Derweil das Gulasch köchelt

Gut sechs Minuten dauert die erste Einstellung ohne Schnitt. Eine passende Einstimmung auf diese rumänische Filmperle, die einen die nächsten drei Stunden fordern und begeistern wird.
Sieranevada ist eine Komödie, die mehr als genügend Zutaten für ein erschütterndes Drama enthält und dafür für die Palme d’Or in Cannes nominiert war. Humor ist aber bekanntlich, wenn man trotzdem lacht.
In diesem Film trifft die Redensart im bestmöglichen Sinn ins Schwarze. Insofern nämlich, als Humor dem Bedrückenden die Schwere nimmt. Und wenn Lary (Branescu Mimi), der neue Pater familias, am Ende mit seinem Bruder und dem Cousin am Tisch sitzt und alle drei in herzhaftes, befreiendes Gelächter ausbrechen, dann fühlt sich auch die Zuschauerin befreit und beglückt.
Es kommt ein Priester zu spät
Sieranevada spielt über zweieinhalb Stunden in der Wohnung von Nusa (Dana Dogaru). Ihr Ehemann, das Familienoberhaupt, ist verstorben, und heute versammelt sich hier die Familie, um am Leichenschmaus teilzunehmen.
Bis dahin ist es aber ein weiter Weg. Denn erstens ist der christlich-orthodoxe Priester verspätet, zweitens tauchen ungebetene Gäste auf und drittens treten familiäre Spannungen en masse zutage.
Wer aber an schwankartige Slapstick-Comedy denkt, die liegt komplett daneben. Es ist ein feiner, intelligenter Humor, der zwischen die mehr als ein Dutzend Familienmitglieder, zwischen drei Generationen, rumänische Geschichte und Ereignisse von globaler Bedeutung – 9/11 und Charlie Hébdo beispielsweise – gewoben ist.
Die Zuschauerin versucht, sich einen Überblick über den familiären Stammbaum zu verschaffen. Früher oder später resigniert sie – so zahlreich sind die Familienangehörigen, so fremd die Namen, so hektisch das Ein und Aus in den verschiednen Zimmern. Bald realisiert man, dass nicht so viel zur Sache tut, wer blutsverwandt und wer angeheiratet ist oder in welcher Beziehung die gestrenge, alte Kommunistin Eva zur Familie steht.
Sieranevada: Ab 9. März
im Kinok, St.Gallen
Infos und Spielplan: kinok.ch
Strom für die Überlebenden
Als Lary endlich in der Wohnung ankommt, wird klar, dass ihm nicht viel Zeit zum Trauern bleibt. Die hat er nur einmal, als er die Wohnung kurz verlässt. In der Familie wird er gebraucht. Als Ratgeber, Dirigent und Feuerwehrmann.
Die Familienmitglieder stehen metaphorisch für die bewegte rumänische Geschichte als Königreich, kommunistischer Staat, Schauplatz der Revolution und verunsicherte moderne Demokratie.
Die oft gewaltsamen Wirren der Vergangenheit und die Unsicherheit der Gegenwart sind in den Charakteren gespiegelt. Während Lary und sein Schwager Gabi über Eva lachen, die darauf beharrt, Nicolae Ceaușescus Gräueltaten seien durch höhere Interessen gerechtfertigt, die Elektrifizierung des Landes notabene, bricht Larys Schwester Sandra wütend in Tränen aus.
Drei Stunden Rumänien
Faszinierend an diesem Film ist, dass er in jeder Minute glaubwürdig wirkt. Der Kamera gelingt es, mit wenigen Schnitten das hektische Treiben in dieser alten Ostblockwohnung erfahrbar zu machen. Bei aller Hektik steht sie nie im Weg, sondern immer dort, wo sie das Geschehen einfangen kann. Das geht so weit, dass man gar das Gefühl hat zu wissen, was in jenen Zimmern geschieht, deren Türen gerade geschlossen sind.
Zur Glaubwürdigkeit trägt auch das Schauspielensemble bei. Unglaublich eigentlich, dass niemand abfällt, dass das Spiel nie gespielt wirkt. Und diese Körper und Köpfe! Schade, dass Hollywood nie verstehen wird, was es sich durch das Casting von realitäts- und dadurch schönheitsfernem Schönheitsideal an Gehalt und Charakteren entgehen lässt.
Ähnlich wie Aki Kaurismäki die Illusion erschafft, eine finnische Mentalität erlebbar zu machen, lässt einen Regisseur Cristi Puiu den rumänischen Alltag sehen, hören und riechen. Während drei Stunden wird gestritten und geweint, gelacht und gebrüllt. Gleichzeitig bereiten die Cousinen Gulasch und andere traditionelle Gerichte in der Küche, wo man sich zum Rauchen trifft.
Eine Komödie ist Sieranevada für jene, die verstehen, dass das Leben nicht so einfach ist, wie es in Filmen gern dargestellt wird. Zwischen Menschen bestehen Differenzen. Gleichmacherei funktioniert auch im Kommunismus nicht. Wer das Affentheater als solches erkennt, die kann darüber lachen, selbst wenn sie Teil davon ist. Und so spürt man immer mehr: So dysfunktional diese Familie ist, so sehr möchte man Teil von ihr sein. Und dann realisiert man, dass man es bereits ist. Nur in einem anderen Film.