht und die Nationalität. Frauen verdienen bei gleicher Arbeit und Ausbildung pro Monat durchschnittlich immer noch 400 Franken weniger als Männer.
Was davon übrig bleibt
Soweit die Löhne, die in der Schweiz verteilt werden. Doch was geschieht nun, wenn darauf Steuern bezahlt werden, Sozialleistungen hinzukommen und die Lebenskosten eingerechnet werden? Hier passiert die zweite Umverteilung nach oben. In einem Verteilungsbericht hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund ausgerechnet, was eine vierköpfige Familie in den unterschiedlichen Lohnklassen in den letzten zehn Jahren mehr verdient hat und was ihr am Schluss als verfügbares Einkommen bleibt. Eine Familie mit einem tiefen Lohn verdient im Vergleich zum Jahr 2000 heute 3900 Franken mehr. Nach Abzug aller zusätzlichen Kosten bleiben ihr davon 1300 Franken, also ein Drittel. Eine Familie mit einem mittleren Lohn erhält 5500 Franken zusätzlich. Ihr bleiben davon 2900 Franken, also knapp die Hälfte. Eine Familie, die zu den zehn Prozent der Bestverdienenden gehört, kassiert 17’200 Franken mehr Lohn. Ihr bleibt davon fast alles: 15’000 Franken.
Die Gründe für diese Entwicklung liegen in einer Steuerpolitik, welche die Oberschicht begünstigt: Direkte Steuern, die die Reichen progressiv stärker belasten, werden durch indirekte Abgaben ersetzt, die pro Kopf bezahlt werden, beispielsweise die Mehrwertsteuer.
Stark ausgewirkt haben sich weiter zwei stetig steigende Haushaltsposten: Die Krankenkassenprämien und die Mieten. Das unterste Fünftel der Verdienenden muss 38 Prozent für die Miete ausgeben. Beim obersten Fünftel machen die Wohnkosten noch 14 Prozent aus. Steigen die Mieten, werden die tieferen Einkommen überproportional belastet. Dass die Mieten steigen, hat übrigens weniger mit der Zuwanderung zu tun, als dass die Wohnfläche pro Person zunimmt: als Folge eines individualisierten Lebensstils. Die ungleiche Entwicklung der Löhne und der Abgaben schlägt letztlich auch aufs Sparen durch, sprich auf die Anhäufung der Vermögen. Hier passiert die dritte Umverteilung nach oben, eine eigentliche Feudalisierung. Die reichsten zehn Prozent besitzen heute drei Viertel der Vermögen. Sie profitierten als Aktionäre von den Gewinnausschüttungen der Unternehmen. Die reichsten 4900 Steuerpflichtigen verdienen im Durchschnitt 2,25 Millionen Franken jährlich allein aus ihrem Vermögen.
Oh weh, St.Gallen
Wie die eingangs erwähnte Unternehmenssteuerreform zeigt, ist es weniger die Gier einzelner Menschen, welche zur Umverteilung nach oben führt, sondern ihre systematische politische Begünstigung. Nirgendwo in der Schweiz zeigt sich diese verfehlte Politik so deutlich wie in St.Gallen.
Der Kanton, mit seinen Zentrumslasten zu gross, um im Steuerdumping mitbieten zu können, versuchte es trotzdem: Steuersenkungen für die Unternehmen und die Reichen führten in den Nullerjahren zu jährlichen Ausfällen auf der Einnahmeseite von mehr als 200 Millionen Franken. Juristische Personen steuern heute bloss noch zehn Prozent zu den Steuereinnahmen bei. Selbst die unverdächtige Consultingfirma BAK Basel kam in einem Bericht zum Schluss, die Steuersenkungen seien «voreilig gewesen»und am «Limit des Machbaren». Hinzu kam eine ökonomisch stumpfsinnige Nullschuldenpolitik, mit der Investitionen aufgeschoben wurden.
Die Steuersenkungen bezahlen kann nun die Allgemeinheit mit dem mittlerweile dritten Sparpaket, das Anfang Mai von der Regierung präsentiert wurde. Im Visier sind die Spitäler, die Schulen, die Kultur und der Sozialbereich. So sollen die Ergänzungsleistungen für AHV und IV-Rentner um 10,3 Millionen Franken gekürzt werden, die Prämienverbilligung bei den Krankenkassen um 6,5 Millionen. Gespart wird also bei jenen Budgetposten, die sich direkt auf das verfügbare Einkommen der Beschäftigten mit tiefen und mittleren Löhnen auswirken. Und zwar negativ.
Die Umverteilung
In den nächsten Monaten und Jahren kommen zahlreiche linke Vorlagen zur Verteilungsgerechtigkeit zur Abstimmung. Die 1:12-Initiative fordert, dass der höchste Lohn in einem Unternehmen maximal das Zwölffache vom tiefsten betragen darf. Sie begrenzt damit die Managergehälter. Die Mindestlohn-Initiative will gesetzlich festschreiben, dass der tiefste Lohn wenigstens 4000 Franken pro Monat betragen soll. Sie verhindert damit eine Prekarisierung durch Tieflöhne. Die beiden Initiativen können bewirken, dass sich die Lohnschere wieder schliesst statt weiter öffnet. Die Erbschaftssteuerinitiative setzt etwas später bei der Verteilung an, bei den Vermögen: Wird Besitz vererbt, der einen höheren Wert als zwei Millionen Franken hat, soll eine Erbschaftssteuer erhoben werden. Die Erträge sollen zu zwei Dritteln der AHV und zu einem Drittel den Kantonen zugute kommen.
Die Initiativen, hinzu kommt noch jene für die AHV-plus und gute Renten, sind keine linken Zwängereien und Utopien, wie sie von den nervösen Bürgerlichen gerne abgetan werden. Im Gegenteil greifen sie bei den entscheidenden Punkten der Umverteilung an und können einen Richtungswechsel einläuten. Gerade der Kanton St.Gallen hat ihn dringend nötig.
Kaspar Surber, 1980, verdient als Journalist bei der «Woz» einen anständigen einheitslohn und wäre sowieso für ein lohnverhältnis von 1:1 allerorten.