«Der wirtschaftliche Blick auf die Medizin hat versagt»
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Der grosse Applaus im letzten Frühling tat zwar auch ihm gut. Wütend ist Psychiatriepfleger Alain Müller aus Speicher dennoch. Auf die Politik, weil sie bis heute nicht angemessen auf den Pflegenotstand reagiert. Ein wenig auch auf die Gesellschaft, die grösstenteils wegschaut. Ebenso wie das Gesundheitspersonal selber. Wütend ist er aber vor allem auf die grossen Gewerkschaften und Verbände, von denen während des ganzen ersten Coronajahres viel zu wenig zu hören gewesen sei.
Darum hat sich Müller mit Berufskolleginnen und -kollegen aus der ganzen Deutschschweiz zusammengeschlossen und die Facebook-Gruppe «Pflegedurchbruch – für eine würdige Pflege in der Schweiz» und im Herbst den gleichnamigen Verein gegründet. Im Saiten-Interview erklärt er, warum es eigentlich eine Schande ist, dass es den Verein überhaupt braucht.
Saiten: Wo drückt der Schuh in der Pflege?
Alain Müller: An allen Ecken und Enden. Die Patienten bleiben weniger lang auf den Stationen, sind damit insgesamt kränker und damit pflegeintensiver. Gleichzeitig werden die Bettenzahlen aufgestockt und das Personal abgebaut. Das führt zu logistischem und emotionalem Stress. Man muss den Patientinnen und Patienten in die Augen schauen im Wissen, dass die Zeit nicht reicht für die Behandlung und Pflege, die sie eigentlich bräuchten. Viele laufen in ein Burnout oder geben den Beruf auf.
Wie wirkt sich der Stress auf das Teamgefüge aus?
Das kommt vermutlich aufs Fachgebiet an. Ein gewisses Mobbingpotenzial ist wohl in jedem Team gegeben. Wenn es über lange Zeit hektisch ist, ist es nur normal, dass der Ton rauer wird. Ich kenne solche Situationen: Es ist streng, wir sind gereizt, es passieren Fehler, wir werden unter Druck gesetzt – auch vom Betrieb. Umso mehr müssen wir aufeinander achtgeben.
Ist der Stress in der Pflege auch ein Führungsproblem?
Der immer einseitigere Fokus auf die Finanzen im Gesundheitswesen hat klar einen Einfluss auf die Führungskultur. Mein subjektiver Eindruck ist, dass der Führungsstil in vielen Fällen auf Druck und subtiler Repression basiert. Wenn man mal etwas an der Situation aussetzt, heisst es rasch: Dann kannst du ja gehen. Oder: Komm schnell mit, es gibt ein Gespräch. – Warum? – Ich sags dir gleich. – Und dann wartet schon der Leiter Pflegedienst im Sitzungszimmer. Dann wird man gerügt für ein Verhalten, das vor 20 Jahren noch kein Thema gewesen wäre. Heute heisst es schnell, man sorge für «Unruhe im Team». Subtile Repressionen sind sicherlich keine Einzelfälle. Solche Massnahmen wirken. Vor allem auf jene Teile des Personals, die Vorgesetzten grundsätzlich nicht widersprechen.
Herrscht allgemein ein Angstklima?
Im Mai 2020 hat der «Kassensturz» eine Sendung dazu gebracht, dass wir unsere Minusstunden vom ersten Shutdown wieder aufarbeiten müssen. Die meisten Betriebe haben die Vorgabe mittlerweile revidiert. Offenbar hat sich vom Gesundheitspersonal niemand getraut, öffentlich mit Namen dazu Stellung zu beziehen. Diese Angst ist sicher auch ein Resultat dieses verbreiteten Führungsstils. Das war – zumindest wie ich es in der Psychiatrie erlebte – vor zehn Jahren weniger ein Problem. Kommt hinzu, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen zwischen 20 und 30 sind. Diese Altersgruppe geht anders in den Clinch mit den Vorgesetzten. Das ist ein grosses Problem. Sorry für den Militärvergleich: Früher im WK sagten auch nicht die Offiziere, wo es langgeht, sondern die altgedientenen Soldaten. Wegen der vielen Abgänge fehlen heute die Erfahrungen der Alten in der Pflege weitgehend.
