, 9. Mai 2021
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«Dialog muss wachsen und braucht Vertrauen»

Die Jugendlichen wurden an Ostern aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit kollektiv abgestraft von der Polizei. Fussballfans kennen dieses Gefühl. Thomas Weber von der Fanarbeit St.Gallen erklärt, was man mit einer ernstgemeinten Dialogstrategie erreichen kann.

Saiten: Zu den Ausschreitungen in St.Gallen schreibt die NZZ am 7. April: Die meisten seien nur dabei gewesen, weil endlich einmal etwas los war. Andere hätten «seit Monaten darauf gewartet, wieder losschlagen zu können – unter ihnen notorische Krawallanten aus dem Umfeld des FC St.Gallen. Um sicherzustellen, dass es nicht an Flaschenwerfern fehlt, hatten sie im Vorfeld Online-Einladungen an Gesinnungsgenossen verschickt.» Kannst Du bestätigen, dass Leute aus dem FCSG-Fanumfeld dabei waren?

Thomas Weber: Nein. Nach unserem Wissensstand hatten die Fussballfans keine aktive Rolle bei diesen Ereignissen. Das ist von den Behörden auch so bestätigt worden, keine Ahnung, woher die NZZ diese Information hat. Was aber auch klar ist: Fansein hört nicht am Stadiontor auf. Szenen sind durchmischt, im öffentlichen Raum sowieso.

Die Beteiligten, mit denen Saiten gesprochen hat, kritisieren, dass sie von der Polizei pauschal repressiv behandelt wurden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Eine Parallele zu den Fussballfans, die oft dieselbe Kritik äussern?

So, wie es die Jugendlichen schildern, kann man diese Parallele ziehen, ja. Aber von aussen ist das schwer zu beurteilen. Im Fussball hat man spätestens seit der Einführung des Konkordats immer wieder Probleme mit der Legitimität von Massnahmen. Das spitzt sich vor allem bei Kollektivstrafen zu.

Thomas Weber, 1983, ist Sozialarbeiter FH und Stellenleiter der Fanarbeit St.Gallen.

Was machen Kollektivstrafen mit einer Szene?

Da ist die Gefahr des lllegitimitätsempfindens am grössten, weil immer auch eine mehr oder weniger grosse Anzahl Unbeteiligter betroffen ist. Das kann gewisse Dynamiken verstärken, Zuschreibungen können sich bewahrheiten. Eine englische Studie hat gezeigt, dass Fans, die ursprünglich kein Gewaltpotenzial zeigten, sich radikalisiert haben, je repressiver sie behandelt wurden und je grösser das Gefahrenpotenzial war, das man ihnen von aussen zugeschrieben hat. Nach dem Motto: Wenn ihr uns 200 Polizisten vor die Nase stellt, dann müssen wir ja böse sein.

Es schaukelt sich also hoch.

In der Regel erst, wenn die Dynamik schon in Gang gesetzt ist. Dann entstehen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Konfliktparteien. Aus unserer Erfahrung zeigt eine Massnahme erst dann eine «erzieherische» Wirkung, wenn sie für die Betroffenen nachvollziehbar, erklärbar und kommuniziert ist. Da sind wir wieder bei den Kollektivstrafen: Eine Person, die sich nichts zuschulden kommen lassen hat, kann diese nicht nachvollziehen. Es mag wohl legal sein, aber wird nicht als legitim empfunden. In dem Moment verliert eine Massnahme die erhoffte Wirkung. Im Gegenteil, man schafft so Solidarisierungen und im schlimmsten Fall Radikalisierungen, die vorher gar nicht existiert haben. Plötzlich hat man ein gemeinsames Feindbild.

Regierungsrat Fredy Fässler sagte in einem Interview mit «Watson» zu den Krawallen, dass Repression keine Probleme löse. «Wir haben das bei der Gewalt im Bereich des Fussballs gesehen, wo es punkto Ausschreitungen erst ruhiger wurde, als die Fanarbeit verstärkt wurde.» Was ist das Erfolgsrezept?

Die Fanarbeit steht für die Stärkung des präventiven Ansatzes – im sozialarbeiterischen Sinn. Im Zentrum steht der Dialog bzw. die Entwicklung von Dialogstrukturen. Dafür braucht es alle beteiligten Akteure. Lösungen, Haltungen und politische Ansätze, die nachhaltig sind, können nur gemeinsam entwickelt werden. Entscheidend ist, dass der Dialog alle relevanten Hierarchiestufen miteinschliesst und abholen kann: von der Stadträtin über den Polizeikommandanten bis zum Club und dem einzelnen Fan. Dieses Miteinander entsteht aber nicht einfach so, es ist eine grosse Herausforderung für alle Involvierten und braucht Zeit, Ausdauer und Vertrauen. Rückschläge sind vorprogrammiert, das muss man akzeptieren. Nach knapp zehn Jahren Fanarbeit können wir aber sagen: Wenn dieser Dialog ganzheitlich, gewissenhaft und strukturiert angegangen wird, ist er das nachhaltigste Instrument.

Es braucht also eine Vertrauensbasis. Welchen Einfluss hat dabei die «kritische Parteilichkeit», die die Fanarbeit pflegt?

Bei ihrer Entstehung hatte die Fanarbeit eine grosse politische Legitimation. Das hat vieles erleichtert. Letztlich ist es genau das, was von uns verlangt wird: nah an der Szene zu sein, zu wissen, was läuft, ihre Bedürfnisse zu transportieren. Oft geht es um Machtbalance und Deutungshoheiten. Die Rolle der sozioprofessionellen Fanarbeit ist es, diese Balance herzustellen, aber dabei stets objektiv und neutral zu bleiben. Wir sind keine Fanvertreter.

Im Gegensatz zu den Fans mit ihren einzelnen Gruppierungenund dem Dachverband haben die Jugendlichen in St.Gallen, die an Ostern ausgetickt sind, keine organisierten Strukturen. Diesen Dialog aufzubauen, stelle ich mir als grosse Herausforderung vor.

Die Fanarbeit hat ja auch nicht von Stunde null an funktioniert. Es ist ein ständiges Aushandeln. Ich durchblicke die Strukturen der Jugendlichen zu wenig und kann es darum schwer beurteilen, aber ich bin überzeugt, dass es Anknüpfungspunkte gibt: für die Stadt, für die Jugendarbeit, für die Politik, aber auch für die Polizei. Das funktioniert wie gesagt nicht von heute auf morgen. Und es funktioniert auch nicht aus einer Erwachsenenlogik heraus. Indem man einfach sagt: Wir waren ja dort, wir wollten ja mit euch reden. Dieser Dialog muss wachsen. Er hat viel mit Beziehungen und Vertrauen zu tun – und auch mit Wissen über die einzelnen Szenen und Strukturen. Eine grosse Aufgabe, aber eine machbare.

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