«Der Wolf ist nun mal da»

Wie lebt man mit Grossraubtieren zusammen? Geht das überhaubt? Wolfskenner und Schafhalter Bruno Zähner meint ja, aber nicht ohne einen seriösen Herdenschutz. Er gab in Rehetobel Tipps für die Koexistenz mit Isegrim.
Von  Harry Rosenbaum

«Wolfswetter» im abendlichen Dorf. Leichter Regen. Eben geht die Strassenbeleuchtung an und aus dem grauen Nichts taucht vor dem Gemeindezentrum ein Tier auf. Nur ein Bläss, wie sich herausstellt. Schnell verschwindet der entfernte Verwandte des Wolfs um die nächste Hausecke.

1695 den letzten Wolf erlegt

Durch Reh- und Schafrisse, aber auch durch angebliche Sichtungen, haben sich 2014 erstmals in Appenzell Ausserrhoden wieder Original-Wölfe bemerkbar gemacht, vorerst noch ganz diskret. Zwischen der Ausrottung und dem erneuten Auftauchen des scheuen Grossraubtiers liegen 319 Jahre. An die Erlegung des letzten Wolfes im Jahr 1695 erinnert eine Inschrift auf dem sogenannten «Wolfsstein» im Steineggerwald zwischen Teufen und Speicher.

Es wird vermutet, dass es sich bei den Neuankömmlingen um junge Individuen aus dem Calanda-Rudel handelt, die bei der Suche nach einem neuen Revier auf der Durchreise sind. Die Wegzehrung holen sich die Vagabunden gelegentlich aus Schafherden und bringen so die Nutztierhalter gegen sich auf.

Nach über 200 Jahren scheint auch im Thurgau ein Wolf auf der Walz zu sein. Schafrisse an verschiedenen Orten weisen darauf hin. Die Täterschaft ist aber vorerst nicht erwiesen, weil das Untersuchungs-Resultat der Speichelproben noch aussteht.

Wolfs-Abwehrtruppe

Bruno Zähner ist auf Einladung der lokalen Pro Natura und der Lesegesellschaft Dorf Rehetobel angereist, um über den neuen tierischen Gast in der Ausserrhoder Hügel- und Tobellandschaft zu referieren. Zähner gilt als profunder Wolfskenner. Er stammt aus Heiden und ist heute Landwirt und Zimmermann in Illnau. Zähner führt zusammen mit seiner Partnerin in der Zürcher Gemeinde einen Landwirtschaftsbetrieb mit rund 200 Milch- und 20 Fleischschafen.

Zudem bewirtschaftet er während des Sommers die Schaf- und Ziegenalp Zanai Lasa im sanktgallischen Taminatal, in unmittelbarer Nachbarschaft des Calanda-Wolfsrudels. Deshalb ist bei Zähner auch eine eigentliche Wolfs-Abwehrtruppe beschäftigt: 3 bis 4 Hirten und 6 bis 8 Hunde für den Herdenschutz sowie 3 bis 4 Treib- und Hütehunde. Er befasst sich seit Jahren mit Isegrim und ist auch landesweit als Herdenschutzberater tätig.

Mehr Appetit auf Schaf als Bär und Luchs

Herdenschutz betreffe neben Grossraubtieren auch Umwelteinflüsse, Unfälle und Krankheiten, sagt Zähner. Dabei gehe es um die Abwehr negativer Einflüsse, welche die Gesundheit und Wirtschaftlichkeit der Herde gefährdeten.

Zu den Grossraubtieren werden in der Schweiz der Wolf, der Bär und der Luchs gezählt. Bär und Luchs reissen sehr selten Nutztiere. Beim Wolf hingegen häufen sich die Risse, je mehr er in einer Region vorkommt.