Sie selber gehören mit ihren 45 Jahren also bereits zum unbequemen alten Eisen. Warum steigen so viele wieder aus dem Pflegeberuf aus?
Alain Müller, 1977, war acht Jahre lang Dachdecker, bevor er sich zum Psychiatriepfleger umschulen liess. Nach 20 Jahren kann er sich kaum vorstellen, bis 65 auf diesem Beruf zu bleiben. Das Netzwerk des Vereins Pflegedurchbruch würde er gerne auf die Westschweiz und das Tessin ausweiten.
In der Ausbildung lernen wir, wie man richtig pflegt, wie der Mensch funktioniert und was er dazu braucht. Die Diskrepanz zwischen Gelerntem und dem, was man in der Praxis noch anwenden kann, birgt grosses Frustpotenzial: Wir sind oft nur noch zur Schadensminderung da, müssen die Menschen abfertigen. Leute im Spital, die gerade eine schwere Diagnose bekommen haben, müssen mit ihrem Schock im ersten Moment oft alleine gelassen werden. Im besten Fall werfen sie der Person noch ein Valium hin, fertig. Pflegende lässt so etwas nicht kalt, aber es ist tägliche Realität. Du arbeitest 24/7, du hast Frühdienst, Spätdienst, Nachtdienst. Und das oft kurz hintereinander. Ich kenne wenig Leute, die so einen Job im 100-Prozent-Pensum machen und schon gar nicht bis zur Pensionierung.
Klingt zermürbend.
Ja, ich habe im Moment zum Glück eine sehr gute Stelle. Trotzdem: Die allermeisten Kolleginnen und Kollegen tragen diesen ethisch-moralischen Konflikt mit sich rum, immer unter der Qualität liefern zu müssen, einfach weil du keine Zeit hast.
Werden Pflegende zu wenig ernst genommen?
Man wird oft belächelt. Du bist ja nur das Huscheli vom Dienst. Das fängt schon bei den Patienten an und zieht sich interdisziplinär bis hin zur ganzen Gesellschaft durch.
Jede einzelne Pflegeleistung muss ärztlich angeordnet sein. Ein überholtes System?
Das betrifft wohl vor allem die Spitex. Sie erhebt systematisch-empirisch einen Befund über den Pflegebedarf. Damit die Krankenkasse bezahlt, muss der Arzt oder die Ärztin dann jede Massnahme absegnen, jede Creme, jede Gehhilfe, jeden Stützstrumpf. Auf den Stationen ist das Problem eher, dass wir Interventionen teilweise mühsam erbetteln müssen. Aus der Ärzteschaft heisst es häufig, wir seien dazu nicht ausgebildet. Das ist eine krasse Verkennung der Realität, die Rahmenbedingungen stimmen einfach nicht. Natürlich sind in manchen Fällen die Oberärztinnen und Oberärzte auf gute interdisziplinäre Zusammenarbeit bedacht und erteilen uns entsprechende Kompetenzen. Aber das ist reine Kulanz.
Wenn wenigstens die Löhne stimmten.
Gemessen an der Verantwortung, die wir tragen, sind die Löhne und der Personalschlüssel eindeutig zu tief. Dass wir vor lauter Stress Dinge vergessen, Fehler bei der Medikation machen, jemanden liegenlassen und Druckwunden verursachen, in der Psychiatrie selbstverletzende oder suizidale Personen übersehen: Diese Angst begleitet einen im Dienst ständig. Diplomierte Pflegefachpersonen haben mindestens eine höhere Fachschule (HF) absolviert. Ein Betriebswirtschaftler HF steigt in gewissen Bereichen mit Löhnen ab 8500 Franken ein. Eine Pflegefachperson HF beginnt etwa bei 5300 – bei einem 100-Prozentpensum, was wie gesagt nicht oft vorkommt. Mit 20 Jahren Berufserfahrungen bekommst du, wenns gut geht, 7000 Franken. Fachpersonen Gesundheit, kurz: FaGe, die eine dreijährige Lehre absolvieren, verdienen im Schnitt wohl etwa 1000 Franken weniger als Diplomierte. Was in Pflegeheimen sicher ein Problem ist: Sie müssen Aufgaben übernehmen, die sonst Diplomierte erledigen. FaGes übernehmen diese Arbeit quasi gratis.
