, 15. Mai 2023
keine Kommentare

Die Butch aus Belgrad

Saiten-Kolumnistin Anna Rosenwasser über ihre vielleicht erste bewusste Erinnerung an die Art von Lesbe, die gemeinhin gern als «Kampflesbe» abgewertet wird.

Es ist ungefähr 2011, und nach einer durchsoffenen Nacht in Belgrad verbringe ich meinen Nachmittag über der Kloschüssel meiner Jugendherberge. Keine Ahnung, wo meine drei Kumpels sind, mit denen ich gerade am Reisen bin; vielleicht auf anderen Badezimmerböden. Sie sind es jedenfalls nicht, die an der Tür klopfen: Es erscheint die Frau, die in der Herberge am Empfang arbeitet. Am Tag zuvor ist mir aufgefallen, wie streng sie wirkte, mit ihren kurzen Haaren, der Männerkleidung, dem steinernen Gesicht. Dort aber entdecke ich jetzt einen recht sanften Ausdruck. Und in ihren Händen eine kleine Schüssel. Sie hält sie mir hin. Es ist Bouillonsuppe.

Die Butch aus Belgrad ist vielleicht meine erste bewusste Erinnerung an die Art von Lesbe, die gemeinhin gern als «Kampflesbe» abgewertet wird. Junge queere Menschen nennen das «masc», aber ich mag den Ausdruck aus den 1940er-Jahren: Butch. («Butsch» ausgesprochen, nicht etwa «Batsch»).

In diesem Jugendherberge-Bad war ich noch fern davon zu wissen, was eine Butch ist – ja, sogar fern davon zu wissen, dass ich selbst queer bin. Natürlich war ich auch zu hinüber, um der lieben Butch aus Belgrad allzu viel auf die geschenkte Bouillon zu entgegnen, und später zu beschämt, um angemessen danke zu sagen. Aber die Erscheinung blieb: Da war eine Frau, die ihr Frausein anders lebte, als ich es damals kannte. Die selbst bestimmte, wie ihre Weiblichkeit aussieht und wirkt – und die das, was als maskulin gilt, kombinierte mit ihrer eigenen Fürsorge.

Anna Rosenwasser, 1990, wohnt in Zürich und ist freischaffende Journalistin. Ihre gesammelten Kolumnen erschienen als Rosa Buch im März beim Rotpunkt-Verlag in Kooperation mit Saiten.

Es ist 2023, der fremde Typ sieht mir zu beim Tanzen, und das stresst meine Eier. Es ist eine Zürcher Lesbenparty, und starrende Typen gehören für mich nicht zu den Gendern, die hier willkommen sind. «Der ist im Fall glaubs mega schwul», sagt meine Begleitung, als ich bei ihr mötzle. «Mir egal, wie schwul er ist, er soll keine tanzenden Frauen anstarren!», zische ich.

Die beiden ach so schwulen Männer kommen dann irgendwann mit Shots auf meine Gruppe zu, sie strecken einer sehr feminin gestylten Frau ein Gläschen hin, dann mir, ich lehne ab. Eine Butch um die 40, die das Ganze beobachtet, streckt dankbar ihre Hand Richtung Shots, und die Männer ignorieren sie. Ich wende mich ab, genervt; sie hatten nur femininen Frauen einen Shot angeboten.

«Warum hast du den Shot abgelehnt?», fragt mich die Butch kurz darauf freundlich interessiert, «trinkst du nicht?» – «Ich habe keinen Bock auf Männer, die nur Shots an Frauen spendieren, die sie fickbar finden», antworte ich, «und nein, ich trinke keinen Alkohol.» (Nicht mehr, denke ich, in Erinnerung an weit entfernte Kloschüsseln.) «Was trinkst du denn gern?», fragt mich die Butch, und ich antworte: «Tee. Aber den gibt es in Clubs nicht.»

Sie verschwindet und fünf Minuten später erscheint sie wieder. Sie reicht mir eine Tasse Tee. «Der Typ hinter der Bar wusste fast nicht, wie man Tee macht», lacht sie. Ich blicke zur Bar, wo weit hinten ein abgefuckter Wasserkocher steht, und dann zur Frau, die mir gerade in den frühen Morgenstunden in einem Zürcher Club einen Pfefferminztee besorgt hat.

Wenn ich an der Pride demonstriere, demonstriere ich auch für Butches: Für Menschen, die Konzepte von Weiblichkeit durchbrechen und neu erfinden; dafür, dass sie ein Leben in Würde leben können. Und, das will ich an dieser Stelle nüchtern zugeben, ein bisschen auch dafür, dass sie mir weiterhin in unerwarteten Momenten ein Heissgetränk anbieten.

 

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit 30 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!