Ein von einem Grossraubtier gerissenes Schaf sei ein Verlust mit Folgeschäden, weil überlebende Tiere der Herde durch das Stresserlebnis nachträglich einen Abort haben könnten, sagt der Wolfskenner. Zähner legt sich nicht fest auf eine Meinung, ob die Rückkehr diese Grossraubtiers in die Schweiz gut oder schlecht ist. «Als Unternehmer, der Lebensmittel produziert, ist es heikel, zu diesem Thema eine konkrete Meinung zu äussern. Der Wolf ist nun mal da», sagt er pragmatisch.

Grossraubtiere sind in der Schweiz streng geschützt. «Ein Herdenschutz ist in der ganzen Schweiz nötig, unabhängig davon, wie hoch das Riss-Risiko durch Grossraubtiere ist», sagt Zähner. «Die Beratung ist gratis. Am Aufwand für Zaunmaterial und Herdenschutzhunde beteiligt sich der Bund, und nachweisbar von Grossraubtieren gerissene Nutztiere werden vollumfänglich entschädigt. Hingegen wird der Arbeitsaufwand für den Herdenschutz nicht gedeckt.»

Die Beratung geschehe vor Ort und umfasse neben den konkreten Schutzmassnahmen auch Weide- und Alpplanung. «Es empfiehlt sich, mit dem Herdenschutz zu beginnen, bevor Risse erfolgt sind, weil dann das Thema sehr emotionsgeladen ist», meint Zähner. «Zum Herdenschutz ist grundsätzlich zu sagen, dass früher Zäune aufgestellt worden sind, um die Herde am Ausbrechen zu hindern, und heute dienen sie zum Schutz vor dem Einbrechen von Grossraubtieren.»

Der Wolf kann jederzeit kommen

Und das kann man gegen ein Massaker auf der Schafweide tun: die Herde auf Umtriebsweiden einzäunen (ohne oder mit Behirtung), einen Nachtzaun erstellen oder über Nacht die Tiere einstallen, die Herde von einem Lama, einem Esel oder Herdenschutzhunden beschützen lassen. Weitere Massnahmen könnten Blinkleuchten, akustische Geräte und Flatterbänder sein, die aber Wölfe nicht allzu lange beindruckten, sagt Zähner. Als guten Minimalschutz empfiehlt er Flexinetze.

Einzelne Wölfe hätten gelernt, Zäune zu überspringen. Die meisten jedoch würden sich unten durch graben. Es sei daher sinnvoll, die Flexinetze anzupassen und oben und unten einen elektrifizierten Stoppdraht anzubringen. Wölfe reagierten in der Regel empfindlich auf Stromschläge und liessen sich damit auch nachhaltig vertreiben. «Zäune mit Stoppdrähten unter Strom sollten aber nicht in der Nähe von Waldrändern aufgestellt werden, weil sie Igel töten und andere kleine Wildtiere verletzten können.»

Lamas und Esel reagieren aggressiv auf Isegrim. Sie sind wirksam bei der Abwehr einzelner Wölfe, aber nicht von ganzen Rudeln. Laut dem Tierschutzgesetz dürfen Lamas und Esel nicht einzeln gehalten werden. «Sobald zwei oder mehrere dieser Tiere bei den Schafen sind, bilden sie unter ihresgleichen ein Gruppe und kümmern sich nicht mehr um die Wolfabwehr», sagt Zähner.

Die Profis: Herdenschutzhunde

Herdenschutzhunde haben gewissermassen eine deformation professionelle. Sie reagieren auf alles, was von aussen in die Herde kommt und fremd ist, im Angriffsmodus. Das kann auch ernsthafte Problemen mit Wanderern verursachen. «Wanderwege sollten deshalb nicht über Schafweiden führen, die von Herdenschutzhunden bewacht werden», sagt Zähner. «Es ist ratsam, in Wandergebieten wo es Herdenschutzhunde gibt, entsprechende Hinweistafeln mit Verhaltensregeln für die Wanderer aufzustellen.»