In der Coronakrise haben sich die Probleme in der Pflege nochmals akzentuiert. Hat die Politik bisher angemessen darauf reagiert?
Kommt darauf an, wo man hinschaut. Die einen haben mittlerweile zumindest gesehen, worums geht. Andere weniger. Sparübungen und Personalabbau gehen unvermindert weiter, und es gibt genügend Leute in der Politik, die das immer noch gut finden. Der unfaire Lohn wird mit anachronistischen Argumenten verteidigt wie etwa, dass Frauen eher dazu neigen, in Berufen zu arbeiten, die schlecht bezahlt würden.
Gibt es keine Positivmeldung aus der Politik?
Da und dort überdenken die Spitäler aktuell ihre Lohnstrukturen. Beispielsweise im Kanton Zürich. Aber insgesamt wird weitergespart und Personal abgebaut, was einfach an anderer Stelle zu Mehrkosten führt. Eine Lose-Lose-Situation. Man versucht grossmehrheitlich, so weiter zu machen wie vor der Pandemie.
Wie lässt sich die Behäbigkeit der Politik erklären? Ist der gesundheitspolitische Fokus auf die Kosten statt auf Qualität dafür verantwortlich?
Man vertraut nach wie vor den falschen Leuten. Gesundheitsökonomen sind in aller Regel eines ganz bestimmt nicht: Gesundheitsexperten. In der Medizin sind sie Laien. Sie haben wohl gewisse Fantasien, und davon nicht zu wenige. Aber sie können nicht abschätzen, was es heisst, in der medizinischen Branche zu arbeiten. Die sagen uns, wie wir unseren Job machen müssen, indem sie uns die Ressourcen beimessen, von denen sie glauben, dass sie genügten. Ihr Gefühl mag zwar aus irgendwelchen Zahlen hergeleitet sein, es ist deswegen aber noch lange nicht objektiviert. Sie pflegen einen vulgärwissenschaftlichen, unterkomplexen Blickwinkel. Viele glauben ihnen und denken, wenn die Pflege mehr zu sagen hätte, würde es teurer. Der ökonomische Blickwinkel auf die Medizin hat versagt: Er hat allen den Job erschwert, aber gespart wurde damit bisher kein einziger Rappen.
Die Politik bewegt sich nicht von selbst. Es braucht eine Volksinitiative, über die im März nochmals im Bundesparlament debattiert wird. Zielt die Pflegeinitiative in die richtige Richtung?
Die Pflegeinitiative spricht genau die zentralen Punkte an, die verbessert werden müssen. Das kann sie, weil sie aus dem Schweizerischen Berufsverband der Pflegefachleute (SBK) und damit aus der Berufspraxis kommt. Es braucht mehr Personal; mehr Entscheidungs- und Handlungskompetenzen – und zwar entsprechend der Verantwortung, die wir eh schon tragen; wir müssen viel mehr Leute in Diplomlehrgängen ausbilden; und es braucht anständige Löhne. Die Initiative liefert dazu eine gute Grundlage auf Verfassungsebene, eine abschliessende Lösung ist sie natürlich noch nicht.
Der Nationalrat will in seinem indirekten Gegenvorschlag lediglich Anpassungen auf Gesetzesebene, mit der Begründung, dass rasch etwas passiert.
Aus dem Parlament kommen nur eine schlechte und eine ganz schlechte Option. Der Nationalrat will zwar den Kantonen mehr Geld zur Verfügung stellen, damit sie auf freiwilliger Basis mehr Leute ausbilden können. Das wird kaum etwas nützen, wenn sie wollten, könnten die Kantone das heute schon. In anderen Berufen kannst du dir bald eine eigene Wohnung, ein Auto etc. leisten. Für ein Pflegediplom hängst du nach der dreijährigen Lehre nochmals zwei bis drei Jahre zu einem Lohn von 1000 Franken an, bis du 22 bist. Ich glaube schlicht nicht daran, dass die Kantone freiwillig ihre Praxis ändern, wenn man ihnen die Wahl lässt. Ausserdem mangelt es an Lehrpersonen. Werden Lernende nur zum Arbeiten eingeführt, ist das keine Ausbildung. Und es nützt wenig, tausende FaGes auszubilden, die dann eh nicht im Beruf bleiben. Die wichtigen Personal-, Kompetenz- und Lohnfragen nimmt der Gegenvorschlag gar nicht auf. Der Subtext ist immer derselbe: Wir geben euch zwar ein bisschen mehr Geld – der Ständerat weniger als der Nationalrat –, aber wirklich etwas verändern wollen wir nicht.
Woher rührt das Desinteresse der Politik?
Nicht nur die Politik, auch die Gesellschaft muss sich fragen, was sie will. Sollen wir Pflegende aus dem Ausland rekrutieren? Ich persönlich habe es gern, wenn mich die Person, die mich im Spital in den Arm sticht, auch versteht. Dass das Ausbildungsniveau nicht in allen Ländern dasselbe ist, ist nun mal eine Realität. Ärztinnen und Ärzte, die beispielsweise in Rumänien ausgebildet wurden, haben einfach nicht dasselbe Fachniveau wie solche aus der Schweiz oder aus Deutschland. Das ist in der Pflege nicht anders. Wir können uns als Gesellschaft auch dafür entscheiden, dass wir nicht so eine hochstehende Medizin haben.
Es gibt bereits den Schweizerischen Berufsverband der Pflegefachpersonen SBK. Es gibt die Gewerkschaften: VPOD, UNIA und SYNA teilen sich das Terrain. Jetzt gründen Sie den Verein Pflegedurchbruch und vertreten nochmals die gleichen Interessen. Warum braucht es diesen Verein?
Im Frühling vor einem Jahr hat der allgemeine Personalmangel grosse öffentliche Aufmerksamkeit gehabt. Wir hatten genug Beatmungsgeräte, genug Intensivpflegeplätze, aber kein Personal dafür. Weder vom SBK noch von den Gewerkschaften hat man irgendwas gehört. Ich habe mich bei allen gemeldet, sie haben mich zu Telefonaten eingeladen und mir versichert, dass im Hintergrund schon einiges laufe. Ich dachte, das kanns doch nicht sein: Jetzt werden die Massnahmen bald wieder aufgehoben und unsere Anliegen wieder vergessen. Die Verbände wussten die Aufmerksamkeits- und Solidaritätswelle aber nicht zu nutzen.
Warum nicht?
Um in der Gesundheitspolitik gehört zu werden, müssen wir entschlossen als geeinter Block auftreten. In den diversen Gesprächen mit den Verbänden wurde aber viel lamentiert: Man habe halt verschiedene Herangehensweisen, verschiedene Mentalitäten, in der Vergangenheit sei untereinander viel Geschirr zerschlagen worden etc. Ich habe auch mit den jeweiligen Pflegechefs von SYNA und UNIA Schweiz gesprochen. Von der VPOD-Zentrale habe ich leider bis heute nie etwas gehört. Das alles hat mich dazu bewogen, die Facebook-Gruppe zu gründen und anzufangen, Druck aufzubauen. Kooperationsfreudigere Verbands- und Gewerkschaftsleute motivierten mich sogar dazu, weil sie die Notwendigkeit auch sehen und intern auf Widerstände stossen. Sie finden, es brauche Druck von aussen. Also gut, sagte ich mir.
Haben die Gewerkschaften vergessen, wofür sie eigentlich stehen?
Sie sind wohl zu sehr mit sich selber beschäftigt. Mir wurde oft gesagt, die Leute von Pflegedurchbruch müssten sich halt einer Organisation anschliessen. Im Verein sind aber bereits sehr viele irgendwo Mitglied. Ich und zwei weitere Vorstandsmitglieder sind beim SBK, jemand bei der UNIA und jemand beim VPOD. In der aktiven Gruppe hat es auch Mitglieder der SYNA. Das ist nicht der Punkt. Die Mitglieder der Organisationen dringen mit ihren Anliegen kaum noch zur Zentrale durch, und gleichzeitig beklagen sich diese, dass sie die Pflegenden zu wenig spürten. Einzelne Regionalsektionen sind aktiv. Das ist nett. Aber wenn wir wirklich signifikant etwas verbessern wollen, dann müssen wir auf nationaler Ebene zusammenspannen und sehr viel aktiver werden. Sonst können wir einpacken. Im Oktober gab es die Protestwoche, die von SYNA, VPOD und SBK organisiert wurde. Am Schluss durfte sich dann auch die UNIA noch beteiligen. Dann war es wieder ruhig. Viel zu ruhig.