Herdenschutzhunde nehmen ihren Job wirklich ernst. Sie beharren sogar auf Flugverbotszonen. Denn wenn ein Hängegleiter über ihre Schafherde schwebt, flippen sie total aus, weil sie ihn für einen Raubvogel halten, der Böses im Schilde führt.

30 bis 50 Wölfe in der Schweiz

Obwohl geschützt, haben Wölfe in der Schweiz keine Narrenfreiheit. Verursacht ein Isegrim erhebliche Schäden etwa durch 35 Nutztier-Risse in vier Monaten, 25 Risse in einem Monat oder 15, wenn bereits im Vorjahr Riss-Schäden in dem Gebiet angerichtet worden sind, wird gegen ihn eine behördliche Abschussbewilligung erteilt. Die Exekutionserlaubnis gilt dann maximal für 60 Tage.

Schätzungsweise leben derzeit 30 bis 50 Wölfe in der Schweiz, im grenzübergreifenden Alpenraum sind es zwischen 300 und 400, und in Italien, wo die Spezies nie ausgerottet war, sind es zwischen 800 und 1000 Individuen. Wölfe sind Wandertiere und legen innert kurzer Zeit grosse Distanzen zurück. Es sei möglich, dass einzelne Wölfe durch die Schweiz wanderten, ohne dass sie Risse machten und deswegen auch gar nicht bemerkt würden, sagt Zähner.

Damit ein Rudel nicht zu gross wird, muss ein Teil der Jungtiere abwandern und ein neues Revier suchen. «Vor allem junge Wölfe reissen Nutztiere, weil sie noch unerfahren im Jagen sind und es für sie auch einfacher ist ein Schaf zu holen als stundenlang einem Reh nachzuhetzen», sagt Zähner.

Bevölkerungsmehrheit für den Wolf

Das Stimmungsbild in der Bevölkerung ist für den Wolf in der Schweiz nicht schlecht, obwohl Wolfsgegner im Wallis und im Bündnerland ihr Kriegsgeheul (nicht zu verwechseln mit Wolfsgeheul) massiv anschwellen lassen. 2014 hat sich bei einer Umfrage von Gfs-Zürich im Auftrag von Pro Natura eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung für die Anwesenheit des Wolfes im Land ausgesprochen, selbst wenn es zu Konflikten mit Nutztierhaltern kommt. 38 Prozent der Befragten waren für den Wolf, 21 Prozent äusserten sich dagegen. 23 Prozent tendierten eher zu Ja, 14 Prozent eher zu Nein, und 4 Prozent hatten keine Meinung.

Der eingeschlagene Weg der Politik, den Herdenschutz zu fördern, findet laut der Studie in der Bevölkerung breite Unterstützung. Der Wolf wird weder als gefährliches Raubtier noch als überirdisches Wesen gesehen, sondern als Tierart, die in der Schweiz ihren Platz findet. Abschüsse zur Regulierung des Bestandes sind kein Tabu. Gibt es wegen des Wolfes weniger Wildtiere, ist dies für die grosse Mehrheit jedoch kein Grund für einen Abschuss.

«Wolfsabschüsse in Regionen mit Schafhaltung sind keine Lösung, weil für jedes getötete Tier ein anderes nachfolgt und das Revier besetzt», sagt Zähner. In der Schweiz sei in den letzten fünf Jahren der Schafbestand um rund 100.000 Tiere kleiner geworden. Es gebe Schafhalter, welche diese Entwicklung auf das Auftauchen von Grossraubtieren zurückführten. Der Grund sei aber vielmehr die Überalterung bei den Schafhaltern und die Arthrose in den Hüften und weniger der Wolf. Auch gebe es von extremen Wolfsgegnern richtige Räubergeschichten zu hören, die besagten, dass Helikopter ganze Netze voll mit Wölfen in die Alpen fliegen würden.

Was eine Koexistenz mit dem Wolf bringen kann, ist noch völlig offen. Vielleicht wird die funktionale Kulturlandschaft wieder etwas wilder – oder der beargwohnte Isegrim wird etwas zahmer.