Was steckt dahinter?
In der Schweiz liegt der Organisationsgrad beim Gesundheitspersonal optimistisch gerechnet irgendwo bei 17 Prozent. Gewerkschaften mit so wenig Mitgliedern sind aber impotent. Spitäler, Pflegeheime und «Gemeindeschwestern» waren Teil öffentlich-rechtlicher Institutionen. Entsprechend hat sich der VPOD, der für das öffentliche Personal zuständig ist, auch um das Gesundheitspersonal gekümmert. Irgendwann in den 1980er-Jahren begann die langsame Privatisierung des Gesundheitswesens. Das Personal wurde mitprivatisiert, und der VPOD hat offenbar den Anschluss verloren. In die Geschäftslücke sprang die UNIA. Es gibt Leute, die sich nerven und sagen, die UNIA habe im Pflegebereich nichts verloren, genauso wenig wie der VPOD im Verkauf. Das ist aber eine etwas späte Diskussion. Kurzum: Die Gewerkschaften müssen sich neu orientieren. Ihre Mitgliederzahlen müssen sie erst in zweiter Linie erhöhen. Zuerst müssen sie den Pflegenden zeigen, dass es nötig ist und sich lohnt, ihnen beizutreten.
Was hat ihr Verein konkret erreicht?
Sichtbar ist vor allem die Facebook-Gruppe mit mittlerweile knapp 5000 Mitgliedern. Dann haben wir E-Mails an Politikerinnen und Politiker geschrieben. Am 10. Juni gab es in Bern eine kleine Demo, wir haben mobilisiert und informiert, so gut es eben ging. Ansonsten sind wir uns tatsächlich auch im Hintergrund am Organisieren, weil sämtliche Aktionen Personal, Zeit und Geld brauchen. Es ist verdammt schwierig, Pflegende dafür zu gewinnen. Ich würde gerne viel mehr machen, mehr auf die Strasse gehen, von mir aus auch Greenpeace-artige Aktionen. Wir sind 13 Leute, sechs können derzeit aktiv mitarbeiten. Der Rest ist dermassen an Job und Privates gebunden, dass ein zusätzliches Engagement einfach nicht drinliegt.
Warum ist es in der Pflege besonders schwierig, die Leute zu mobilisieren?
Ein Teil ist sicher die verbreitete Angst vor Repressionen. Ein Teil ist Resignation. Im Betrieb und aus der Politik heisst es ständig: Es gibt kein Geld, die Kosten sind zu hoch, wir müssen sparen. Ein Teil ist Erschöpfung. Viele wollen am Feierabend einfach ihre Ruhe haben. Im Personal herrscht grosse Lethargie und politisches Desinteresse. Eigentlich müssten die Gewerkschaften ja die Wände hinauf. Aber es ist halt niemand dabei. Viele Pflegende wissen gar nicht, dass es so etwas wie eine Gewerkschaft oder einen SBK gibt. Das ist sehr bedenklich.
Ein Missstand, den der Verband und die Gewerkschaften mitverschulden?
Absolut. Ich habe in einem Jahr fast 5000 Leute in die Facebook-Gruppe geholt, in meiner Freizeit, ohne Personal, ohne finanzielle Mittel. Ich frage mich, was die Gewerkschaften unter Marketing verstehen und wohin ihre Ressourcen gehen. Mobilisieren, aufklären, aufpeitschen: Das ist doch der Job der Gewerkschaften und der Verbände. Sie müssen Junge reinholen, die sich in den Sozialen Medien auskennen, und sie dann auch machen lassen. Nicht nur die Politik stagniert, auch die grossen Verbände bleiben stehen. Sie merken nicht, dass sie sich anders verhalten müssen. Und darum braucht es den Pflegedurchbruch.
Der Verein Pflegedurchbruch hat am 15. Februar den stillen Protestmonat #Pflegetrauert lanciert, bei dem mit einem schwarzen Trauerband am Namensschild und dem Aufstellen von Kerzen erneut auf den Pflegenotstand und seine Folgen aufmerksam gemacht werden soll.